|
Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien
hat in einer repräsentativen Telefonbefragung im Sommer 2005
1.000 türkeistämmige Migranten zur Bedeutung der Religion
im Alltag und zu ihrer organisatorischen Anbindung befragt und im
November 2005 eine neue Studie vorgelegt. Anhand einer vergleichbaren
Untersuchung des ZfT aus dem Jahr 2000 können Veränderungen
sichtbar gemacht werden: Bedeutung des Islam für Türken
in Deutschland gestiegen – aber keine Belastung für Zusammenleben.
Im folgenden Text handelt es sich um den einführenden Teil
sowie das Fazit der Studie.
Ausgangspunkt und Ziel der Studie
Geht es um die Integration von Migrantinnen und Migranten
in Deutschland, so fällt dem Thema Islam in der Debatte in
den vergangenen Jahren eine stetig wachsende Bedeutung in Politik,
Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaft zu. Hierfür
gibt es gute Gründe.
Die 2,7 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland
sind nach wie vor die bedeutendste Zuwanderergruppe nichtdeutscher
Herkunft in der Bundesrepublik, und sie gehören weit überwiegend
dem Islam an. Insgesamt leben 3,5 Mio. Muslime in Deutschland, durch
das Übergewicht der türkischstämmigen Zuwanderer
ist der Islam in Deutschland türkisch geprägt. Die in
zahlreichen Studien des Zentrums für Türkeistudien sowie
auch durch andere Autoren nachgewiesene Verbleibeabsicht der Erstgenerationszuwanderer
der „Gastarbeitermigration“ aus der Türkei in Deutschland,
das Heranwachsen der zweiten und dritten Zuwanderergeneration und
damit verbunden die langfristige Ausrichtung des Lebens auf die
neue Heimat Deutschland stellen ganz neue Herausforderungen an die
Institutionalisierung des Islam in der Diaspora. Islam und Muslime
werden, etwa durch ihre Moscheebauten, im Bild der deutschen Städte
immer sichtbarer. Mit der Anerkenntnis des endgültigen Verbleibs
steigt das religiöse Engagement in Deutschland wie auch der
Bedarf nach adäquater Repräsentation des eigenen Glaubens.
Dazu zählen der Aufbau einer eigenen religiösen und institutionellen
Infrastruktur sowie die zunehmende Vernetzung und rechtliche Bemühungen
zur Erlangung eines etablierten Status als anerkannte Religionsgemeinschaft.
Schon vor diesem Hintergrund wird der Islam stärker wahrgenommen
und zum Gegenstand und Akteur der gesellschaftlichen Entwicklung
in Deutschland. Nicht selten wird er auch zum Objekt von Ablehnung
und Misstrauen, ebenso wie zum Adressaten von Dialogangeboten. Denn
auch auf politischer Ebene setzt das Nachdenken darüber ein,
wie die Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben
von Muslimen und Nichtmuslimen in einer nicht-islamischen Mehrheitsgesellschaft
gestärkt oder geschaffen werden können.
Zugleich hat sich das Umfeld für die Integration
der Muslime als gleichberechtigte Akteure in die deutsche Gesellschaft
in den letzten Jahren insofern verschlechtert, als auf internationaler
Ebene seit dem 11. September 2001 und durch die daran anschließenden
Kriege in Afghanistan und im Irak das Verhältnis zwischen dem
Westen und dem Islam als zunehmend konfrontativ wahrgenommen wird.
Das Empfinden von Konfrontation beruht dabei viel weniger auf tatsächlichen
Problemen des Zusammenlebens in Deutschland - hier belegt die vorliegende
Studie, dass im Alltag doch eine hohe Toleranz gegenüber dem
Islam durch die Muslime empfunden wird - sondern in der Vermittlung
eines heraufziehenden „Konfliktes der Kulturen“, der
explizit zwar immer verneint, implizit aber durch die Art und Weise,
wie man über das Zusammenleben mit dem Islam in Deutschland
spricht, eher heraufbeschworen wird. Zugleich ist aber auch zu konstatieren,
dass das Interesse am Islam und die Anerkenntnis der Notwendigkeit
eines differenzierten Zugangs zu dieser Weltreligion, wenn auch
unter dem Vorzeichen eines zu bewältigenden „Problems“,
in den letzten Jahren in der deutschen Gesellschaft gewachsen ist.
