XXIV. Jahrgang, Heft 139
Jan - Feb - Mär 2006/1

 
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  Letzte Änderung:
18.01.2006
 
 

 

 

Gegenwart der Geschichte

Dokumentation
Religion im Alltag türkischstämmiger Migranten in Deutschland
Religiöse Praxis – Organisatorische Einbindung – Einstellungen

   
 
 


Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien hat in einer repräsentativen Telefonbefragung im Sommer 2005 1.000 türkeistämmige Migranten zur Bedeutung der Religion im Alltag und zu ihrer organisatorischen Anbindung befragt und im November 2005 eine neue Studie vorgelegt. Anhand einer vergleichbaren Untersuchung des ZfT aus dem Jahr 2000 können Veränderungen sichtbar gemacht werden: Bedeutung des Islam für Türken in Deutschland gestiegen – aber keine Belastung für Zusammenleben. Im folgenden Text handelt es sich um den einführenden Teil sowie das Fazit der Studie.


Ausgangspunkt und Ziel der Studie

Geht es um die Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland, so fällt dem Thema Islam in der Debatte in den vergangenen Jahren eine stetig wachsende Bedeutung in Politik, Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft zu. Hierfür gibt es gute Gründe.

Die 2,7 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland sind nach wie vor die bedeutendste Zuwanderergruppe nichtdeutscher Herkunft in der Bundesrepublik, und sie gehören weit überwiegend dem Islam an. Insgesamt leben 3,5 Mio. Muslime in Deutschland, durch das Übergewicht der türkischstämmigen Zuwanderer ist der Islam in Deutschland türkisch geprägt. Die in zahlreichen Studien des Zentrums für Türkeistudien sowie auch durch andere Autoren nachgewiesene Verbleibeabsicht der Erstgenerationszuwanderer der „Gastarbeitermigration“ aus der Türkei in Deutschland, das Heranwachsen der zweiten und dritten Zuwanderergeneration und damit verbunden die langfristige Ausrichtung des Lebens auf die neue Heimat Deutschland stellen ganz neue Herausforderungen an die Institutionalisierung des Islam in der Diaspora. Islam und Muslime werden, etwa durch ihre Moscheebauten, im Bild der deutschen Städte immer sichtbarer. Mit der Anerkenntnis des endgültigen Verbleibs steigt das religiöse Engagement in Deutschland wie auch der Bedarf nach adäquater Repräsentation des eigenen Glaubens. Dazu zählen der Aufbau einer eigenen religiösen und institutionellen Infrastruktur sowie die zunehmende Vernetzung und rechtliche Bemühungen zur Erlangung eines etablierten Status als anerkannte Religionsgemeinschaft. Schon vor diesem Hintergrund wird der Islam stärker wahrgenommen und zum Gegenstand und Akteur der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland. Nicht selten wird er auch zum Objekt von Ablehnung und Misstrauen, ebenso wie zum Adressaten von Dialogangeboten. Denn auch auf politischer Ebene setzt das Nachdenken darüber ein, wie die Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in einer nicht-islamischen Mehrheitsgesellschaft gestärkt oder geschaffen werden können.

Zugleich hat sich das Umfeld für die Integration der Muslime als gleichberechtigte Akteure in die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren insofern verschlechtert, als auf internationaler Ebene seit dem 11. September 2001 und durch die daran anschließenden Kriege in Afghanistan und im Irak das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Islam als zunehmend konfrontativ wahrgenommen wird. Das Empfinden von Konfrontation beruht dabei viel weniger auf tatsächlichen Problemen des Zusammenlebens in Deutschland - hier belegt die vorliegende Studie, dass im Alltag doch eine hohe Toleranz gegenüber dem Islam durch die Muslime empfunden wird - sondern in der Vermittlung eines heraufziehenden „Konfliktes der Kulturen“, der explizit zwar immer verneint, implizit aber durch die Art und Weise, wie man über das Zusammenleben mit dem Islam in Deutschland spricht, eher heraufbeschworen wird. Zugleich ist aber auch zu konstatieren, dass das Interesse am Islam und die Anerkenntnis der Notwendigkeit eines differenzierten Zugangs zu dieser Weltreligion, wenn auch unter dem Vorzeichen eines zu bewältigenden „Problems“, in den letzten Jahren in der deutschen Gesellschaft gewachsen ist. Den Muslimen stellen sich somit auch Chancen für die Verbesserung ihrer Partizipation. Zugleich hat die Diskussion über ihre Religion die Muslime in den letzten Jahren veranlasst, ihre religiöse Identität selbst zu prüfen und zu hinterfragen - mehrheitlich mit dem Ergebnis, sich deutlicher zu dieser Identität zu bekennen als zuvor. Dennoch differenziert sich auch der gelebte Islam in Deutschland mehr und mehr aus und ist mit unterschiedlichen Lebensentwürfen verbunden.

