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Mord in Deiderode
Von Heinz Jürgen Furian
Im Spätsommer 1944 kam es im Raum südlich von Göttingen
zu einem kurzen, heftigen Luftkampf. Einige amerikanische Bombenflugzeuge
wurden von deutschen Jagdfliegern angegriffen. Einer der Bomber
geriet in Brand und stürzte in die Wälder zwischen den
Dörfern Dramfeld und Deiderode. Über der Feldmark von
Deiderode, in Sichtweite der kleinen Kirche, schwebten zwei Männer
an Fallschirmen dem Erdboden entgegen.
In Deiderode, einer verschlafenen 100-Seelen-Gemeinde,
hatte der Krieg bis dahin keine sichtbaren Zerstörungen verursacht.
Aber der täglich über den Großdeutschen Rundfunk
geschürte Haß gegen die „anglo-amerikanischen Terrorflieger“
brodelte in den Köpfen. Angesichts der zwei Fallschirme über
der Feldmark steigerte sich der Haß augenblicklich zu kollektiver
Mordgier. Mit Äxten und Jagdflinten bewaffnete Bauern, Greise
mit geschulterten Mistgabeln, knüppelschwingende Frauen in
Holzpantinen und Kittelschürzen rotteten sich in wenigen Minuten
zur Treibjagd zusammen. Begleitet vom Gekläff der Hunde, hastete
der Pöbel den steinigen Feldweg entlang, der zur Landestelle
der beiden Fallschirmspringer führen mußte. Auch die
Kinder wollten mitlaufen, wurden jedoch mit scharfen Worten zurückgescheucht.
Alles, was dann geschah, blieb fortan im Dunkel einer
das ganze Dorf beherrschenden Verschwörung des Schweigens.
Ich kam nach Deiderode, als diese Ereignisse bereits einige Tage
zurücklagen. Mein Bruder Wilfried, damals gerade sechs Jahre
alt, konnte mir nicht viel erzählen, denn er war nach Hause
geschickt morden, als die Hatz begann. Alle Erwachsenen aber, ausnahmslos
alle, wichen meinen Fragen aus. Auch meine Tante Eva, die sonst
so tapfere Ehefrau eines von der Nazi Justiz inhaftierten Pfarrers,
beugte sich in berechtigter Sorge um unsere Familie dem ländlich-schändlichen
Schweigegebot: Junge, es ist besser, nicht darüber zu sprechen!
Einer der Amerikaner sei, dies wenigstens sagten mir
mehrere Dorfbewohner, bereits tot gewesen. Er sei mit dem Kopf auf
einem großen Stein aufgeschlagen. Einer war schon tot, beteuerten
die Leute, als wäre dies eine Entschuldigung. Alles war nur
halb so schlimm, einer war schon tot.
Und der andere? Ist er mit der Axt erschlagen, mit
der Mistgabel durchbohrt, mit Knüppeln zu Tode geprügelt
worden? Wer waren die Anführer, wer die Mittäter bei dieser
Untat? War der Bürgermeister dabei, der zugleich Kirchenvorsteher
und Mitglied der Nazipartei war? War der Gutsverwalter mit seinem
Jagdgewehr dabei? War der Ortsbauernführer dabei, ein stiernackiger
Gewaltmensch und rabiater Tierschinder? Hat etwa die ganze Meute,
haben zehn oder zwanzig Männer und Weiber in tollwütiger
Raserei auf den wehrlosen Fremden eingeschlagen, gestochen, gehackt,
gemetzelt, bis nur ein Klumpen blutigen Fleisches in zerfetzter
Montur übrig blieb?
Einer war nach dem Absprung schon tot, sagten die
Leute. Zwei wurden in der hintersten Ecke des Dorffriedhofes hastig
verscharrt, wie Mörder eben ihre Opfer zu verscharren pflegen.
Kein Erdhügel machte die Grabstelle erkennbar. Bald wuchs Gras
drüber.