Den Muslimen stellen sich somit auch Chancen für die Verbesserung
ihrer Partizipation. Zugleich hat die Diskussion über ihre
Religion die Muslime in den letzten Jahren veranlasst, ihre religiöse
Identität selbst zu prüfen und zu hinterfragen - mehrheitlich
mit dem Ergebnis, sich deutlicher zu dieser Identität zu bekennen
als zuvor. Dennoch differenziert sich auch der gelebte Islam in
Deutschland mehr und mehr aus und ist mit unterschiedlichen Lebensentwürfen
verbunden.
Die vorliegende Studie dokumentiert das Ergebnis dieses
Prozesses durch eine differenzierte und repräsentative Befragung
der türkeistämmigen Muslime in der Bundesrepublik. Einige
der Konflikte müssen die Migranten innerhalb der eigenen Community
und mit sich selbst austragen. Im Ergebnis sind sie auf der Suche
nach einer islamischen Lebensweise, die sie nicht in einen Konflikt
mit der westlich orientierten Aufnahmegesellschaft zwingt, sondern
selbstverständlicher Bestandteil einer pluralistischen Gesellschaft
werden lässt. Die hiermit vorliegenden Befunde geben ein deutliches
Zeugnis dieses Bemühens und belegen, wie intergenerativer Wandel
trotz Bewahrung der muslimischen Identität in der türkischen
Community in Deutschland abläuft.
Für die Organisationen der Muslime stellt sich
damit die Herausforderung, den Wandel theologisch, aber auch institutionell
zu begleiten. Längst sind sie nicht mehr nur für die religiöse
Betreuung der Gläubigen zuständig, sondern haben soziale
und gesellschaftliche Aufgaben der muslimischen Community übernommen.
Doch kennt der Islam anders als die christlichen Kirchen keine hierarchische
Organisationsstruktur. Es existieren kein Klerus, keine Bischöfe,
keine religiöser Führer oder oberstes Gremium und keine
zentrale Lehrautorität, deren Verlautbarungen für die
Gläubigen verbindlich sind. Darüber hinaus ist im Islam
die Individualität des Gläubigen sehr viel ausgeprägter
als im Christentum: Es existieren keine formale Mitgliedschaft und
keine formalen Aufnahmeriten wie die christliche Taufe oder die
Konfirmation bzw. Kommunion, sondern man gehört dem Islam aufgrund
des persönlichen Bekenntnisses an. Allerdings trennt der Islam
nicht Sakrales und Profanes, die Religion spielt eine zentrale Rolle
im Alltag der Menschen. Die vorliegende Studie kann als Orientierungshilfe
in dem Entwicklungsprozess dienen, indem sie die Veränderungen
in der Einstellungen und Lebensweisen der Muslime in Deutschland
vor Augen führt. Mit der Untersuchung sollen die verschiedenen
Facetten des religiösen Alltagslebens der türkischen Migranten,
der Grad der Religiosität, die Bedeutung der Einhaltung muslimischer
Vorschriften und die Organisationsstrukturen untersucht werden.
Dabei stehen mögliche Differenzen der unterschiedlichen Generationen
im Vordergrund der Analyse. Durch den Vergleich mit einer ähnlichen
Studie aus dem Jahr 2000 können Entwicklungen aufgezeigt werden.
Die Organisationsstrukturen der Muslime in Deutschland
Zunächst bildeten sich in den 70er Jahren in
Deutschland Moscheevereine und religiöse Organisationen nach
den Vorbildern in den Heimatländern, die sich auf die religiöse
Betreuung der scheinbar nur kurzfristig in der Diaspora lebenden
Gläubigen kümmerten und deren Orientierung auf die Heimatländer
ausgerichtet war. Die Ausübung des Islam fand in Hinterhofmoscheen
und wenig sichtbar für die deutsche Gesellschaft statt. Seit
den 80er Jahren übernahmen die Moscheevereine mehr und mehr
soziale und gesellschaftliche Aufgaben sowie weltliche Beratungsdienste,
die sich auf das Leben der Muslime in Deutschland beziehen und dem
dauerhaften Verbleib der Gläubigen in Deutschland Rechnung
tragen. Inzwischen existieren in der Bundesrepublik rund 2.600 Moscheegemeinden,
von denen die überwiegende Mehrheit an türkisch-muslimische
Dachorganisationen aufgrund infrastruktureller Vorteile (Bereitstellung
eines ausgebildeten Imams, Bereitstellung von schriftlichem Material,
Hilfe bei bürokratischen Schwierigkeiten) und gleichgerichtetem
Islamverständnis angeschlossen sind. Es existieren auch eine
Reihe von Gemeinden, die keiner übergreifenden Organisation
angehören. Die Nutzung der insbesondere von den Moscheevereinen
angebotenen Dienstleistungen und Freizeitangebote sagt letztlich
nichts über die auch ideelle Zugehörigkeit einer Familie
zu dem Moscheeverein, dessen Dienstleistungen sie annimmt, aus,
da es eben keine zwingende formale Mitgliedschaft gibt.
Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland haben
keinen offiziellen Rechtsstatus als Religionsgemeinschaft inne,
der sie berechtigt, Schulen zu eröffnen und zum Beispiel karitative
und soziale Aktivitäten mit finanzieller Unterstützung
des Staates anzubieten. Um aber in Deutschland ihre Interessen im
demokratischen System vertreten zu können, haben sich die Muslime
auf verschiedenen Ebenen organisiert. Neben zahlreichen Einzelorganisationen
bestehen Dach- und Spitzenverbände. Bei den Zusammenschlüssen
ist zu differenzieren zwischen der Zusammensetzung der Mitglieder
(herkunftshomogen oder herkunftsheterogen) und der Organisationsebene.
Neben bundes- oder auch europaweit aktiven Dachorganisationen, deren
Zentralen sich in den meisten Fällen in Deutschland befinden,
gibt es regionale und auch lokale Zusammenschlüsse muslimischer
Selbstorganisationen. Sie nehmen jeder für sich in Anspruch,
auf der jeweiligen Ebene die Muslime gegenüber der Mehrheitsgesellschaft
zu vertreten, führen aber zugleich teilweise harte Kontroversen
untereinander. Da berücksichtigt werden muss, dass das Selbstverständnis
dieser Organisationen nicht demjenigen klassischer Vereine in Deutschland
entspricht, bei denen sich Tätigkeit und Verantwortung auf
die eindeutig definierte Zahl von Mitgliedern beschränken,
sondern sie eher in der Tradition der islamischen Stiftungen stehen,
deren Angebote für alle offen sind, ist die Inanspruchnahme
der Interessenvertretung für alle Muslime durch die Dachverbände
doch problematisch.
Die Moscheevereine decken ein weites Spektrum mit
unterschiedlichen politischen, kulturellen, berufsständischen,
landsmannschaftlichen und religiösen Aufgaben und Zielsetzungen
ab. Daneben stellen sich eine Vielzahl der Vereine in politischer
Hinsicht wesentlich moderater dar, die radikalen Töne sind
in der öffentlichen Darstellung entschieden leiser geworden,
fast alle Gruppen signalisieren Dialogbereitschaft mit den deutschen
Stellen, wenden sich gegen fundamentalistische oder islamistische
Bestrebungen und betonen eine integrationspolitische Zielsetzung.
In der Regel bieten die Vereine neben Korankursen
und Religionsunterricht geistliche Betreuung in Einzelfällen,
sie begleiten und organisieren Beisetzungen, Hochzeiten, Beschneidungen
und Pilgerfahrten, sie bieten Fortbildungskurse, Freizeit- und Sportangebote,
soziale Beratung und kulturelle Angebote sowie Informationsveranstaltungen
zu unterschiedlichen Themen an. Hier ein Überblick über
die wichtigsten religiösen Verbände:
Türkisch-Islamische Union der Anstalt für
Religionen e.V. / Diyanet Isleri Türk Islam Birligi (DITIB)
Die DITIB wurde erst 1985, also 24 Jahre nach dem
Anwerbeabkommen mit der Türkei auf Initiative der Diyanet,
dem „Staatlichen Präsidium für religiöse Angelegenheiten“
, das sich streng an der laizistische Staatsordnung der Türkei
orientiert und die religiöse Infrastruktur in der Türkei
organisiert, gegründet. Damit reagierte der türkische
Staat auf die Situation, dass sich in der Bundesrepublik zahlreiche
religiöse Vereine, z.T. mit Unterstützung radikaler Gruppen
aus der Türkei, um die religiösen Belange der Türken
kümmerten und dabei auch antilaizistische und antikemalistische
Haltungen vertraten. Die Union ist derzeit die mitgliederstärkste
islamische Organisation. Sie arbeitet eng mit dem „Amt für
religiöse Angelegenheiten“ (DIYANET) der Türkei
zusammen. Der derzeitige Vorsitzende der DITIB ist zugleich auch
Botschafter für religiöse Angelegenheiten der Republik
Türkei in Berlin. Daneben gibt es an den Konsulaten Attaches
für religiöse Angelegenheiten, die eine Dienstaufsichtsfunktion
über die von DIYANET abgestellten Imame im Konsulatsbezirk
ausüben. Die Union vertritt die offizielle laizistische Grundhaltung
zum Verhältnis von Staat und Islam und agiert in diesem Rahmen
in der Bundesrepublik, d.h. ihre religiöse Haltung entspricht
weitgehend derjenigen der offiziellen türkischen Staatspolitik.
