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Heleno Saña: Don
Quijote in Deutschland. Autobiographische Aufzeichnungen eines Außenseiters.
PapyRossa Verlag, Köln 2005.
Heleno Saña ist ein angesehener spanischer
Schriftsteller (Barcelona, 1930) aber seit über vierzig Jahren
in Deutschland wohnhaft. Er hat bereits eine beachtliche Anzahl
Bücher publiziert, bis Ende der siebziger oder Anfang der achtziger
Jahren auf spanisch verfaßt, seitdem vorwiegend auf deutsch.
Aus diesem Grunde können wir ihn als spanisch-deutschen Schriftsteller
betrachten, obwohl in seiner Persönlichkeit und Denkweise das
spanische Substrat immer noch eine sehr wichtige Rolle zu spielen
scheint (zum Beispiel in seinem unbestechlichen Quichottismus).
Und obwohl das Genre, das er am meisten pflegt, der sozio-politische
und sozio-kulturelle Essay im breitesten Sinne des Wortes ist, finden
wir in seiner bereits langen Bibliographie, unter anderem, Gedichtbände,
Zeitungsartikel, Übersetzungen aus dem Deutschen ins Spanische
von Max Frisch, Martin Walser, Günter Grass, Heiner Kipphardt
etc. sowie Werke wie Crónica de una ausencia (Chronik einer
Abwesenheit), das wir dem autobiographischen Genre zuschreiben können.
Das Buch, das wir jetzt besprechen, wird vom Autor
selbst im Untertitel als autobiographisch bezeichnet, allerdings
nicht im üblichen Sinne, wie er selbst uns versichert: „Eine
Autobiographie im konventionellen Sinn beabsichtige ich freilich
nicht zu schreiben“. Auf der darauffolgenden Seite schreibt
er: „Ich werde vornehmlich von meinem inneren Leben sprechen“
weil „Das Wichtigste die Seele ist“. Aus diesem Grunde
finden wir in seinem Buch nicht so sehr Beschreibungen von Tatsachen
oder von äußeren Ereignissen sondern vielmehr Ideen,
Überlegungen und Gedanken, die sich auf sein Innenleben beziehen,
auf Themen, die ihm dauernd Sorge bereiten und zu schaffen machen,
Themen aus dem sozialen, politischen und ethischen Bereich. Unter
anderem können wir darin zwei großen Bezugspunkte ausmachen:
die zwei Länder nämlich, in denen der Verfasser gelebt
hat, das heißt, das Spanien nach dem Bürgerkrieg und
Franquismus, in dem er in der Opposition und im Untergrund mitarbeitete,
aber auch das Land in dem er seine ersten Publikationen veröffentlichte
(bis ca. 1960). Auf der anderen Seite finden wir das Deutschland
wo er sich nach diesem Jahr niederließ, ein Land dessen Gesellschaft,
Kultur, Mentalität und Geschichte er hervorragend kennt und
dessen Sprache er beherrscht, wie er in vielen seiner Bücher
eindrucksvoll bewiesen hat: Das Vierte Reich, Die verklemmte Nation,
Die Deutschen. Zwischen Weinerlichkeit und Größenwahn,
Das Ende der Gemütlichkeit usw. Das erste auf deutsch verfaßte
Werk, in dem er sich mit dem Land auseinandersetzt, in dem er seine
zweite Lebenshälfte verbracht hat (Verstehen Sie Deutschland?
Impressionen eines spanischen Intellektuellen) ist nach meiner Überzeugung
eines der treffendsten und brillantesten Bücher, das je von
einem Spanier über Deutschland geschrieben wurde.