Die vorliegende Studie dokumentiert das Ergebnis dieses Prozesses durch eine differenzierte und repräsentative Befragung der türkeistämmigen Muslime in der Bundesrepublik. Einige der Konflikte müssen die Migranten innerhalb der eigenen Community und mit sich selbst austragen. Im Ergebnis sind sie auf der Suche nach einer islamischen Lebensweise, die sie nicht in einen Konflikt mit der westlich orientierten Aufnahmegesellschaft zwingt, sondern selbstverständlicher Bestandteil einer pluralistischen Gesellschaft werden lässt. Die hiermit vorliegenden Befunde geben ein deutliches Zeugnis dieses Bemühens und belegen, wie intergenerativer Wandel trotz Bewahrung der muslimischen Identität in der türkischen Community in Deutschland abläuft.

Für die Organisationen der Muslime stellt sich damit die Herausforderung, den Wandel theologisch, aber auch institutionell zu begleiten. Längst sind sie nicht mehr nur für die religiöse Betreuung der Gläubigen zuständig, sondern haben soziale und gesellschaftliche Aufgaben der muslimischen Community übernommen. Doch kennt der Islam anders als die christlichen Kirchen keine hierarchische Organisationsstruktur. Es existieren kein Klerus, keine Bischöfe, keine religiöser Führer oder oberstes Gremium und keine zentrale Lehrautorität, deren Verlautbarungen für die Gläubigen verbindlich sind. Darüber hinaus ist im Islam die Individualität des Gläubigen sehr viel ausgeprägter als im Christentum: Es existieren keine formale Mitgliedschaft und keine formalen Aufnahmeriten wie die christliche Taufe oder die Konfirmation bzw. Kommunion, sondern man gehört dem Islam aufgrund des persönlichen Bekenntnisses an. Allerdings trennt der Islam nicht Sakrales und Profanes, die Religion spielt eine zentrale Rolle im Alltag der Menschen. Die vorliegende Studie kann als Orientierungshilfe in dem Entwicklungsprozess dienen, indem sie die Veränderungen in der Einstellungen und Lebensweisen der Muslime in Deutschland vor Augen führt. Mit der Untersuchung sollen die verschiedenen Facetten des religiösen Alltagslebens der türkischen Migranten, der Grad der Religiosität, die Bedeutung der Einhaltung muslimischer Vorschriften und die Organisationsstrukturen untersucht werden. Dabei stehen mögliche Differenzen der unterschiedlichen Generationen im Vordergrund der Analyse. Durch den Vergleich mit einer ähnlichen Studie aus dem Jahr 2000 können Entwicklungen aufgezeigt werden.


