XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
24.10.2006

 
 

 

 
 

 

 

Gegenwart der Geschichte




   
 
 

Mord in Deiderode

Von Heinz Jürgen Furian


Im Spätsommer 1944 kam es im Raum südlich von Göttingen zu einem kurzen, heftigen Luftkampf. Einige amerikanische Bombenflugzeuge wurden von deutschen Jagdfliegern angegriffen. Einer der Bomber geriet in Brand und stürzte in die Wälder zwischen den Dörfern Dramfeld und Deiderode. Über der Feldmark von Deiderode, in Sichtweite der kleinen Kirche, schwebten zwei Männer an Fallschirmen dem Erdboden entgegen.

In Deiderode, einer verschlafenen 100-Seelen-Gemeinde, hatte der Krieg bis dahin keine sichtbaren Zerstörungen verursacht. Aber der täglich über den Großdeutschen Rundfunk geschürte Haß gegen die „anglo-amerikanischen Terrorflieger“ brodelte in den Köpfen. Angesichts der zwei Fallschirme über der Feldmark steigerte sich der Haß augenblicklich zu kollektiver Mordgier. Mit Äxten und Jagdflinten bewaffnete Bauern, Greise mit geschulterten Mistgabeln, knüppelschwingende Frauen in Holzpantinen und Kittelschürzen rotteten sich in wenigen Minuten zur Treibjagd zusammen. Begleitet vom Gekläff der Hunde, hastete der Pöbel den steinigen Feldweg entlang, der zur Landestelle der beiden Fallschirmspringer führen mußte. Auch die Kinder wollten mitlaufen, wurden jedoch mit scharfen Worten zurückgescheucht.

Alles, was dann geschah, blieb fortan im Dunkel einer das ganze Dorf beherrschenden Verschwörung des Schweigens. Ich kam nach Deiderode, als diese Ereignisse bereits einige Tage zurücklagen. Mein Bruder Wilfried, damals gerade sechs Jahre alt, konnte mir nicht viel erzählen, denn er war nach Hause geschickt morden, als die Hatz begann. Alle Erwachsenen aber, ausnahmslos alle, wichen meinen Fragen aus. Auch meine Tante Eva, die sonst so tapfere Ehefrau eines von der Nazi Justiz inhaftierten Pfarrers, beugte sich in berechtigter Sorge um unsere Familie dem ländlich-schändlichen Schweigegebot: Junge, es ist besser, nicht darüber zu sprechen!

Einer der Amerikaner sei, dies wenigstens sagten mir mehrere Dorfbewohner, bereits tot gewesen. Er sei mit dem Kopf auf einem großen Stein aufgeschlagen. Einer war schon tot, beteuerten die Leute, als wäre dies eine Entschuldigung. Alles war nur halb so schlimm, einer war schon tot.

Und der andere? Ist er mit der Axt erschlagen, mit der Mistgabel durchbohrt, mit Knüppeln zu Tode geprügelt worden? Wer waren die Anführer, wer die Mittäter bei dieser Untat? War der Bürgermeister dabei, der zugleich Kirchenvorsteher und Mitglied der Nazipartei war? War der Gutsverwalter mit seinem Jagdgewehr dabei? War der Ortsbauernführer dabei, ein stiernackiger Gewaltmensch und rabiater Tierschinder? Hat etwa die ganze Meute, haben zehn oder zwanzig Männer und Weiber in tollwütiger Raserei auf den wehrlosen Fremden eingeschlagen, gestochen, gehackt, gemetzelt, bis nur ein Klumpen blutigen Fleisches in zerfetzter Montur übrig blieb?

Einer war nach dem Absprung schon tot, sagten die Leute. Zwei wurden in der hintersten Ecke des Dorffriedhofes hastig verscharrt, wie Mörder eben ihre Opfer zu verscharren pflegen. Kein Erdhügel machte die Grabstelle erkennbar. Bald wuchs Gras drüber.

Einige Bauersfrauen aber gingen zur Weihnacht 1944 stolz mit einer neuen Bluse zum Gottesdienst, einer Bluse aus amerikanischer Fallschirmseide. So gab es doch eine hübsche Erinnerung an den Mord im Spätsommer.


***


Die Bürde der Geschichte

Palästina – vom 19. Jahrhundert bis heute

Von Ali San


Es werden in der Palästinafrage mehrere voneinander unabhängige Geschichten erzählt. Geschichtsschreibung kann sowohl vom Unterdrücker als auch vom Unterdrückten praktiziert werden, zugleich kann Geschichte auch durch Hervorheben einzelner Ereignisse chronologisch aufgelistet werden. All diese können, solange sie der Gründe und Resultate in einem der Geschichte eine Dynamik verleihenden Charakter entbehren, nicht als historische Wahrheiten aufgefasst werden.