Aber Heleno Saña, der zur Einsamkeit neigt
und sich fast als ein Eremit überall begreift, glaubt, daß
seine wahre geistige Heimat weder Spanien noch Deutschland sind,
sondern vielmehr seine intellektuelle Arbeit, seine Beschäftigung
als Schriftsteller, die ja „per definitionem“ die Isolierung
gegenüber der Außenwelt impliziert, „la solitude
orgueilleuse de l’écrivain“, wie es J.P. Sartre
formuliert hat: „Weder Spanien noch Deutschland sind meine
Heimat. Meine Heimat sind meine Gedanken, meine Lektüre, meine
Schriftstellerei, meine Träume, mein Kampf um eine bessere,
humanere Welt“. Aber nicht nur das: das und außerdem
die romantische Liebe zu seiner Frau: „Meine einzige, wahre,
täglich erlebte Heimat (ist) meine Frau... Ich gehöre
sonst nirgendwohin“. warum schreibt Heleno Saña diese
Art persönlichen Memoiren? Er kann uns nicht mit absoluter
Sicherheit sagen, welcher Impuls oder welches Motiv ihn dazu bewogen
haben: „Vielleicht das unbewußte Bedürfnis, Bilanz
zu ziehen, bevor es zu spät und meine Stimme für immer
verstummt ist“. Traurige Gedanken, kann man wohl sagen, aber
dem kann man entgegensetzen, daß nicht alles spurlos verschwinden
wird, es werden seine Bücher bleiben, und damit seine Innigsten
Ideale, für die er das ganze Leben gekämpft hat, sein
Vermächtnis also.
Dieses Buch, pünktlich im Jahre der vierten Jahrhundertfeier
der Erscheinung des berühmtesten Werkes der spanischen Literatur
aller Zeiten herausgekommen, ist eine Hommage sowohl an Cervantes
wie auch an Don Quijote, wobei Heleno Saña sich mit dem Held
des Romans aufgrund einer Seelenverwandschaft identifiziert:“Ich
brauche nicht zu unterstreichen, daß ich mich selbst meine,
wenn ich von Don Quijote spreche, was auch umgekehrt gilt“
(Der Titel ist bereits ein Hinweis darauf). Aber darüberhinaus
ist es nicht nur eine Hommage an Cervantes und Don Quijote, es ist
auch eine ernste und aufrichtige, selbstkritische Bilanz seines
eigenen Lebens und gleichzeitig eine rührende Liebeserklärung
an seine deutsche Dulcinea, das Wichtigste in seinem Leben:“
Das Wichtigste bleibt... meine Frau und ihre großartige Liebe“.
Das Buch ist in einer fließenden, transparenten,
sehr gut lesbaren Prosa geschrieben, das Interesse und die Spannung
beim Lesen läßt nicht nach, weil der Autor, wie Karl
Kohut treffend gesagt hat, „der geborene Erzähler“
ist. Es ist ein Beispiel mehr aus der Feder dieses spanisch-deutschen
Intellektuellen, Dichter und Denker, halb Asket, halb Guerrillero,
quischottisch bis ins Mark, der zahlreiche Polemiken hervorgerufen
hat mit seiner kritischen, unkonformistischen und unbestechlichen
Haltung auf seinem unbequemen Weg, immer auf der Suche nach Wahrheit
und Gerechtigkeit.
José Rodríguez Richart
***
Horst Hensel: Sturzacker. Roman einer Jugend. asso-verlag, Oberhausen
2005.
Die deutsche Literatur ist nicht reich an Lebensgeschichten
aus der Arbeiterklasse; noch rarer sind Romane mit der Darstellung
von Industriearbeit. Beides bietet Hensels Roman, und schon deswegen
verdient er Aufmerksamkeit, zumal er in den 1960er Jahren spielt,
in jener Zeit der Umbrüche in der Industriearbeit, als die
gesellschaftspolitische Arbeiterliteratur zu ihrem neuen Höhenflug
ansetzte.
Sturzacker erzählt die Geschichte des Bergarbeitersohns
Frank Fechner, der nicht aufs Gymnasium darf, weil die Eltern die
Kosten scheuen, sich nach dem Volksschulabschluss dem Willen des
Vaters fügt, der U-Bootfunker im Zweiten Weltkrieg war, und
als knapp Vierzehnjähriger eine Lehre als Fernmeldeelektriker
beginnt. Obwohl er alle Prüfungen in dieser „Elite der
Elektroberufe“ besteht, als Geselle mit einem Bautrupp Fernmeldeämter
überholt, versucht er aus dem ungeliebten Beruf herauszukommen,
aus dem vorgezeichneten Weg als Arbeiter auszubrechen. Zwei Wege
beschreitet er, gleichzeitig, den einen, die Schriftstellerei, ohne
Plan und ohne handfestes Ziel, über zwei Autodafés,
den anderen, ein Studium zu einem akademischen Beruf, systematisch
und zielstrebig; er will es bis zur „Doktorprüfung“
bringen.