Die Organisationsstrukturen der Muslime in Deutschland

Zunächst bildeten sich in den 70er Jahren in Deutschland Moscheevereine und religiöse Organisationen nach den Vorbildern in den Heimatländern, die sich auf die religiöse Betreuung der scheinbar nur kurzfristig in der Diaspora lebenden Gläubigen kümmerten und deren Orientierung auf die Heimatländer ausgerichtet war. Die Ausübung des Islam fand in Hinterhofmoscheen und wenig sichtbar für die deutsche Gesellschaft statt. Seit den 80er Jahren übernahmen die Moscheevereine mehr und mehr soziale und gesellschaftliche Aufgaben sowie weltliche Beratungsdienste, die sich auf das Leben der Muslime in Deutschland beziehen und dem dauerhaften Verbleib der Gläubigen in Deutschland Rechnung tragen. Inzwischen existieren in der Bundesrepublik rund 2.600 Moscheegemeinden, von denen die überwiegende Mehrheit an türkisch-muslimische Dachorganisationen aufgrund infrastruktureller Vorteile (Bereitstellung eines ausgebildeten Imams, Bereitstellung von schriftlichem Material, Hilfe bei bürokratischen Schwierigkeiten) und gleichgerichtetem Islamverständnis angeschlossen sind. Es existieren auch eine Reihe von Gemeinden, die keiner übergreifenden Organisation angehören. Die Nutzung der insbesondere von den Moscheevereinen angebotenen Dienstleistungen und Freizeitangebote sagt letztlich nichts über die auch ideelle Zugehörigkeit einer Familie zu dem Moscheeverein, dessen Dienstleistungen sie annimmt, aus, da es eben keine zwingende formale Mitgliedschaft gibt.

Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland haben keinen offiziellen Rechtsstatus als Religionsgemeinschaft inne, der sie berechtigt, Schulen zu eröffnen und zum Beispiel karitative und soziale Aktivitäten mit finanzieller Unterstützung des Staates anzubieten. Um aber in Deutschland ihre Interessen im demokratischen System vertreten zu können, haben sich die Muslime auf verschiedenen Ebenen organisiert. Neben zahlreichen Einzelorganisationen bestehen Dach- und Spitzenverbände. Bei den Zusammenschlüssen ist zu differenzieren zwischen der Zusammensetzung der Mitglieder (herkunftshomogen oder herkunftsheterogen) und der Organisationsebene. Neben bundes- oder auch europaweit aktiven Dachorganisationen, deren Zentralen sich in den meisten Fällen in Deutschland befinden, gibt es regionale und auch lokale Zusammenschlüsse muslimischer Selbstorganisationen. Sie nehmen jeder für sich in Anspruch, auf der jeweiligen Ebene die Muslime gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu vertreten, führen aber zugleich teilweise harte Kontroversen untereinander. Da berücksichtigt werden muss, dass das Selbstverständnis dieser Organisationen nicht demjenigen klassischer Vereine in Deutschland entspricht, bei denen sich Tätigkeit und Verantwortung auf die eindeutig definierte Zahl von Mitgliedern beschränken, sondern sie eher in der Tradition der islamischen Stiftungen stehen, deren Angebote für alle offen sind, ist die Inanspruchnahme der Interessenvertretung für alle Muslime durch die Dachverbände doch problematisch.

Die Moscheevereine decken ein weites Spektrum mit unterschiedlichen politischen, kulturellen, berufsständischen, landsmannschaftlichen und religiösen Aufgaben und Zielsetzungen ab. Daneben stellen sich eine Vielzahl der Vereine in politischer Hinsicht wesentlich moderater dar, die radikalen Töne sind in der öffentlichen Darstellung entschieden leiser geworden, fast alle Gruppen signalisieren Dialogbereitschaft mit den deutschen Stellen, wenden sich gegen fundamentalistische oder islamistische Bestrebungen und betonen eine integrationspolitische Zielsetzung.

In der Regel bieten die Vereine neben Korankursen und Religionsunterricht geistliche Betreuung in Einzelfällen, sie begleiten und organisieren Beisetzungen, Hochzeiten, Beschneidungen und Pilgerfahrten, sie bieten Fortbildungskurse, Freizeit- und Sportangebote, soziale Beratung und kulturelle Angebote sowie Informationsveranstaltungen zu unterschiedlichen Themen an. Hier ein Überblick über die wichtigsten religiösen Verbände:

Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religionen e.V. / Diyanet Isleri Türk Islam Birligi (DITIB)