Einige Bauersfrauen aber gingen zur Weihnacht 1944
stolz mit einer neuen Bluse zum Gottesdienst, einer Bluse aus amerikanischer
Fallschirmseide. So gab es doch eine hübsche Erinnerung an
den Mord im Spätsommer.
***
Die Bürde der Geschichte
Palästina – vom 19. Jahrhundert bis heute
Von Ali San
Es werden in der Palästinafrage mehrere voneinander unabhängige
Geschichten erzählt. Geschichtsschreibung kann sowohl vom Unterdrücker
als auch vom Unterdrückten praktiziert werden, zugleich kann
Geschichte auch durch Hervorheben einzelner Ereignisse chronologisch
aufgelistet werden. All diese können, solange sie der Gründe
und Resultate in einem der Geschichte eine Dynamik verleihenden
Charakter entbehren, nicht als historische Wahrheiten aufgefasst
werden.
Palästina: Mandat des Typs A
Die wichtigste Phase der palästinensischen Geschichte
beinhaltet die Periode am Anfang des 19. Jahrhunderts. In dieser
Epoche versuchten das imperialistische Britannien und Frankreich
die unter Osmanischem Reich verwalteten arabischen Territorien unter
sich aufzuteilen. Diese Bemühungen dauerten bis zum Anfang
des ersten Weltkrieges. Während des Krieges erklärte James
Balfour in einer Regierungsdeklaration, dass die Regierung seiner
Majestät in Palästina für das jüdische Volk
eine Heimat schaffen und sie dafür ihr übriges tun würde.
Zum Ende des Krieges wurden die Territorien des osmanischen
Reiches aufgeteilt. In den arabischen Gebieten wurden unter Bestätigung
der Nationenvereinigung Mandate gegründet. In Palästina
haben die Engländer im Jahre 1920 ein Mandat gegründet.
Dies war ein Mandat des Typs A. Diese Kategorie wurde wie folgt
beschrieben: „ihre Entwicklung kann als autonom existent bewertet
werden“.
Die Mandatsinhaber hatten diese Länder zu verwalten,
bis sie fähig waren sich selbst zu regieren. In der Absicht,
diese Länder lange wie möglich auszubeuten, war über
den Zeitpunkt der Reife dieser Völker zur Selbstverwaltung
keinerlei Bemerkung zu erkennen. Unter dem Begriff des Mandats verschleierte
sich die Fortsetzung des Kolonialismus mit einer anderen Bezeichnung.
Churchill, seinerseits der Sekretär der britischen Kolonialverwaltung,
behauptet in einer Erklärung aus dem Jahre 1921, „wir
sind die Herren dieser Territorien“. Gemeint sind Palästina
und Irak.
Palästina hatte in dem damaligen Tableau, das
Großbritannien sich zurechtschmücken wollte, eine besondere
Bedeutung. Palästina ist ein wichtiger Eckstein im Mittleren
Osten. Es ist ein natürlicher und passender Hafen im östlichen
Mittelmeer. Zwischen den Jahren 1917 bis 1930 war es eines der wichtigsten
Anliegen des britischen Imperiums, diesen Hafen zu besitzen. Um
dieses zu erreichen, hat man weitgehend nach Konzeptionen gesucht,
die Araber und Juden gleichzeitig befrieden und befriedigen könnten.
Ohne Ergebnisse.