Ein Roman über einen sozialen Ortswechsel, der
mit Brüchen, Widersprüchen und Irritationen verbunden
ist und dem Autor Gelegenheit gibt, proletarisches Leben und akademisches
aus dem Blickwinkel eines Dazugehörigen wie auch Außenseiters
zu beleuchten.
Ein Blick auf Horst Hensels Biographie zeigt, dass
sein Held Frank Fechner stark autobiographische Züge trägt.
Auch Hensel ist 1947 in eine Bergmannsfamilie hinein geboren, auch
er war Fernmeldetechniker in Dortmund und München und kam über
den zweiten Bildungsweg zum Abitur und zum Studium, auch Hensel
hat in München politische Wissenschaften studiert, auch er
war als Werkstudent Schmelzer in einem Eisenhüttenwerk, und
er hat den Doktortitel erworben. Man merkt es der Erzählung
an, dass hier authentische Erlebnisse zu einem dichten historischen
Zeitroman verarbeitet sind.
Hensel ist kein Unbekannter. Er hat sich dem „Werkkreis
Literatur der Arbeitswelt“ angeschlossen, war Ende der 70er
Jahre fast drei Jahre lang dessen erster Sprecher und griff mit
einem Buch in die Debatte um die Probleme des Werkkreises ein („Werkkreis
oder Die Organisierung politischer Kulturarbeit“, 1980). Neben
gesellschaftskritischen Romanen („Aufstiegsversagen“
1984) hat Geschichten über den Alltag im Ruhrgebiet geschrieben
und historische Romane („Die Sehnsucht der Rosa Luxemburg“
1987; „Stauffenbergs Asche“ 2001), ferner Kinderbücher
und sehr viele pädagogische, wissenschaftliche und literarische
Essays und Aufsätze für Zeitungen, Zeitschriften, Sammelbände
und den Hörfunk.
Dennoch ist der Roman keine reine Autobiographie.
Hensel geht es um die Unsicherheiten eines Jugendlichen in der sich
rasch wandelnden Kohle-und Stahl-Industrie des Ruhrgebiets. Die
Brüche werden z.B. in der Lektüre des Viellesers Fechner
deutlich. Die Presseberichte über Ernest Hemingway, der sich
am 2. Juli 1961 erschoss, schaffen den ersten Kontakt zu Hemingways
Erzählstil; außerdem macht das Titelbild im Spiegel Fechner
zu einem regelmäßigen Leser dieses Nachrichtenmagazins.
Nicht weniger beeindruckt ist der Held von Max von der Grüns
Irrlicht und Feuer. Dass von der Grün selbst Bergmann ist,
also aus Fechners Milieu stammt, und dass er die realistische Darstellung
von Arbeit und Lebensverhältnissen von Bergleuten zum Thema
seines Romans macht, fasziniert Fechner.
Sein Bildungsweg beginnt beim Bücherschrank seines
Großvaters und setzt sich fort in der Leihbücherei Schulze,
im Hinterzimmer eines Papier- und Zeitschriftenladens, einer typischen
Erscheinung der Nachkriegszeit, die heute verschwunden ist. Dort
leiht er sich Romane von Gorki, Jack London, B. Traven, Françoise
Sagan und Pasternak aus, auch von Kafka, liest „Buddenbrooks“,
„Tonio Kröger“, Schillers „Räuber“
und Storms „Schimmelreiter“. Seine Lektüre reicht
von Grimmelshausen „Simplizissimus“ über Sealsfields
„Kajütenbuch“ bis zu Gedichten von Lenau, Mörike
und Uhland. Goethes Leben liest er in Friedenthals Biographie.