Die DITIB wurde erst 1985, also 24 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei auf Initiative der Diyanet, dem „Staatlichen Präsidium für religiöse Angelegenheiten“ , das sich streng an der laizistische Staatsordnung der Türkei orientiert und die religiöse Infrastruktur in der Türkei organisiert, gegründet. Damit reagierte der türkische Staat auf die Situation, dass sich in der Bundesrepublik zahlreiche religiöse Vereine, z.T. mit Unterstützung radikaler Gruppen aus der Türkei, um die religiösen Belange der Türken kümmerten und dabei auch antilaizistische und antikemalistische Haltungen vertraten. Die Union ist derzeit die mitgliederstärkste islamische Organisation. Sie arbeitet eng mit dem „Amt für religiöse Angelegenheiten“ (DIYANET) der Türkei zusammen. Der derzeitige Vorsitzende der DITIB ist zugleich auch Botschafter für religiöse Angelegenheiten der Republik Türkei in Berlin. Daneben gibt es an den Konsulaten Attaches für religiöse Angelegenheiten, die eine Dienstaufsichtsfunktion über die von DIYANET abgestellten Imame im Konsulatsbezirk ausüben. Die Union vertritt die offizielle laizistische Grundhaltung zum Verhältnis von Staat und Islam und agiert in diesem Rahmen in der Bundesrepublik, d.h. ihre religiöse Haltung entspricht weitgehend derjenigen der offiziellen türkischen Staatspolitik. Die einzelnen Mitgliedsvereine sind rechtlich selbständige eingetragene Vereine ebenso wie DITIB selbst. Es gibt somit keine hierarchische Vereinsorganisation, sondern eine dezentrale Struktur. DITIB sieht sich als offizieller Ansprechpartner bezüglich der türkischen Muslime in Deutschland und setzt sich für Integration und Freizügigkeit innerhalb der EU ein. Die Arbeit der Mitgliedsorganisationen finanziert sich weitgehend durch Spenden. Die Imame werden als Staatsbeamte vom türkischen Staat entsandt und bezahlt. Daraus ergibt sich die Problematik, dass sie sich turnusmäßig, d.h. höchstens vier Jahre, in Deutschland aufhalten und danach wieder abgelöst werden.

Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)

Die IGMG ist nach DITIB die zweitgrößte muslimische Gemeinschaft in Deutschland mit Sitz in Köln. Gleichwohl sind in den diesem Verband zugehörigen Vereinen nur etwa 8% der Moscheevereinsmitglieder in Deutschland organisiert. Der Verfassungsschutz gibt die Zahl der Mitglieder mit 26.500 an. Die IGMG wird seit einigen Jahren beobachtet und als verfassungsfeindlich eingestuft. Nach eigenen Angaben lehnt IGMG jegliche Gewalt ab und versucht, sich als Dialogpartner der deutschen Stellen zu etablieren.

Die IGMG ging aus dem 1976 gegründeten und 1983 in „Islamische Union Europas“ umbenannten Verein „Türkische Union Europas“ hervor. Unter dem heutigen Namen firmiert die Gemeinschaft seit 1995. Die IGMG wird als Auslandsorganisation der türkischen Refah-Partei (Wohlfahrtspartei) ansehen, deren derzeitiger Vorsitzender Necmettin Erbakan ist. Die heutige Regierungspartei AKP hat sich von der Refah-Partei abgespalten, aufgrund der gemeinsamen Wurzeln bestehen enge Kontakte zwischen der AKP und der IGMG. Die Imame, in der Regel in der Türkei ausgebildet, werden durch Spenden der Vereinsmitglieder bezahlt. Ein wichtiger Arbeitsbereich des Verbandes ist die Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Der Verband führt flächendeckend Wochenend- und Ferienfreizeiten durch, die für Jungen und Mädchen, nach Geschlechtern getrennt, angeboten werden. In Bergkamen besteht eine Internatskoranschule für Mädchen, in Köln unterhält der Verband eine Akademie. Journalistische Stimme von IGMG ist die „Milli Gazete“. Seit Mitte der 80er Jahre ist die IGMG bemüht, mit allen Organisationen der türkischen Bevölkerung in Deutschland freundschaftlichen Kontakt zu pflegen.

Dabei wird die Rolle des Islam als identitätsstiftender Faktor für die Mitglieder betont. Die gesellschaftliche Zielvorstellung ist die Wahrung der islamischen Identität und damit eine Integrationsvorstellung, die eine kulturelle Verschmelzung ablehnt. Zugleich ist aber der Kontakt zu den christlichen Kirchen und Öffentlichkeitsarbeit in der Aufnahmegesellschaft ein zentraler Teil des Selbstverständnisses.