Palästina: Mandat des Typs A

Die wichtigste Phase der palästinensischen Geschichte beinhaltet die Periode am Anfang des 19. Jahrhunderts. In dieser Epoche versuchten das imperialistische Britannien und Frankreich die unter Osmanischem Reich verwalteten arabischen Territorien unter sich aufzuteilen. Diese Bemühungen dauerten bis zum Anfang des ersten Weltkrieges. Während des Krieges erklärte James Balfour in einer Regierungsdeklaration, dass die Regierung seiner Majestät in Palästina für das jüdische Volk eine Heimat schaffen und sie dafür ihr übriges tun würde.

Zum Ende des Krieges wurden die Territorien des osmanischen Reiches aufgeteilt. In den arabischen Gebieten wurden unter Bestätigung der Nationenvereinigung Mandate gegründet. In Palästina haben die Engländer im Jahre 1920 ein Mandat gegründet. Dies war ein Mandat des Typs A. Diese Kategorie wurde wie folgt beschrieben: „ihre Entwicklung kann als autonom existent bewertet werden“.

Die Mandatsinhaber hatten diese Länder zu verwalten, bis sie fähig waren sich selbst zu regieren. In der Absicht, diese Länder lange wie möglich auszubeuten, war über den Zeitpunkt der Reife dieser Völker zur Selbstverwaltung keinerlei Bemerkung zu erkennen. Unter dem Begriff des Mandats verschleierte sich die Fortsetzung des Kolonialismus mit einer anderen Bezeichnung. Churchill, seinerseits der Sekretär der britischen Kolonialverwaltung, behauptet in einer Erklärung aus dem Jahre 1921, „wir sind die Herren dieser Territorien“. Gemeint sind Palästina und Irak.

Palästina hatte in dem damaligen Tableau, das Großbritannien sich zurechtschmücken wollte, eine besondere Bedeutung. Palästina ist ein wichtiger Eckstein im Mittleren Osten. Es ist ein natürlicher und passender Hafen im östlichen Mittelmeer. Zwischen den Jahren 1917 bis 1930 war es eines der wichtigsten Anliegen des britischen Imperiums, diesen Hafen zu besitzen. Um dieses zu erreichen, hat man weitgehend nach Konzeptionen gesucht, die Araber und Juden gleichzeitig befrieden und befriedigen könnten. Ohne Ergebnisse.


Systematische Einwanderung

Bis Ende der 30er Jahre war man der Auffassung, dass eine Koexistenz beider Völker unter einem Staatsgefüge möglich wäre; jedoch suchte man aufgrund des Machtverlustes des britischen Imperiums in aller Welt, nach einer nachhaltigeren und sicheren Lösung. Um die Interessen des britischen Imperiums zu wahren und unter Mitwirkung der internationalen Finanz- und Machtzentren einen jüdischen Staat zu gründen, hatte man nun den richtigen Zeitpunkt gewählt. Die Juden wurden im Verlauf der Geschichte in den Gesellschaften, in denen sie lebten, ausgeschlossen und wegen ihres Glaubens unterdrückt. Im internationalen Plan haben Nationalismusbewegungen und Gründungen nationaler Staaten Mitte des 19. Jahrhunderts einen ideologischen Rahmen hervorgebracht, was die charakteristische Aussonderung derer, die nicht dazu gehörten, bezeichnete. Dies führte zum Nationgedanken der Juden, die in aller Welt zerstreut lebten. Sie waren auf der Suche nach einem Territorium, wo sie sich zugehörig empfinden würden. Diese Suche wurde zu einer Suche nach einem Nationalstaat. Die ideologische Basis dieses Nationalgedankens wurde zum Zionismus. Zion ist der Name eines heiligen Berges im alten Jerusalem. Zionismus ist also nichts anderes als das Ziel des jüdischen Volkes, als politisch autonomer Nationalstaat in seine alte Heimat zurückzukehren und seinen Staat Israel zu gründen.

Schon 1870 wurden Bestrebungen, Juden aus allen Herrenländern der Erde gezielt nach Palästina überzusiedeln, deutlich. Eine organisierte Übersiedlung begann damals. 1897 fand in Basel ein Judenkongress statt, dort wurde von Theodor Herzl zum ersten Mal der Gedanke des jüdischen Staates formuliert und in den folgenden Jahren wurden die Bodenkäufe der Juden in Palästina von internationalen Fonds unterstützt. In Palästina wurden jüdische Siedlungen und Kommunen eingerichtet.