Die scheinbare Wahllosigkeit der Lektüre ist
auch der Spiegel seines sozialen Ortswechsels. Der Bildungsweg verläuft
von Hemingway und von der Grün über die Lektüre von
Goethes Faust I und Faust II, Hölderlin, Nietzsche und Sartre
wieder zu Max von der Grün. Als er in München an der Hochschule
studiert, liest er Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“
und nimmt sich vor, die vierzigbändige Goethe-Taschenbuchausgabe
zu kaufen und alle Werke zu lesen: Der Aufstieg ins Bürgertum
ist abgeschlossen.
Franks erste ernsthafte Literaturversuche bestehen
in zwölf Prosagedichten, die er dann aber verbrennt. Als Student
plant er „ein Tagebuch der Arbeit im Stahlwerk“ und
eine Geschichte: „Jesus - als Revolutionär gekreuzigt“.
Der Roman ist reich und spannend durch seine realistische
Darstellung der bundesrepublikanischen Gärung in den 60er Jahren
vor 1968. Schauplätze der ersten Hälfte sind Kamen-Methler,
im Roman „Industriedorf“ genannt, wo seine Eltern wohnen,
und Dortmund, was der Ruhrgebietsunkundige bis Seite 175 mühsam
erschließen muss, erst dann fällt der Name der Stadt.
Der zweite Teil spielt in München, wo Fechner tagsüber
als Fernmeldetechniker arbeitet und abends an der „Hochschule
für Politische Wissenschaften“ sich auf das Abitur vorbereitet.
Hensel versteht es, mit oft nur wenigen Strichen ein
plastisches Bild der von Landschaft und Gesellschaft zu zeichnen.
Da ist das ländlich industrielle Ruhrgebiet: „Gehöfte
und Felder, Siedlungen und Zechen. Ein Horizont aus Fördertürmen“,
„Rauch von Kokereien und Stahlwerken. „Und wieder ein
gepflügte Brachfeld, ein Sturzacker“. Wie die Einfahrt
in die Grube gehört für den Bergmann zum Leben das Schweineschlachten
und der Schrebergarten.
Die Darstellung der Jugendlichen unter sich fängt
die Knappheit und Härte des Umgangs ein. Das gilt auch für
die Liebesversuche, bei denen Sex vor Liebe geht und drastisch ausschweifend
erzählt wird. Innensicht der Figuren wird meist vermittelt
über signifikante Handlungen, weniger durch ausfaltende Rede,
weder des Erzählers noch in Dialogen.
Hensel beschönigt nicht. Die Familie Frank Fechners
ist konservativ, der Vater verbietet der Mutter zu arbeiten, die
den Mann zu bedienen hat, der Sohn soll Proletarier werden wie er
selbst. „Zechenbetriebsrat und Privatausbeuter“, schimpft
der Sohn auf den Vater. Obwohl Fechner später sagt, sein Elternhaus
sei „ein Haus voller Geschichten gewesen“, von denen
der Roman leider sehr wenige erzählt, fällt das wortkarge
Klima in der Familie auf. Grotesk, dass der nur selten redende Vater,
der den Sohn nicht auf das Gymnasium ließ, sein Tagebuch seinem
Sohn zu lesen gibt, in dem die Eltern kurz vor Franks Geburt sich
vornehmen, den Sohn nach Goethes Poesiealbumsspruch „Edel
sei der Mensch, hilfreich und gut“ zu erziehen.
Die Fechners gehören zum SPD- und KPD-Proletariat,
das von den Nationalsozialisten drangsaliert und verfolgt wurde,
„manche waren von der SA totgeschlagen worden, wie einer der
Großväter“. Der Sohn setzt die Tradition fort,
kritisiert den Vietnamkrieg, gilt als „ein verkappter Kommunist“,
liest das „Kommunistische Manifest“. Die Mutter warnt:
der Kommunismus sei verboten, Frank käme ins Gefängnis.
Hensel schildert Arbeit, nicht nur betriebliche Realität,
sondern auch den Arbeitsvorgang, exemplarisch an zwei Beispielen.
