XXIV. Jahrgang, Heft 139
Jan - Feb - Mär 2006/1

 
  Inhalt  
  Editorial  
  Meinungen - Karawanserei  
  In den Kulissen der Teutozentrale  
  Terra Barbarica  
  Gegenwart der Geschichte  
  Kultur-Atelier  
  Medien-Kultur-Schau  
  Lyrik  
     
  Wir über uns  
  Der Verein  
  Gästebuch  
  Archiv  
  Impressum  
     
  Letzte Änderung:
18.01.2006
 
 

 

 

Kultur - Atelier

Der Fehltritt eines Untermenschen

Von Michael Kiesen

         
 
 


Ein Sachbearbeiter bei der Ausländerbehörde ging eines Morgens seinen Posteingang durch. In einer Mappe lag ein Haftbefehl. Darin stand, dass der Beschuldigte, ein mazedonischer Staatsangehöriger, in drei Fällen an eine Frau Heroin und Kokain veräußert habe. Na ja, war zwar alles noch nicht erwiesen, aber den würde der Richter schon vollends platt machen.

Der Sachbearbeiter rief auf seinem PC den Formulartext „Anhörung“ auf, setzte den Namen des Mazedoniers sowie das Datum des Haftbefehls ein und druckte das Schreiben aus.

„... am 11.03. wurden Sie festgenommen ... Deshalb muss geprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine Ausweisung vorliegen ... Damit Ihre persönliche Situation bei dieser Entscheidung berücksichtigt werden kann, möchten wir Ihnen nach § 28 LVwVfG Gelegenheit geben, sich zu einer möglichen Ausweisung ... im Zeitpunkt der Haftentlassung bis spätestens 20.04. zu äußern ...“

Knapp zwei Wochen nach Beginn der Untersuchungshaft erhielt der Mazedonier dieses Schreiben vom 23.3. im Gefängnis Stammheim. Er gab es seinem Verteidiger. Der sagte, er kümmere sich darum, legte es dann in der Akte seines Mandanten ab und vergaß es.

Ungefähr drei Monate später sandte das Amtsgericht Stuttgart der Ausländerbehörde das rechtskräftige Strafurteil gegen den Mazedonier. Er hatte wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren bekommen.

Na also. Ein Ausländer, der wegen Drogen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde, flog nach dem Aufenthaltsgesetz aus Deutschland raus. Allerdings hatte der Typ eine Frau, die deutsche Staatsangehörige war. Man musste noch bei ihr nachfragen, ob sie sich scheiden ließ. Falls ja, war die Sache ganz einfach. Für diese Anfrage gab es einen feinen Vorgang, der so formuliert war, dass das Weib nicht merkte, was man vorhatte, falls sie sich von dem Ganoven nicht trennen wollte.

„... Für den besonderen Ausweisungsschutz genügt es, wenn insoweit nach Haftentlassung eine vor Inhaftierung bestandene eheliche Lebensgemeinschaft fortgesetzt wird. ...“

Die Frau des Mazedoniers antwortete sogar, war nicht so nachlässig wie ihr Mann. Sie wollte an der Ehe festhalten, um mit ihrem Mann die gemeinsame dreijährige Tochter zu betreuen.

Das half ihr nichts. Der Dealer würde auf den Balkan zurückgeschickt werden. Der Sachbearbeiter suchte einen Vorgang heraus, in dem es um Dealen mit harten Drogen und deutsche Familienangehörige ging und begann zu diktieren. Hauptargument war, dass der Mazedonier wegen der wirtschaftlichen Situation keine Aussicht auf Arbeit habe und daher die konkrete Gefahr bestehe, dass er wieder mit Drogen handle.

Kaum war die Ausweisungsverfügung zugestellt, rief schon die Frau des Mazedoniers an. Sie wollte vom Sachbearbeiter wissen, ob er ihr Schreiben denn nicht bekommen habe, es bestehe doch Ausweisungsschutz. Dann sagte sie, ihr Mann habe einen Arbeitsvertrag. Darauf der Sachbearbeiter: „Wenn ich das gewusst hätte ... aber jetzt ist es schon passiert.“

Eineinhalb Wochen nach diesem Gespräch hatte der Sachbearbeiter das Schreiben eines Juristen vor sich, der mit dem Mazedonier befreundet war und sich an den Leiter der Dienststelle gewandt hatte, der nun um Rücksprache bat.