UN Resolution 1947

Anfang des 20. Jahrhunderts lebten in Palästina 600-700 Tausend Araber und 60 Tausend Juden. Nach den ersten Siedlungswellen 1920 erlebt man eine Konzentration der Zuwanderung, die durch die Judenvertreibung aus Europa aufgrund der antisemitischen Haltung, durch die Kriege und Naziverfolgung, beschleunigt wird. Die jüdische Zuwanderung führt in den Jahren 1936-1939 zu einem großen Araberaufstand. Britannien bringt die Angelegenheit in die Tagesordnung der Vereinten Nationen. 1947 wurde Palästina durch UN Beschluss in einen jüdischen und arabischen Staat aufgeteilt. Jerusalem bekam einen Sonderstatus unter internationaler Garantie. Während die UN-Resolution seitens der Juden begrüßt wurden, nahmen die Araber diese Beschlüsse nicht an. In Folge dessen wurde damals nie der Araberstaat gegründet. Nach Abzug Britanniens aus Palästina wurde 1948 der Israelische Staat offiziell gegründet. Damit begann auch der Krieg. Israel, das alle militärischen und administrativen Gepflogenheiten des britischen Mandats übernommen hatte, gewann den Krieg und erweiterte seine territorialen Grenzen. Dies führte zur Spaltung und Polarisierung unterden Arabern, indem sie ihr Regime und ihre Schwächen in Frage stellten; was in der Folge zu einer Radikalisierung führte. Die Konsequenz war, dass es in Ägypten 1952 durch den Aufstand der „freien Offiziere“ unter der Führung Nassers zur Machtübernahme, in Irak zu Putsch, in Jordanien mit Gewalt zur Rettung der Monarchie und in Libanon zu Instabilität kam, während Israel sich schnell aufrüstete und eine die Differenzen in der Region und Araber als nicht existent wahrnehmende Siedlungspolitik im Inneren verfolgte. Unter der Unterstützung des Jüdischen Nationalfonds und der Judenagenda, die die Verbindung der Welt-Juden aufrecht erhielt, wurden Territorien aufgekauft, arabische Dörfer geleert und die Besatzungspolitik weitergeführt. Vier Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Israels hatte sich seine Bevölkerungszahl verdoppelt und diese Tendenz ging weiter. Während Anfang des Jahrhunderts eine Einwanderung aus Europa und Russland erfolgte, wurden die Siedlungstendenzen aus Asien und Nordafrika in den 50er Jahren dominanter.


Der arabisch-israelische Krieg 1967

Im Krieg 1967 eroberte Israel die Westbank, die Halbinsel Sinai und die Golanhöhen. Diese wurden ab nun als Besetzungsgebiete bezeichnet und die zweite große Einwanderungswelle nahm ihren Anfang. Vor dieser Phase der Entwicklung gründeten die Palästinenser mit der Absicht eine palästinensische Identität zu gewinnen, unter der Führung von Jassir Arafat (Abu Ammar) eine Organisation mit dem Namen „El-Fattah“, unter Beteiligung anderer Organisationen wurde 1964 die Widerstandsvereinigung Palästinian Liberation Organisation (PLO) ins Leben gerufen. Nach dem Krieg 1967 hat sich die PLO gespalten und es ergaben sich daraus Organisationen wie „Volksfront zur Rettung Palästina“ und „Demokratische Volksfront zur Rettung Palästinas“.


Intifada

1973 haben arabische Länder einen Krieg begonnen Israel aus den besetzten Gebieten herauszudrängen, die zum Rückzug der israelischen Armee führte. Ab 1974 begann die UN Jassir Arafat und die PLO als einzigen rechtmäßigen Vertreter des palästinensischen Volkes anzusehen. In dieser Periode entwickelte sich eher eine Politik um Israel aus den besetzten Gebieten herauszuwerfen und die unterschiedlichen Meinungsunterschiede innerhalb der PLO zu unterbinden und die Gründung eines palästinensischen Staates vorzubereiten. Als Israel aber 1982 begann den Libanon zu besetzen transferierte die PLO ihre Zentrale nach Tunesien. Ende 1987 begann der unter dem Namen Intifada bekannte und „Steine gegen Waffen - Widerstand“ der Palästinenser.

Aufgrund der Umwälzungen und der globalen Transformation, in einer ganz veränderten konjunkturellen Weltlage begann in den 90er die Geheimverhandlungen zwischen Israel und den PLO-Vertretern, der Gipfel von Madrid wurde realisiert. Der später als die Periode von Oslo bezeichnete „Friedensepoche“ brachte Jassir Arafat und Ihtzak Rabin den Nobelpreis, als 1994 die beiden unter der Schirmherrschaft von Clinton im Weißen Haus sich die Hände gaben. Dieses Zusammenkommen konnte jedoch keines der gravierenden Probleme eine Lösung bieten. Weder die Siedlungsfrage, Grenzproblematik, Sicherheitsfrage, Flüchtlinge, noch der Statut von Jerusalem oder die Armut konnten auf einen erfolgsversprechenden Lösungsweg gebracht werden. Stattdessen tendierte die Politik Israels nach Rechts und Rechtsaußen. Und es kam durch aufgestapelte Probleme und gegenseitiges Misstrauen zu dem heutigen Krieg und den Massakern.

Auch die heute als Lösung propagierte internationale Machtausübung wird die Problematik nicht an der Wurzel packen können, geschweige denn sie zu lösen. Denn genau dies ist das Problem selbst, denn der Imperialismus unterstützt seit jeher Israel als Vertreter seiner Interessen; dass dies als Lösung angesehen wird, kann keinesfalls die Konfliktherde zur Ruhe bringen oder sie entschärfen, es wird eher dazu führen, dass zusätzliche Faktoren in die Problematik hineingetragen, und das Ungleichgewicht in der Region für den Imperialismus nachhaltig verändert wird

   

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