Verband der islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) / Islam Kültür Merkezleri Birligi

Der VIKZ geht zurück auf die 1967 gegründete „Türkische Union“, die nach 1973 ihre Aktivitäten als „Islamisches Kulturzentrum“ fortführte und deren Gemeinden sich 1980 zum „Verband der islamischen Kulturzentren“ zusammenschlossen. Der VIKZ war der erste Verband, der sich - schon in den 60er Jahren - für die Schaffung einer gemeinsamen Bewegung auf Bundesebene einsetzte. Während sich die Veröffentlichungen des Verbandes früher gegenüber der deutschen Gesellschaft abgrenzten, signalisieren sie seit den 90er Jahren Dialogbereitschaft. Heute betont der VIKZ seine integrative Orientierung. Der VIKZ zeichnet sich durch eine zentralistische Organisationsstruktur aus, womit die einzelnen Moscheegemeinden Zweigstellen der Zentrale in Köln und keine rechtlich selbständigen Organisationen sind.

Auch der VIKZ bemüht sich vorwiegend um die Jugendlichen. Im Vordergrund steht hierbei die Wahrung einer islamischen Identität der Jugendlichen. Der Verband gehörte bis zum Jahr 2000 zu den Mitgliedern des islamischen Spitzenverbandes „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD) und bildete seinen stärksten Einzelverband. Seit dem Ausscheiden aus dem ZMD ist beim VIKZ ein Rückzug aus dem interreligiösen Dialog zu beobachten.

Islamische Gemeinschaft Jama’at un-Nur e.V.

Sie existiert in Deutschland seit 1967. Die Nurculuk- Bewegung versteht sich als religiöse Reformbewegung, die moderne Technologie und Islam miteinander verbinden will. Mittlerweile gehören ihr bundesweit ca. 40 Medresen (theologische Ausbildungsstätten) an. Im Gegensatz zu den meisten islamischen Verbänden haben die Medresen keine Imame, da sie nicht als Moscheen angelegt sind. Die Organisationsstruktur des Verbandes unterscheidet sich von der anderer muslimischer Verbände: Die Gesamtleitung der Bewegung liegt bei einer Arbeitsgemeinschaft „gleichberechtigter Brüder“ in Istanbul. Die einzelnen Medresen, auch in Deutschland, arbeiten weitgehend selbständig. Wichtige Entscheidungen werden von einem länderbezogenen Beratungsgremium (mesveret) getroffen. Der Verband versteht sich nicht als konkurrierende Organisation zu den Moscheen. Die Hauptzielgruppe der Nurculuk-Bewegung sind die in Deutschland aufwachsenden Jugendlichen. Durch die intellektuelle Auseinandersetzung zwischen göttlichem Willen und technischem und wissenschaftlichem Fortschritt will man sie in ihrem Glauben stärken oder für diesen zurückgewinnen. Die Jama’at un-Nur verfügt über sehr gute Kontakte zu anderen islamischen Gruppierungen und betreibt eine dialogorientierte Politik, beispielsweise durch die Zusammenarbeit mit kirchlichen Organisationen. Sie ist Mitglied im Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, einem der beiden islamischen Spitzenverbände.

Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V./Avrupa Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu (ADÜTDF)

Der Verein wurde 1978 in Frankfurt/M. gegründet. Er verfolgte zunächst eine nationalistisch-pantürkische Ideologie mit einer starken Betonung der vorislamischen Geschichte und Kultur der Türken. Durch die Arbeit in der Diaspora und in Reaktion auf den Militärputsch in der Türkei 1980 wandte sich der Verein einer verstärkten Betonung des islamischen Elements zu. Dennoch besteht im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten islamischen Vereinen eine nach wie vor stärkere Betonung des nationalistischen Elements, was der Organisation eher einen politischen als religiösen Charakter gibt.