Die einzelnen Mitgliedsvereine sind rechtlich selbständige
eingetragene Vereine ebenso wie DITIB selbst. Es gibt somit keine
hierarchische Vereinsorganisation, sondern eine dezentrale Struktur.
DITIB sieht sich als offizieller Ansprechpartner bezüglich
der türkischen Muslime in Deutschland und setzt sich für
Integration und Freizügigkeit innerhalb der EU ein. Die Arbeit
der Mitgliedsorganisationen finanziert sich weitgehend durch Spenden.
Die Imame werden als Staatsbeamte vom türkischen Staat entsandt
und bezahlt. Daraus ergibt sich die Problematik, dass sie sich turnusmäßig,
d.h. höchstens vier Jahre, in Deutschland aufhalten und danach
wieder abgelöst werden.
Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG)
Die IGMG ist nach DITIB die zweitgrößte
muslimische Gemeinschaft in Deutschland mit Sitz in Köln. Gleichwohl
sind in den diesem Verband zugehörigen Vereinen nur etwa 8%
der Moscheevereinsmitglieder in Deutschland organisiert. Der Verfassungsschutz
gibt die Zahl der Mitglieder mit 26.500 an. Die IGMG wird seit einigen
Jahren beobachtet und als verfassungsfeindlich eingestuft. Nach
eigenen Angaben lehnt IGMG jegliche Gewalt ab und versucht, sich
als Dialogpartner der deutschen Stellen zu etablieren.
Die IGMG ging aus dem 1976 gegründeten und 1983
in „Islamische Union Europas“ umbenannten Verein „Türkische
Union Europas“ hervor. Unter dem heutigen Namen firmiert die
Gemeinschaft seit 1995. Die IGMG wird als Auslandsorganisation der
türkischen Refah-Partei (Wohlfahrtspartei) ansehen, deren derzeitiger
Vorsitzender Necmettin Erbakan ist. Die heutige Regierungspartei
AKP hat sich von der Refah-Partei abgespalten, aufgrund der gemeinsamen
Wurzeln bestehen enge Kontakte zwischen der AKP und der IGMG. Die
Imame, in der Regel in der Türkei ausgebildet, werden durch
Spenden der Vereinsmitglieder bezahlt. Ein wichtiger Arbeitsbereich
des Verbandes ist die Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche.
Der Verband führt flächendeckend Wochenend- und Ferienfreizeiten
durch, die für Jungen und Mädchen, nach Geschlechtern
getrennt, angeboten werden. In Bergkamen besteht eine Internatskoranschule
für Mädchen, in Köln unterhält der Verband eine
Akademie. Journalistische Stimme von IGMG ist die „Milli Gazete“.
Seit Mitte der 80er Jahre ist die IGMG bemüht, mit allen Organisationen
der türkischen Bevölkerung in Deutschland freundschaftlichen
Kontakt zu pflegen.
Dabei wird die Rolle des Islam als identitätsstiftender
Faktor für die Mitglieder betont. Die gesellschaftliche Zielvorstellung
ist die Wahrung der islamischen Identität und damit eine Integrationsvorstellung,
die eine kulturelle Verschmelzung ablehnt. Zugleich ist aber der
Kontakt zu den christlichen Kirchen und Öffentlichkeitsarbeit
in der Aufnahmegesellschaft ein zentraler Teil des Selbstverständnisses.
