XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
24.10.2006

 
 

 

 
 

 

 

Autobiographie

von Nazim Hikmet

   
 
 

1902 kam ich zur Welt.
An meinen Geburtsort kam ich nie wieder,
         ich kehre nicht gern um.
Mit drei Jahren war ich in Aleppo Pascha-Enkel,
mit Neunzehn Student an der Kommunistischen Universität Moskau,
mit Neunundvierzig wiederum in Moskau als ZK-Gast der Partei,
und seit meinem vierzehnten Lebensjahr schmiede ich Verse.
Mancher Mensch kennt die Arten der Gräser,
                  mancher die der Fische,
                          ich die Eigenart des Lebewohls.
Manche wissen die Namen der Sterne auswendig,
                                         ich zähle die der Sehnsüchte.
In Kerkern saß ich und übernachtete auch in Grand-Hotels,
hielt Hunger aus, Hungerstreiks inbegriffen,
           und es gibt kaum Speisesorten, die ich nicht kostete.
Mit Dreißig wollte man mich hängen,
mit Achtundvierzig mir den Friedenspreis verleihen,
                                     den ich auch erhielt.
Mit Sechsunddreißig legte ich in einem halben Jahr
                    den vier Quadratmeter Beton zurück.
Mit Neunundfünfzig flog ich von Prag nach Havanna
                                     binnen von achtzehn Stunden.
Lenin habe ich nicht mehr erlebt,
hielt doch 1924 Wache an seiner Bahre,
seine Bücher sind das Ehrenmal,
                             das ich 1961 besuchte.
Man wollte mich von meiner Partei trennen,
                                                ist danebengegangen,
unter stürzenden Götzen wurde ich auch nicht überwältigt.
1951 fuhr ich mit einem jungen Freund auf dem Meer
                                                  dem Tod entgegen,
            lag 1952 vier Monate auf dem Rücken,
                                       wartete mit einem Herzriß auf den Tod.
Wie verdreht war ich eifersüchtig auf die Frauen, die ich liebte,
habe Chorlot aber nicht im geringsten beneidet.
Ich betrog meine Frauen,
doch sprach hinterrücks über meine Freunde nicht.
Ich trank, ohne Trinker geworden zu sein,
bin stolz,
          mein Brot im Schweiße meines Angesichts verdient zu haben.
Ich schämte mich für andere und mußte lügen,
habe gelogen, um andere nicht zu quälen,
aber auch ohne ersichtlichen Anlaß habe ich gelogen.
Im Zug reiste ich, im Auto und Flugzeug,
                                                die Meisten können das nicht,
Ich ging in die Oper,
                            die Meisten können das nicht,
haben von der Oper nicht eine dem Namen nach gehört,
seit 1921 vermeide ich aber die Stätten,
                                                      welche die Mehrheit besucht:
Moscheen und die Kirchen,
           Tempel und Synagogen und Hexenmeister,
doch hin und wieder ließ ich mir den Kaffeesatz deuten.
Meine Bücher erscheinen in dreißig bis vierzig Sprachen,
sind in meiner Türkei in meinem Türkisch verboten.
An Krebs erkrankte ich bisher nicht,
           was auch nicht unbedingt sein muß.
Premier oder dergleichen werde ich durchaus nicht,
                     es liegt mir auch nichts daran.
Fernerhin erlebte ich den Krieg nicht,
mußte um Mitternacht nicht in die Luftschutzräume flüchten
                     und auch nicht die Flucht ergreifen
                                         unterm Beschuß von Stukas,
gegen Sechzig aber habe ich mich verliebt.
Kurzum, Genossen,
sollte ich heute hier in Berlin vor Kummer zugrunde gehen,
kann dennoch behaupten,
ich habe menschlich gelebt auf dieser unserer Erde.
Wer weiß,
             wie lange ich noch zu leben
             und was ich noch alles zu erleben habe.

11. September 1961, Ostberlin


   

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