Türkisch-Islamische Union in Europa/Avrupa Türk Islam Birligi (ATIB)

Die ATIB hat sich von der ADÜTDF abgespalten und legt ihr Schwergewicht eher auf eine Synthese zwischen türkischem Nationalismus und Islam, wobei dem Islam mehr Raum beigemessen wird als bei der ADÜTDF. Der ATI•B sind eigenen Angaben zufolge bundesweit 123 Vereine angeschlossen. Die Zahl der Mitglieder wird mit 11.500 angegeben. Die Imame der von der ATIB betriebenen Moscheen sind teilweise Religionsbeamte der türkischen Anstalt für religiöse Angelegenheiten.

Vereinigung der Aleviten-Gemeinden e.V. / Avrupa Alevi Birlikleri Federasyonu (AABF)

AABF reicht in ihren Anfängen in die beginnenden 90er Jahre zurück. Alevitische Vereine wurden verstärkt ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre gegründet. Bereits 1991 wurde ein Vorläufer des heutigen Dachverbandes gegründet. Die offizielle Gründung der Föderation erfolgte 1993 unter der Bezeichnung „Föderation der Aleviten-Gemeinden in Europa“. Im Zuge des raschen Anstiegs der Mitgliedsvereine wurde am Ende der 90er Jahre der Verband neu organisiert und in eine Konföderation umgewandelt Der AABF begreift das Alevitentum als eigenständige Religionsgemeinschaft, die zwar ihre Wurzeln auch im Islam hat, sich davon jedoch weiterentwickelt hat. Der Verband bemüht sich - in vier Bundesländern erfolgreich - alevitischen Religionsunterricht neben islamischem zu erteilen, da alevitische Religionsinhalte nach seiner Ansicht im islamischen Religionsunterricht zu wenig Berücksichtigung finden. Eines der wichtigsten Ziele des Vereins ist die Vermittlung alevitischer Religionsinhalte an alevitische Jugendliche. Außerdem geht es dem Verein darum, Vorurteile bei Aleviten und Nicht-Aleviten zu bekämpfen, um besonders die Identitätsfindung alevitischer Jugendlicher zu unterstützen. Die Föderation steht hinter den laizistischen, rechtsstaatlichen Grundlagen des türkischen Staates und den Menschenrechten. Sie nimmt Menschen aus allen Gruppen und Religionsgemeinschaften auf. Entsprechend der alevitischen Tradition und Lehre betreiben die Vereine keine Moscheen, sondern als „Cem evi“ bezeichnete Gebets- und Versammlungsstätten. Zur Aufnahmegesellschaft hat die Vereinigung von Anfang an sehr gute Kontakte.

Eine weitere Organisation, die versucht, als alevitischer Dachverband zu organisieren, ist die Cem-Stiftung bzw. das „Republikanische Stiftungszentrum für Bildung und Kultur“ (Cumhuriyetçi Egitim ve Kültür Merkezi Vakfi). Sie entstand als Ableger einer gleichnamigen Stiftung in der Türkei. Dort ist die Organisation darum bemüht, dass die alevitische Glaubenslehre als eigenständige Konfession innerhalb des Islam vom Staat anerkannt und entsprechend berücksichtigt wird. Der deutsche Zweig wurde 1996 gegründet.


Die Spitzenverbände

Mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und dem Islamrat existieren zwei konkurrierende Dachverbände der Muslime in Deutschland. Allerdings ist der größte Verband - DITIB - keinem der beiden Dachverbände angeschlossen. DITIB versteht sich selbst aufgrund seiner Größe und Bedeutung als legitimer Interessenvertreter der Muslime in Deutschland, obwohl er kein klassischer Dachverband ist, so dass drei Verbände um den Vertretungsanspruch der Muslime in Deutschland konkurrieren.