Verband der islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ)
/ Islam Kültür Merkezleri Birligi
Der VIKZ geht zurück auf die 1967 gegründete
„Türkische Union“, die nach 1973 ihre Aktivitäten
als „Islamisches Kulturzentrum“ fortführte und
deren Gemeinden sich 1980 zum „Verband der islamischen Kulturzentren“
zusammenschlossen. Der VIKZ war der erste Verband, der sich - schon
in den 60er Jahren - für die Schaffung einer gemeinsamen Bewegung
auf Bundesebene einsetzte. Während sich die Veröffentlichungen
des Verbandes früher gegenüber der deutschen Gesellschaft
abgrenzten, signalisieren sie seit den 90er Jahren Dialogbereitschaft.
Heute betont der VIKZ seine integrative Orientierung. Der VIKZ zeichnet
sich durch eine zentralistische Organisationsstruktur aus, womit
die einzelnen Moscheegemeinden Zweigstellen der Zentrale in Köln
und keine rechtlich selbständigen Organisationen sind.
Auch der VIKZ bemüht sich vorwiegend um die Jugendlichen.
Im Vordergrund steht hierbei die Wahrung einer islamischen Identität
der Jugendlichen. Der Verband gehörte bis zum Jahr 2000 zu
den Mitgliedern des islamischen Spitzenverbandes „Zentralrat
der Muslime in Deutschland“ (ZMD) und bildete seinen stärksten
Einzelverband. Seit dem Ausscheiden aus dem ZMD ist beim VIKZ ein
Rückzug aus dem interreligiösen Dialog zu beobachten.
Islamische Gemeinschaft Jama’at un-Nur e.V.
Sie existiert in Deutschland seit 1967. Die Nurculuk-
Bewegung versteht sich als religiöse Reformbewegung, die moderne
Technologie und Islam miteinander verbinden will. Mittlerweile gehören
ihr bundesweit ca. 40 Medresen (theologische Ausbildungsstätten)
an. Im Gegensatz zu den meisten islamischen Verbänden haben
die Medresen keine Imame, da sie nicht als Moscheen angelegt sind.
Die Organisationsstruktur des Verbandes unterscheidet sich von der
anderer muslimischer Verbände: Die Gesamtleitung der Bewegung
liegt bei einer Arbeitsgemeinschaft „gleichberechtigter Brüder“
in Istanbul. Die einzelnen Medresen, auch in Deutschland, arbeiten
weitgehend selbständig. Wichtige Entscheidungen werden von
einem länderbezogenen Beratungsgremium (mesveret) getroffen.
Der Verband versteht sich nicht als konkurrierende Organisation
zu den Moscheen. Die Hauptzielgruppe der Nurculuk-Bewegung sind
die in Deutschland aufwachsenden Jugendlichen. Durch die intellektuelle
Auseinandersetzung zwischen göttlichem Willen und technischem
und wissenschaftlichem Fortschritt will man sie in ihrem Glauben
stärken oder für diesen zurückgewinnen. Die Jama’at
un-Nur verfügt über sehr gute Kontakte zu anderen islamischen
Gruppierungen und betreibt eine dialogorientierte Politik, beispielsweise
durch die Zusammenarbeit mit kirchlichen Organisationen. Sie ist
Mitglied im Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, einem
der beiden islamischen Spitzenverbände.
Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine
in Europa e.V./Avrupa Demokratik Ülkücü Türk
Dernekleri Federasyonu (ADÜTDF)
Der Verein wurde 1978 in Frankfurt/M. gegründet.
Er verfolgte zunächst eine nationalistisch-pantürkische
Ideologie mit einer starken Betonung der vorislamischen Geschichte
und Kultur der Türken. Durch die Arbeit in der Diaspora und
in Reaktion auf den Militärputsch in der Türkei 1980 wandte
sich der Verein einer verstärkten Betonung des islamischen
Elements zu. Dennoch besteht im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten
islamischen Vereinen eine nach wie vor stärkere Betonung des
nationalistischen Elements, was der Organisation eher einen politischen
als religiösen Charakter gibt.
Türkisch-Islamische Union in Europa/Avrupa Türk
Islam Birligi (ATIB)
Die ATIB hat sich von der ADÜTDF abgespalten
und legt ihr Schwergewicht eher auf eine Synthese zwischen türkischem
Nationalismus und Islam, wobei dem Islam mehr Raum beigemessen wird
als bei der ADÜTDF. Der ATI•B sind eigenen Angaben zufolge
bundesweit 123 Vereine angeschlossen. Die Zahl der Mitglieder wird
mit 11.500 angegeben. Die Imame der von der ATIB betriebenen Moscheen
sind teilweise Religionsbeamte der türkischen Anstalt für
religiöse Angelegenheiten.