Der Jurist sagte: „Das Grundproblem des Bescheids ist, dass kein rechtliches Gehör gewährt wurde. Der Verfasser des Bescheids beruft sich auf ein Schreiben vom 23.3., das mir nicht bekannt ist. ... Am 23.3. ging man jedoch davon aus, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung ausgesprochen wird, sodass die Frage einer Ausweisung nicht relevant war. Erst als das Strafurteil am 1.6. ergangen war bzw. nach dessen Rechtskraft am 20.6. hätte die Ausländerbehörde rechtliches Gehör gewähren dürfen; da erst war die gesamte Tragweite des Strafverfahrens erkennbar. Weil dieses rechtliche Gehör bzw. nähere Ermittlungen nicht stattgefunden haben, geht der Verfasser des Bescheids von einer unzutreffenden Tatsachengrundlage aus...“

Typisch juristische Haarspalterei. Sie forderten die Ausländer immer schon während der Untersuchungshaft zur Stellungnahme auf. Auf die weiteren Argumente des Juristen brauchte man nicht einzugehen, da bei Ausweisung der Sachstand im Moment der Behördenentscheidung maßgeblich war; sowieso blödes Geschwätz wie nur e i n e bereits drogenabhängige Abnehmerin, die den Mazedonier angestiftet und ihm einen Job in ihrer Firma versprochen hat, Ersttäter, Kontakt zur Abnehmerin abgebrochen, weil sie gegen den Typ ausgesagt hat, außerdem Arbeitsvertrag, daher keine Wiederholungsgefahr, schwerwiegende Folgen für die dreijährige Tochter. Der Sachbearbeiter entwarf also ein knappes ablehnendes Schreiben für seinen Vorgesetzten.

Diese Antwort leuchtete dem seltsamen Juristen nicht ein. Er erhob Klage für den Mazedonier, dessen Frau und dessen Tochter und machte z.B. geltend, die Verfügung sei ein Verwaltungsakt mit Drittwirkung und auch der Ehefrau hätte unter Mitteilung der Ausweisungsabsicht rechtliches Gehör gewährt werden müssen.

Wochen später ging ein weiterer Schriftsatz des penetranten Juristen ein.

„Der Kläger hatte nach der Strafprozessordnung sowohl gegenüber den Ermittlungsbehörden als auch gegenüber dem Gericht das Recht zu schweigen. In dieses Recht darf aber nicht durch eine sogenannte Anhörung in einem Ausweisungsverfahren eingegriffen werden. ... Selbst wenn der Kläger zu der Auffassung gelangt wäre, er sollte zu seiner ‚persönlichen Situation‘ Angaben machen, hätte er damit konkludent eingeräumt, dass ein Ausweisungstatbestand vorliegt und dass er somit eine schwerwiegende Straftat begangen hat. Und genau das konnte man von ihm gemäß der Strafprozessordnung während der Dauer eines Strafverfahrens nicht verlangen. Aus all dem erkennt man, wie absurd, sinnlos und rechtswidrig es war, vor einem Strafurteil eine sogenannte Anhörung anzugehen. ...“

Und dann wies der Jurist noch auf die fortgeltende Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz hin. Danach hatte die Behörde im Ausweisungsverfahren die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers und die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen ... von Amts wegen zu berücksichtigen. Und im Rahmen der Anhörung waren ihm sowohl die Ausweisungsabsicht als auch die dafür maßgeblichen Gründe wie Wiederholungsgefahr mitzuteilen.

Der Jurist beanstandete, dass das Schreiben vom 23.3. diese Anforderungen in keiner Weise erfülle. Und dann kam: „Dass die Verantwortlichen der Ausländerbehörde bei einem Ausweisungsverfahren, das existentielle Bedeutung hat, sogar die einschlägige Verwaltungsvorschrift nicht beachtet haben, lässt erkennen, welche Haltung sie Ausländern gegenüber einnehmen.“

Damit wollte er natürlich beim Richter Stimmung machen. Dass der Jurist diese Verwaltungsvorschrift entdeckt hatte, war schon ein Tiefschlag. Wenn ein Deutscher Kläger wäre, wäre das wohl das Aus für die Staatsseite. Aber es ging ja nur um so einen Untermenschen vom Balkan.


***

Verdammte Don Quixots dieser Erde vereint Euch, der Wind wird zum Sturm

Von Ali San

Kleiner Junge, ein Exemplar der Sorte, die sich den aktuellen Lebensstil ausgesucht hat, mit zerschnittenen Jeans, Turnschuhe Marke nicht zugeschnürt, T-Shirt Powerrangers und einer legeren Jacke, was weiß ich welche Marke, friert ein bisschen neben der holländischen Windmühle, wartet wahrscheinlich auf seine Freunde, mit denen er sich auf einen nahe gelegenen Abenteuerspielplatz begeben wird.