Systematische Einwanderung
Bis Ende der 30er Jahre war man der Auffassung, dass
eine Koexistenz beider Völker unter einem Staatsgefüge
möglich wäre; jedoch suchte man aufgrund des Machtverlustes
des britischen Imperiums in aller Welt, nach einer nachhaltigeren
und sicheren Lösung. Um die Interessen des britischen Imperiums
zu wahren und unter Mitwirkung der internationalen Finanz- und Machtzentren
einen jüdischen Staat zu gründen, hatte man nun den richtigen
Zeitpunkt gewählt. Die Juden wurden im Verlauf der Geschichte
in den Gesellschaften, in denen sie lebten, ausgeschlossen und wegen
ihres Glaubens unterdrückt. Im internationalen Plan haben Nationalismusbewegungen
und Gründungen nationaler Staaten Mitte des 19. Jahrhunderts
einen ideologischen Rahmen hervorgebracht, was die charakteristische
Aussonderung derer, die nicht dazu gehörten, bezeichnete. Dies
führte zum Nationgedanken der Juden, die in aller Welt zerstreut
lebten. Sie waren auf der Suche nach einem Territorium, wo sie sich
zugehörig empfinden würden. Diese Suche wurde zu einer
Suche nach einem Nationalstaat. Die ideologische Basis dieses Nationalgedankens
wurde zum Zionismus. Zion ist der Name eines heiligen Berges im
alten Jerusalem. Zionismus ist also nichts anderes als das Ziel
des jüdischen Volkes, als politisch autonomer Nationalstaat
in seine alte Heimat zurückzukehren und seinen Staat Israel
zu gründen.
Schon 1870 wurden Bestrebungen, Juden aus allen Herrenländern
der Erde gezielt nach Palästina überzusiedeln, deutlich.
Eine organisierte Übersiedlung begann damals. 1897 fand in
Basel ein Judenkongress statt, dort wurde von Theodor Herzl zum
ersten Mal der Gedanke des jüdischen Staates formuliert und
in den folgenden Jahren wurden die Bodenkäufe der Juden in
Palästina von internationalen Fonds unterstützt. In Palästina
wurden jüdische Siedlungen und Kommunen eingerichtet.
UN Resolution 1947
Anfang des 20. Jahrhunderts lebten in Palästina
600-700 Tausend Araber und 60 Tausend Juden. Nach den ersten Siedlungswellen
1920 erlebt man eine Konzentration der Zuwanderung, die durch die
Judenvertreibung aus Europa aufgrund der antisemitischen Haltung,
durch die Kriege und Naziverfolgung, beschleunigt wird. Die jüdische
Zuwanderung führt in den Jahren 1936-1939 zu einem großen
Araberaufstand. Britannien bringt die Angelegenheit in die Tagesordnung
der Vereinten Nationen. 1947 wurde Palästina durch UN Beschluss
in einen jüdischen und arabischen Staat aufgeteilt. Jerusalem
bekam einen Sonderstatus unter internationaler Garantie. Während
die UN-Resolution seitens der Juden begrüßt wurden, nahmen
die Araber diese Beschlüsse nicht an. In Folge dessen wurde
damals nie der Araberstaat gegründet. Nach Abzug Britanniens
aus Palästina wurde 1948 der Israelische Staat offiziell gegründet.
Damit begann auch der Krieg. Israel, das alle militärischen
und administrativen Gepflogenheiten des britischen Mandats übernommen
hatte, gewann den Krieg und erweiterte seine territorialen Grenzen.
Dies führte zur Spaltung und Polarisierung unterden Arabern,
indem sie ihr Regime und ihre Schwächen in Frage stellten;
was in der Folge zu einer Radikalisierung führte. Die Konsequenz
war, dass es in Ägypten 1952 durch den Aufstand der „freien
Offiziere“ unter der Führung Nassers zur Machtübernahme,
in Irak zu Putsch, in Jordanien mit Gewalt zur Rettung der Monarchie
und in Libanon zu Instabilität kam, während Israel sich
schnell aufrüstete und eine die Differenzen in der Region und
Araber als nicht existent wahrnehmende Siedlungspolitik im Inneren
verfolgte. Unter der Unterstützung des Jüdischen Nationalfonds
und der Judenagenda, die die Verbindung der Welt-Juden aufrecht
erhielt, wurden Territorien aufgekauft, arabische Dörfer geleert
und die Besatzungspolitik weitergeführt. Vier Jahre nach der
Unabhängigkeitserklärung Israels hatte sich seine Bevölkerungszahl
verdoppelt und diese Tendenz ging weiter. Während Anfang des
Jahrhunderts eine Einwanderung aus Europa und Russland erfolgte,
wurden die Siedlungstendenzen aus Asien und Nordafrika in den 50er
Jahren dominanter.