Beim ZMD wird auch am Namen erkennbar, dass er - ähnlich wie der Zentralrat der Juden in Deutschland - als Repräsentant und Ansprechpartner für alle bzw. einen größeren Teil der Muslime in Deutschland angesehen werden möchte. Der ZMD entstand im Dezember 1994 und ging aus dem 1989 gegründeten „Islamischen Arbeitskreis in Deutschland“ hervor. Im Zentralrat der Muslime sind derzeit 19 Organisationen Mitglied. Neben Dachverbänden und Einzelorganisationen, die bundesweit tätig sind, gehören auch einzelne lokale islamische Zentren zu den Mitgliedern. Eine deutliche Schwächung hat der ZMD durch den Austritt des Verbandes der islamischen Kulturzentren (VIKZ) im Jahr 2000 hinnehmen müssen. Weitere Dachverbände des ZMD sind die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine (ATIB), die Vereinigung islamischer Gemeinden der Bosniaken in Deutschland und die Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland. Auf eine Initiative des ZMD geht der „Tag der offenen Moschee“ zurück, der jährlich am 3. Oktober durchgeführt wird und Außenstehenden die Möglichkeit geben soll, Moscheen zu besuchen und kennen zu lernen.

Die Entstehung des Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland datiert auf das Jahr 1986. Durch die Gründung sollte eine bundesweite Koordinierungsinstanz und ein gemeinsames Beschlussorgan islamischer Organisationen geschaffen werden. Mitglied des Islamrates sind derzeit 17 islamische Bundesverbände, zehn Landesverbände sowie zehn regionale und lokale Vereinigungen. Der stärkste Mitgliedsverband des Islamrates ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Als Spitzenverband sind im Islamrat Muslime unterschiedlicher Herkunft organisiert. Der Islamrat möchte als Interessenvertretung der Muslime in Deutschland angesehen werden, der diese religiös, sozial und kulturell betreut. Bisher wurde keiner der Dachverbände von den deutschen Verantwortlichen als alleiniger Ansprechpartner beispielsweise bei der Frage der Erteilung von islamischem Religionsunterricht anerkannt. Daher streben die Verbände seit einiger Zeit an, enger zusammen zu arbeiten oder sich zusammmen zu schließen, um den Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden. Doch bisher ist der Zusammenschluss noch nicht gelungen.


Fazit

Trotz der im Vergleich zum Jahr 2000 gestiegenen Religiosität und der Neigung zu konservativeren Einstellungen besteht unter den türkischstämmigen Migranten keine zunehmende Gefahr der Fundamentalisierung oder einer steigenden Unterstützung doktrinärer Organisationen. Doch haben Religion und religiöse Riten eine gleich bleibend hohe Bedeutung, die nicht nur eine religiöse, sondern auch eine kulturell-gesellschaftliche Ebene berührt. Auch die junge Generation und weniger religiöse Migranten halten an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen Identität fest. Insbesondere das Fasten, die Armutssteuer (Zekat), die Beteiligung am Opferfest und die Einhaltung der Speisevorschriften werden relativ unabhängig von der Eigendefinition als religiös oder nichtreligiös und von einer deutlichen Mehrheit praktiziert. Regelmäßiges Beten, der häufige Moscheebesuch und die Absicht auf eine Wallfahrt sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägtere Religiosität, die bei höherem Alter und geringerer formaler Bildung stärker ausgebildet ist.

Moscheen sind jedoch nicht nur Ort für Gebete. Die sozialen und kulturellen Angebote werden von zahlreichen Muslimen in Anspruch genommen, nicht nur solchen, die sich religiös definieren. Neben religiöser Betreuung und Korankursen werden vor allem Freizeitangebote und Räumlichkeiten für Feste genutzt. Insgesamt sind 23% der türkischstämmigen Muslime in Moscheevereinen organisiert. Festzustellen ist eine zunehmende Polarisierung und Differenzierung innerhalb der muslimisch-türkischen Community, die sich in der Religiosität, aber auch bei den persönlichen Einstellungen zeigt. Dennoch weist die überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Muslime eine moderate Einstellung auf, der Kopftuchzwang wird von der Hälfte und getrennter Sportunterricht von mehr als zwei Dritteln abgelehnt. Die Trennung von Staat und Religion wird in hohem Maß befürwortet, wobei das türkische Modell der staatlichen Organisation des religiösen Lebens große Unterstützung erfährt. Orthodoxe Organisationen haben kaum Zulauf, doch üben sie offenbar auf die junge Generation eine gewisse Anziehungskraft aus. Junge Muslime sind einerseits deutlich religiöser als vor fünf Jahren, organisieren sich jedoch andererseits seltener als damals. Doch wenn sie sich einem Verband anschließen, dann überproportional in doktrinären Gruppierungen. Dennoch kann man bei 2% IGMG-Mitgliedern und ebenso vielen VIKZ-Mitgliedern unter den jungen Migranten nicht von einer breiten Fundamentalisierung sprechen. Doch darf die Gruppe insbesondere der jungen Migranten, die sich zu doktrinären Organisationen hingezogen fühlen und eine sehr konservative Meinung aufweisen, nicht übersehen werden. Hier gilt es jedoch, sich konstruktiv auseinander zu setzen und die Jugendlichen nicht durch Ausgrenzung und Druck verstärkt in eine freiwillige Segregation zu drängen.