Das Herstellen eines U-Eisens wird mit großem Sprachaufwand
und präzisen Begriffen der Fachsprache in einem temporeichen
Satz über eine ganze Buchseite anschaulich. Ein Ausschnitt:
„Sie bohrten und feilten eine Raute in den Rücken
des U-Eisens, feilten aus einem Stück Stahl eine Raute, die
in die Rauten des U-Eisens passte, es kam auf zehntel Millimeter
an, auf Maßgenauigkeit bei allem, auf die Parallelität
der Wangen des U-Eisens, darauf, dass die Flächen völlig
plan geschruppt und danach die Oberflächen glatt und fein glänzend
geschlichtet wurden, die immer feineren Schlichtfeilen mit einem
immer feineren Hieb...“
Eine Stippvisite in der Zeche seines Vaters gibt Einblick
in den Umgang der Kumpels und die Arbeit unter Tage. Höhepunkt
der Darstellung von Arbeit ist Franks Praktikum in einer Eisenhüttengießerei,
die der Held euphorisch erlebt. Hensel erzählt das hinreißend,
in zwei Abschnitten, das erste Mal als erinnerten Dokumentarfilm
einer untergegangen Arbeitsweise, dann als szenischen unmittelbaren
Vorgang.
Daneben die Hochschule, das Studium in München,
in einer Gesellschaft von Schlipsträgern; die Studenten siezen
sich. Satirisch komisch Fechners Prüfung für die Aufnahme
in die studentisch linke Organisation „GAST“: der Proletarier
Frank hält gewerkschaftliche Arbeit für sinnvoll und fällt
damit durch bei einer Organisation, die für den Sieg des Proletariats
kämpfen will.
Die starke Autobiographik hat vermutlich zur Folge,
dass Hensel Abstand zu Held und Geschehen hält. Der Roman wird
von einem namentlich nicht genannten Erzähler aus olympischer
Perspektive erzählt, der sich allmählich als der über
50 Jahre alte Held erweist. Der aber erzählt formal nicht von
sich, sondern von einem Jugendlichen, in der dritten Person. Der
Roman ist durchzogen von Floskeln wie: „Ich sehe ihn noch“.
Dadurch rückt der Erzähler Fechner ab von sich und seiner
Jugend. Hensel gewinnt durch diese Erzählweise die Möglichkeit,
aus scheinbar neutraler Perspektive Reflexionen über den Helden
anzustellen, wovon allerdings zu selten Gebrauch gemacht wird. Die
Distanz zeigt sich auch darin, dass uns Autor Hensel eine Kostprobe
von Fechners Prosagedichten vorenthält. Insbesondere nimmt
man dem Erzähler nicht ab, dass der phantasiebegabte Junge
nur sexuelle Wünsche, aber keine personalen Liebeswünsche
hat. Fechner als Erzähler müsste wissen, welche Phantasien
z.B. die Liebesbeziehung mit der viel älteren Frau freisetzt.
Erzählt wird das Verhältnis als ein ausschließlich
sexuelles.
Es ist ein Zeichen für die Schnelligkeit des
industriellen Wandels, dass die Realistik der Darstellung bundesrepublikanischer
Gesellschaft von vor vierzig Jahren zugleich nostalgische Züge
hat. Weniger durch Hensels Art der Darstellung, sondern durch den
weitgehenden Untergang der Montanindustrie im Ruhrgebiet und in
Deutschland überhaupt und das endgültige Ende der Nachkriegszeit.
Das aber macht die Lektüre des Romans besonders interessant.
Rüdiger Scholz
***
Dadi Sideri-Speck (Hrsg.): Fern von der dicht besiedelten Sprache.
Griechische Lyrik der Gegenwart.Griechisch-Deutsch. Romiosini Verlag,
Köln 2006.
In Heft 3/2002 hatte ich auf den griechischen Lyriker
Alexandros Issaris (geb. 1941 in Serres) aufmerksam gemacht. Diesmal
soll insbesondere hingewiesen werden auf Vassilis Ioannidis (geb.