Der arabisch-israelische Krieg 1967
Im Krieg 1967 eroberte Israel die Westbank, die Halbinsel
Sinai und die Golanhöhen. Diese wurden ab nun als Besetzungsgebiete
bezeichnet und die zweite große Einwanderungswelle nahm ihren
Anfang. Vor dieser Phase der Entwicklung gründeten die Palästinenser
mit der Absicht eine palästinensische Identität zu gewinnen,
unter der Führung von Jassir Arafat (Abu Ammar) eine Organisation
mit dem Namen „El-Fattah“, unter Beteiligung anderer
Organisationen wurde 1964 die Widerstandsvereinigung Palästinian
Liberation Organisation (PLO) ins Leben gerufen. Nach dem Krieg
1967 hat sich die PLO gespalten und es ergaben sich daraus Organisationen
wie „Volksfront zur Rettung Palästina“ und „Demokratische
Volksfront zur Rettung Palästinas“.
Intifada
1973 haben arabische Länder einen Krieg begonnen
Israel aus den besetzten Gebieten herauszudrängen, die zum
Rückzug der israelischen Armee führte. Ab 1974 begann
die UN Jassir Arafat und die PLO als einzigen rechtmäßigen
Vertreter des palästinensischen Volkes anzusehen. In dieser
Periode entwickelte sich eher eine Politik um Israel aus den besetzten
Gebieten herauszuwerfen und die unterschiedlichen Meinungsunterschiede
innerhalb der PLO zu unterbinden und die Gründung eines palästinensischen
Staates vorzubereiten. Als Israel aber 1982 begann den Libanon zu
besetzen transferierte die PLO ihre Zentrale nach Tunesien. Ende
1987 begann der unter dem Namen Intifada bekannte und „Steine
gegen Waffen - Widerstand“ der Palästinenser.
Aufgrund der Umwälzungen und der globalen Transformation,
in einer ganz veränderten konjunkturellen Weltlage begann in
den 90er die Geheimverhandlungen zwischen Israel und den PLO-Vertretern,
der Gipfel von Madrid wurde realisiert. Der später als die
Periode von Oslo bezeichnete „Friedensepoche“ brachte
Jassir Arafat und Ihtzak Rabin den Nobelpreis, als 1994 die beiden
unter der Schirmherrschaft von Clinton im Weißen Haus sich
die Hände gaben. Dieses Zusammenkommen konnte jedoch keines
der gravierenden Probleme eine Lösung bieten. Weder die Siedlungsfrage,
Grenzproblematik, Sicherheitsfrage, Flüchtlinge, noch der Statut
von Jerusalem oder die Armut konnten auf einen erfolgsversprechenden
Lösungsweg gebracht werden. Stattdessen tendierte die Politik
Israels nach Rechts und Rechtsaußen. Und es kam durch aufgestapelte
Probleme und gegenseitiges Misstrauen zu dem heutigen Krieg und
den Massakern.
Auch die heute als Lösung propagierte internationale
Machtausübung wird die Problematik nicht an der Wurzel packen
können, geschweige denn sie zu lösen. Denn genau dies
ist das Problem selbst, denn der Imperialismus unterstützt
seit jeher Israel als Vertreter seiner Interessen; dass dies als
Lösung angesehen wird, kann keinesfalls die Konfliktherde zur
Ruhe bringen oder sie entschärfen, es wird eher dazu führen,
dass zusätzliche Faktoren in die Problematik hineingetragen,
und das Ungleichgewicht in der Region für den Imperialismus
nachhaltig verändert wird
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