Die Landschaft religiöser Organisationen, in denen knapp ein Viertel der Migranten über eine Mitgliedschaft organisiert ist, wird heute wie vor fünf Jahren eindeutig durch DITIB dominiert, drei Viertel der Moscheevereinsmitglieder gehören Verbänden der DITIB an, 8% der Organisierten sind bei IGMG und 6% beim VIKZ. Der religiöse Organisationsgrad und die Bedeutung der Organisationen bezüglich der Mitglieder sowie der Repräsentation der Einstellungen auch der Nichtorganisierten haben sich kaum verändert, auch bei Letzterem dominiert DITIB gefolgt mit großem Abstand vor IGMG und dem AABF. Zugenommen hat jedoch der Anteil derer, die sich durch keinen Verband in ihren Einstellungen repräsentiert fühlen und der heute bei 24% liegt. Dennoch wünschen sich fast zwei Drittel einen Zusammenschluss der verschiedenen Verbände zu einem Gesamtverband. Durch diesen könnten die Muslime im politisch-gesellschaftlichen System der Bundesrepublik besser und effektiver vertreten werden, da sich Politik und Verwaltung mit der nichthierarchischen Organisationsstruktur des Islam schwer tun. Die überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Muslime wünscht sich islamischen Religionsunterricht an den Schulen, auch solche, die sich nicht selbst religiös definieren. Die Verantwortung wünscht man in den Händen einer Dreier-Kommission aus deutschen Schulbehörden, Islamischen Gemeinden in Deutschland und Vertretern des türkischen Staates. Dies belegt ebenfalls, dass die Religion und die religiöse Erziehung der Kinder für die türkischstämmigen Migranten eine große Bedeutung hat, man sich aber auch vor fundamentalistischen Einflüssen über die Einbeziehung der deutschen Schulbehörden und des türkischen Staates schützen möchte.

Obwohl das Zusammenleben der muslimischen Minderheit mit der christlichen Mehrheit aus der Perspektive der Muslime nur für wenige ein Problem darstellt und im Allgemeinen den Deutschen ein großes Maß an Verständnis bescheinigt wird, ist diese Wahrnehmung bei den jungen Muslimen nicht ganz so positiv ausgeprägt. Die deutsche Gesellschaft sollte weitere Anstrengungen unternehmen, um die kleine Gruppe insbesondere der jungen Migranten, die insbesondere in Verbindung mit sozialer Desintegration Gefahr laufen könnte, in fundamentalistische oder radikale Gruppen abzurutschen, mit ihrem Glauben zu akzeptieren und zu integrieren, anstatt sie durch Ausgrenzung oder überzogenen Assimilierungsforderungen weiter in die Isolation zu drängen.

Die muslimischen Organisationen sind aufgefordert, stärker zusammen zu arbeiten und am politisch-gesellschaftlichen Leben in Deutschland zu partizipieren. Zugleich sollten sie bei ihren Mitgliedern und Anhängern für die Orientierung auf das neue Heimatland werben und dafür eintreten, sich - unter Beibehaltung der religiösen und kulturellen Eigenständigkeit - als Teil der deutschen Gesellschaft zu begreifen.


Stiftung Zentrum für Türkeistudien, Institut an der Universität Duisburg-Essen, Altendorfer Straße 3, 45127 Essen, Tel. 0201/31 98-0, Fax 0201/31 98-333, info@zft-online.de, www.zft-online.de

   

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