Die Sonne neigt sich gen Abend, rostrote Strahlen können gerade noch die schweigsame Erde etwas erwärmen. Der Wind gibt sich Mühe, langsam aber sicher zum Sturm zu werden, die Windmühle, die nur noch Attraktionscharakter hat, dreht sich im Rhythmus des stärker werdenden nahrhaften Luftzugs immer schneller Richtung nirgendwo. Ein Wiehern hört man vom weitem…

Hunde bellen aus dem entfernten Bauernhof, die Kühe sammeln sich allmächlich an der Melkplattform. Der Bauer eilt mit seiner Frau Richtung Plattform. Es gibt viel zu tun, sagt er mit rauer Stimme und spricht weiter in Richtung seines ergrauten Barts. Seine Frau hört ihn nicht. Sie ist versunken in Gedanken, hält zwei große Milchbehälter in den Händen, die sie gerade noch mit Mühe schleppen kann. Die Hühner trippeln freudlos hinter ihr her. Idyllisch könnte man meinen, Friede Freude Eierkuchen. Oder doch nicht.

Ein Schreiberling hinter seiner Schreibmaschine klimpert heftig auf ein Blatt Papier, sicher und mit bemerkenswertem Elan. Sein Schreibtisch ist überhäuft mit vollen Dossiers, Büchern, Schnellheftern und allerlei buntem Papier, ein süßes Chaos sondergleichen durchzieht nicht nur seine Gedanken. Je länger das geschriebene Blatt wird, umso mehr löst sicht das Chaos in seinen Gedanken. Etwas wird zu Etwas. Das ist klar. Aber was..

Nicht alltäglich ist der sich zum Sturm steigernde Wind in dieser Gegend, häufiger regnet es schon, aber zur Zeit ist es eigentlich eher trocken. Der Boden hat sich in durcheinander verlaufende Spalten zersplittert, durstet zusehends nach Wasser. Die letzten Grashalme haben ihre Hälse gen Himmel gedreht und bitten nach Feuchtigkeit. So wie ein nicht erhörtes Gebet, das alle Hoffnungen in der Leere verschallen lässt, so hört man auch das Knattern des Schreiberlings auf seinem Daktylo.

Etwas muss anders werden, sich verändern, die Luft ist schwanger und schwer wie ein Blei. Die Kraft, die dieses Bleierne in der Luft zu bewegen vermag, scheint unter den Fingern über der Tastatur zu stecken. Nun, es ist noch nicht entschieden, in welche Richtung es bewegt werden soll, diese Bleierne in seinen Gedanken, auch in der Luft. Etwas muss sich verändern.

Plötzlich erscheint aus der Ferne ein Krieger, einen Trichter auf dem Kopf, dunkle Jacke, groß gewachsen, ein riesiges Schwert in der Hand, sitzt aufrecht auf seinem Maultier, sein Gesicht sehr entschlossen, hat ein bestimmtes Ziel, geht gerade auf die Windmühle zu. In diesem Augenblick hört man von Weitem ein Stöhnen des Bauern, die ersten Milchstrahlen füllen die Behälter, der Schreiberling tackert seine letzte Zeile, der Freund des Abenteuererjünglings erscheint am Horizont, die Frau des Bauern hält einige Eier in ihrer Hand. Der Ritter holt aus und das Schwert zeichnet ein Z in die Luft. Die Sonne erscheint zum letzten Mal hinter der grauen Wolke. Die Luft wird nun ersichtlich leichter, bringt den Duft einer Sonnenblume. Ein Käfer traut sich aus seinem Versteck. Sogar eine Horde von Ameisen wagt sich hervor. Hoffnung liegt nun in der Luft. Das Herz des Schreiberlings schlägt laut. Etwas tut sich. Veränderung liegt in der Luft. Es wird still. Frieden wird es geben. Bald, sehr bald. Die Sonne verliert sich in der Dunkelheit, aber ein Bündel Licht kommt aus dem Finsternis. Etwas Ermutigendes, Hoffnungtragendes, Schriftbewußtes, Leicht - Begreifliches, etwas Phantastisches, doch Begreifliches findet seinen Weg im leicht gewordenen Luftzug Richtung Mühle, Richtung Jünglinge, Richtung Sonnenblume, Hand in Hand mit den Ameisen, und Hoffnung erfüllt das Leere zusehends.

   

Netzbrücke:

• Necati Merts Kolumne

• Mehr lesenswertes Textmaterial

• Wider den Schwarzen Winter

• Porträt des Periodikums