1948 in Thessaloniki). Anders als der studierte Architekt Issaris
ist Ioannidis Arzt, übt aber schon seit 15 Jahren seinen Beruf
nicht mehr aus, sondern wirkt als Maler und Dichter. In der vorliegenden
Lyrikanthologie ist er erstmals mit Übersetzungen seiner Haikus
vertreten: Vollmond / und die Einsamkeit / leuchtender Stern / mitten
am Himmel. Und ein weiterer Kurzzeiler: Alle Wörter / sind
Sterne geworden; / und suchen dich. In seinen Versen bewahrt er
sich einen Schimmer von Selbstgewissheit, wo seine zahlreich in
diesem Band versammelten Dichterkolleginnen eher zu Ungewissheiten,
zu Larmoyanz neigen. Denn wenn es die Vätergeneration - Kavafis,
Ritsos, Seferis, Elytis, Embirikos, Engonopulos - auszeichnete,
die Welt im Großen im Kleinen aufscheinen zu lassen, mutet
der poetische Höhenflug der hier Vorgestellten doch zumindest
fürs erste mehr wie ein Wagnis mit lädierten Flügeln
an. Immerhin ist es bemerkenswert, wie sich eine große poetische
Tradition erhält und fast ungebrochen fortsetzt.
Der jetzt erschienenen Anthologie, die dreiundvierzig
Namen - von Takis Varvitsiotis (geb. 1916 in Thessaloniki) bis Jorgos
Christodulidis (geb. 1968 in Moskau) und Vassiliki Nevrokopli (geb.
1968 in Serres) - auflistet, ging der von der gleichen Herausgeberin
erarbeitete Band „Unter dem Gewicht der Wörter“
(Romiosini Verlag, Köln 1999) mit achtundzwanzig anderen Autorinnen
voraus. Ist es das einst von Ludwig Curtius wahrgenommene Agens,
das zu dieser verblüffenden dichterischen Rührigkeit in
Griechenland veranlasst? Eigentlich sei das Wort des Dichters doch
zu schwach, um dem Ausdruck zu verleihen, worin Weltanschauung im
Griechischen ihren Ausgangspunkt hat: „Die lineare Prägnanz
der in ihrer Fülle unabsehbaren, jedes Mal so reizvoll durchgebildeten
landschaftlichen Motive, von denen jedes wieder eine kleine Welt
für sich darstellt, das blendende Weiß der überall
hingestreuten griechischen Kapellchen, Kirchen und Klöster,
das silberne Geglitzer der Olivenwälder, der zugleich immer
wieder vom Einzelnen in der Nähe in die Ferne gleitende Blick,
wo aus der blauen Flut wieder neue Küsten, noch leise duftverschleiert
neue Inseln aufsteigen und in neuer Ferne das Festland den Horizont
einsäumt, der Wechsel, den in diesem Panorama das sich verändernde
Tageslicht hervorruft, so dass der erstaunliche Aufbau der Landschaft
sich nicht nur durch die bei der Klarheit und der Helligkeit des
Lichts bis in die letzten Gründe sichtbare lineare Gliederung,
sondern auch als ein farbiger durch die Abstufung der Farbtöne
im Hellen und im Schatten vollzieht.“
Solche Schattierungen vollziehen sich im Gedicht „Unerfahrener
Begleiter“ von Christophoros Liontakis (geb. 1945 in Heraklion)
keineswegs traumwandlerisch: Einen Zauber wirft das Licht auf sein
Gesicht. / Es betont den Schatz der Trauer / und bildet wieder die
uralte Schönheit / Die Trugbilder des Schlafs, die hilflose
Anmut und / jenes unerwartete Singen der Nachtigall geben ihm Kraft
/ und er startet mit Vollgas dem Verderben zum Trotz. / Ein unerfahrener
Begleiter von Orpheus.
Und wo bei Liontakis dann Landschaft thematisiert
wird, heißt es ebenfalls ganz unromantisch: Die politische
Landschaft bekommt Risse, / und die Dialektik torkelt. - Ferne kommt
ins Bild zum Beispiel bei Stavros Safiriou (geb. 1958 in Thessaloniki),
wo allerdings das von ihm als Metapher für weiten geistigen
Horizont erwähnte, aus dem 4.-3. vorchristlichen Jahrhundert
stammende indische Lehrgedicht nicht Bagwat Cita, sondern nach der
üblicherweise im Deutschen gebrauchten Titelschreibung Bhagavadgita
heißen müsste. - Man wird nun wohl mit noch größerem
Interesse darauf schauen, in welcher Weise das griechische Agens
auch künftig in der griechischen Dichtung fortwirkt.