Vereinigung der Aleviten-Gemeinden e.V. / Avrupa Alevi
Birlikleri Federasyonu (AABF)
AABF reicht in ihren Anfängen in die beginnenden
90er Jahre zurück. Alevitische Vereine wurden verstärkt
ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre gegründet. Bereits
1991 wurde ein Vorläufer des heutigen Dachverbandes gegründet.
Die offizielle Gründung der Föderation erfolgte 1993 unter
der Bezeichnung „Föderation der Aleviten-Gemeinden in
Europa“. Im Zuge des raschen Anstiegs der Mitgliedsvereine
wurde am Ende der 90er Jahre der Verband neu organisiert und in
eine Konföderation umgewandelt Der AABF begreift das Alevitentum
als eigenständige Religionsgemeinschaft, die zwar ihre Wurzeln
auch im Islam hat, sich davon jedoch weiterentwickelt hat. Der Verband
bemüht sich - in vier Bundesländern erfolgreich - alevitischen
Religionsunterricht neben islamischem zu erteilen, da alevitische
Religionsinhalte nach seiner Ansicht im islamischen Religionsunterricht
zu wenig Berücksichtigung finden. Eines der wichtigsten Ziele
des Vereins ist die Vermittlung alevitischer Religionsinhalte an
alevitische Jugendliche. Außerdem geht es dem Verein darum,
Vorurteile bei Aleviten und Nicht-Aleviten zu bekämpfen, um
besonders die Identitätsfindung alevitischer Jugendlicher zu
unterstützen. Die Föderation steht hinter den laizistischen,
rechtsstaatlichen Grundlagen des türkischen Staates und den
Menschenrechten. Sie nimmt Menschen aus allen Gruppen und Religionsgemeinschaften
auf. Entsprechend der alevitischen Tradition und Lehre betreiben
die Vereine keine Moscheen, sondern als „Cem evi“ bezeichnete
Gebets- und Versammlungsstätten. Zur Aufnahmegesellschaft hat
die Vereinigung von Anfang an sehr gute Kontakte.
Eine weitere Organisation, die versucht, als alevitischer
Dachverband zu organisieren, ist die Cem-Stiftung bzw. das „Republikanische
Stiftungszentrum für Bildung und Kultur“ (Cumhuriyetçi
Egitim ve Kültür Merkezi Vakfi). Sie entstand als Ableger
einer gleichnamigen Stiftung in der Türkei. Dort ist die Organisation
darum bemüht, dass die alevitische Glaubenslehre als eigenständige
Konfession innerhalb des Islam vom Staat anerkannt und entsprechend
berücksichtigt wird. Der deutsche Zweig wurde 1996 gegründet.
Die Spitzenverbände
Mit dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD)
und dem Islamrat existieren zwei konkurrierende Dachverbände
der Muslime in Deutschland. Allerdings ist der größte
Verband - DITIB - keinem der beiden Dachverbände angeschlossen.
DITIB versteht sich selbst aufgrund seiner Größe und
Bedeutung als legitimer Interessenvertreter der Muslime in Deutschland,
obwohl er kein klassischer Dachverband ist, so dass drei Verbände
um den Vertretungsanspruch der Muslime in Deutschland konkurrieren.
Beim ZMD wird auch am Namen erkennbar, dass er - ähnlich
wie der Zentralrat der Juden in Deutschland - als Repräsentant
und Ansprechpartner für alle bzw. einen größeren
Teil der Muslime in Deutschland angesehen werden möchte. Der
ZMD entstand im Dezember 1994 und ging aus dem 1989 gegründeten
„Islamischen Arbeitskreis in Deutschland“ hervor. Im
Zentralrat der Muslime sind derzeit 19 Organisationen Mitglied.
Neben Dachverbänden und Einzelorganisationen, die bundesweit
tätig sind, gehören auch einzelne lokale islamische Zentren
zu den Mitgliedern. Eine deutliche Schwächung hat der ZMD durch
den Austritt des Verbandes der islamischen Kulturzentren (VIKZ)
im Jahr 2000 hinnehmen müssen. Weitere Dachverbände des
ZMD sind die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine (ATIB),
die Vereinigung islamischer Gemeinden der Bosniaken in Deutschland
und die Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland.
Auf eine Initiative des ZMD geht der „Tag der offenen Moschee“
zurück, der jährlich am 3. Oktober durchgeführt wird
und Außenstehenden die Möglichkeit geben soll, Moscheen
zu besuchen und kennen zu lernen.
Die Entstehung des Islamrat für die Bundesrepublik
Deutschland datiert auf das Jahr 1986. Durch die Gründung sollte
eine bundesweite Koordinierungsinstanz und ein gemeinsames Beschlussorgan
islamischer Organisationen geschaffen werden. Mitglied des Islamrates
sind derzeit 17 islamische Bundesverbände, zehn Landesverbände
sowie zehn regionale und lokale Vereinigungen. Der stärkste
Mitgliedsverband des Islamrates ist die Islamische Gemeinschaft
Milli Görüs (IGMG). Als Spitzenverband sind im Islamrat
Muslime unterschiedlicher Herkunft organisiert. Der Islamrat möchte
als Interessenvertretung der Muslime in Deutschland angesehen werden,
der diese religiös, sozial und kulturell betreut. Bisher wurde
keiner der Dachverbände von den deutschen Verantwortlichen
als alleiniger Ansprechpartner beispielsweise bei der Frage der
Erteilung von islamischem Religionsunterricht anerkannt. Daher streben
die Verbände seit einiger Zeit an, enger zusammen zu arbeiten
oder sich zusammmen zu schließen, um den Anforderungen der
Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden. Doch bisher ist der Zusammenschluss
noch nicht gelungen.
Fazit
Trotz der im Vergleich zum Jahr 2000 gestiegenen Religiosität
und der Neigung zu konservativeren Einstellungen besteht unter den
türkischstämmigen Migranten keine zunehmende Gefahr der
Fundamentalisierung oder einer steigenden Unterstützung doktrinärer
Organisationen. Doch haben Religion und religiöse Riten eine
gleich bleibend hohe Bedeutung, die nicht nur eine religiöse,
sondern auch eine kulturell-gesellschaftliche Ebene berührt.
Auch die junge Generation und weniger religiöse Migranten halten
an bestimmten Riten und Handlungen als Teil der kulturellen Identität
fest. Insbesondere das Fasten, die Armutssteuer (Zekat), die Beteiligung
am Opferfest und die Einhaltung der Speisevorschriften werden relativ
unabhängig von der Eigendefinition als religiös oder nichtreligiös
und von einer deutlichen Mehrheit praktiziert. Regelmäßiges
Beten, der häufige Moscheebesuch und die Absicht auf eine Wallfahrt
sind hingegen eher Zeichen für eine ausgeprägtere Religiosität,
die bei höherem Alter und geringerer formaler Bildung stärker
ausgebildet ist.
Moscheen sind jedoch nicht nur Ort für Gebete.
Die sozialen und kulturellen Angebote werden von zahlreichen Muslimen
in Anspruch genommen, nicht nur solchen, die sich religiös
definieren. Neben religiöser Betreuung und Korankursen werden
vor allem Freizeitangebote und Räumlichkeiten für Feste
genutzt. Insgesamt sind 23% der türkischstämmigen Muslime
in Moscheevereinen organisiert. Festzustellen ist eine zunehmende
Polarisierung und Differenzierung innerhalb der muslimisch-türkischen
Community, die sich in der Religiosität, aber auch bei den
persönlichen Einstellungen zeigt. Dennoch weist die überwiegende
Mehrheit der türkischstämmigen Muslime eine moderate Einstellung
auf, der Kopftuchzwang wird von der Hälfte und getrennter Sportunterricht
von mehr als zwei Dritteln abgelehnt. Die Trennung von Staat und
Religion wird in hohem Maß befürwortet, wobei das türkische
Modell der staatlichen Organisation des religiösen Lebens große
Unterstützung erfährt. Orthodoxe Organisationen haben
kaum Zulauf, doch üben sie offenbar auf die junge Generation
eine gewisse Anziehungskraft aus. Junge Muslime sind einerseits
deutlich religiöser als vor fünf Jahren, organisieren
sich jedoch andererseits seltener als damals. Doch wenn sie sich
einem Verband anschließen, dann überproportional in doktrinären
Gruppierungen. Dennoch kann man bei 2% IGMG-Mitgliedern und ebenso
vielen VIKZ-Mitgliedern unter den jungen Migranten nicht von einer
breiten Fundamentalisierung sprechen. Doch darf die Gruppe insbesondere
der jungen Migranten, die sich zu doktrinären Organisationen
hingezogen fühlen und eine sehr konservative Meinung aufweisen,
nicht übersehen werden. Hier gilt es jedoch, sich konstruktiv
auseinander zu setzen und die Jugendlichen nicht durch Ausgrenzung
und Druck verstärkt in eine freiwillige Segregation zu drängen.
Die Landschaft religiöser Organisationen, in
denen knapp ein Viertel der Migranten über eine Mitgliedschaft
organisiert ist, wird heute wie vor fünf Jahren eindeutig durch
DITIB dominiert, drei Viertel der Moscheevereinsmitglieder gehören
Verbänden der DITIB an, 8% der Organisierten sind bei IGMG
und 6% beim VIKZ. Der religiöse Organisationsgrad und die Bedeutung
der Organisationen bezüglich der Mitglieder sowie der Repräsentation
der Einstellungen auch der Nichtorganisierten haben sich kaum verändert,
auch bei Letzterem dominiert DITIB gefolgt mit großem Abstand
vor IGMG und dem AABF. Zugenommen hat jedoch der Anteil derer, die
sich durch keinen Verband in ihren Einstellungen repräsentiert
fühlen und der heute bei 24% liegt. Dennoch wünschen sich
fast zwei Drittel einen Zusammenschluss der verschiedenen Verbände
zu einem Gesamtverband. Durch diesen könnten die Muslime im
politisch-gesellschaftlichen System der Bundesrepublik besser und
effektiver vertreten werden, da sich Politik und Verwaltung mit
der nichthierarchischen Organisationsstruktur des Islam schwer tun.
Die überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Muslime
wünscht sich islamischen Religionsunterricht an den Schulen,
auch solche, die sich nicht selbst religiös definieren. Die
Verantwortung wünscht man in den Händen einer Dreier-Kommission
aus deutschen Schulbehörden, Islamischen Gemeinden in Deutschland
und Vertretern des türkischen Staates. Dies belegt ebenfalls,
dass die Religion und die religiöse Erziehung der Kinder für
die türkischstämmigen Migranten eine große Bedeutung
hat, man sich aber auch vor fundamentalistischen Einflüssen
über die Einbeziehung der deutschen Schulbehörden und
des türkischen Staates schützen möchte.
Obwohl das Zusammenleben der muslimischen Minderheit
mit der christlichen Mehrheit aus der Perspektive der Muslime nur
für wenige ein Problem darstellt und im Allgemeinen den Deutschen
ein großes Maß an Verständnis bescheinigt wird,
ist diese Wahrnehmung bei den jungen Muslimen nicht ganz so positiv
ausgeprägt. Die deutsche Gesellschaft sollte weitere Anstrengungen
unternehmen, um die kleine Gruppe insbesondere der jungen Migranten,
die insbesondere in Verbindung mit sozialer Desintegration Gefahr
laufen könnte, in fundamentalistische oder radikale Gruppen
abzurutschen, mit ihrem Glauben zu akzeptieren und zu integrieren,
anstatt sie durch Ausgrenzung oder überzogenen Assimilierungsforderungen
weiter in die Isolation zu drängen.
Die muslimischen Organisationen sind aufgefordert,
stärker zusammen zu arbeiten und am politisch-gesellschaftlichen
Leben in Deutschland zu partizipieren. Zugleich sollten sie bei
ihren Mitgliedern und Anhängern für die Orientierung auf
das neue Heimatland werben und dafür eintreten, sich - unter
Beibehaltung der religiösen und kulturellen Eigenständigkeit
- als Teil der deutschen Gesellschaft zu begreifen.
Stiftung Zentrum für Türkeistudien, Institut an der Universität
Duisburg-Essen, Altendorfer Straße 3, 45127 Essen, Tel. 0201/31
98-0, Fax 0201/31 98-333, info@zft-online.de, www.zft-online.de
|
|
|
Netzbrücke:
• Necati Merts Kolumne
• Mehr lesenswertes
Textmaterial
• Wider den Schwarzen Winter
• Porträt des Periodikums
|
|