Horst Möller
***
Spuren – Tragovi. Auf dem Weg der Kultur ins neue Millennium.
Zweisprachige Anthologie der Poesie (Serbisch/Deutsch). Ausgewählt
und übersetzt von Dragica Schröder. Hrsg: Nikola Vukolic,
Stiftung Petar Kocic. Banja Luka-Beograd 2006
Eigentlich läßt sich diese Anthologie als
feuchtfröhliche Elego Eloge auf jene Felsenkegel, auf denen
das sentimentale Brückenwerk der Wortkünstler von den
Plateaus Balkaniens in weiten Gegenwartsgegenden Germaniens fußt.
Und man kann seine Architektin Dragica Schröder, die Poetin
und Literaturübersetzerin, ohne weiters als gesundes Gewissen
der Stadt Hilden hochhalten. Denn diese „Spuren“ basieren
auf lyrischen Beiträgen zu der internationalen Kulturmanifestation
„Auf dem Weg der Kultur ins neue Millennium“ dieser
Stadt.
Für Dragica Schröder stellt dieser Lyrikband
„einen Funken am düsteren modernen Kulturhimmel dar,
der ein wenig Licht spenden soll. Ob es nur ein Funke bleiben wird,
oder zur Freude vieler Autoren und Leser sich in eine Flamme entwickeln
wird, hängt ausschließlich davon ab, wie sehr wir geschafft
haben, einen Weg zu der Seele und zum Herzen derer zu finden, für
die diese Poesie geschrieben wurde.
Das ist der erste Schritt zum gewünschten Ziel,
auf dem Weg, auf dem die Spuren verbleiben sollen, wonach ich den
Titel dieser Gedichtsammlung ausgewählt habe.“
Und „Spur im Herzen“ lautet der Titel
eines Gedichtes von Dragica Schröder in „Spuren“:
Wir verlassen uns auf unsere Sinne,
auf das was wir sehen,
hören, spüren.
Das Blau des Himmels,
zarte Harfenmelodie, Jasminduft.
Manchmal
wecken sie in uns
Erinnerungen an früher,
an die Begegnungen
die tief in uns
versteckte Spuren hinterließen;
Düfte die schöne Augenblicke
in uns neu entfachen.
Vielleicht sind die Düfte
dazu da um unsere Beziehung
zur Umwelt zu bestimmen.
Um die Einfluss auf unsere Gedanken,
die andauern, zu nehmen,
oder ein ungelöstes Geheimnis,
warum die Düfte in unserer Erinnerung
ewig verbleiben.
Vierzig Autoren sind in diesem 250 Seiten umfassenden
literarischen Sammelwerk mit je zwei Arbeiten vertreten. Manche
von ihnen gehören seit etlichen Jahren zum Poeten-Kreis der
Zeitschrift DIE BRÜCKE wie Ljiljana-Lili Lukic´ mit ihrem
Verstitel „Die verkehrte Welt“:
Der Roboter
Ein Gefüge aus Plastik, Metall, Draht...
Unfähig zu denken, fühlen...
Programmiert zu sagen
Was sich gut anhört.
Angenehmes für den Menschen.
Der Mensch
Von gesellschaftlich aufgesetzten
Barrieren befreit
Nimmt die Maske ab und gesteht,
dass ihn Angst und Zweifell zerreißen
wegen Allem anderes denkenden,
das ihn umgibt.
Er setzt erneut die Maske auf
Und wird zum Menschlichen
Roboter.
***
Margot Marquardt & Bratislav Rakic: zwei worte. Lyrik in zwei
Sprachen (Serbisch und Deutsch). Banja Luka 2006
Als Herausgeber dieses zweimal 245 Seiten umfassenden
eigenartigen Bandes werden Zivko Vujic, Necati Mert und Michael
Tonfeld aufgeführt, und als Verlage „ZUPA 22 S“
(Bürgerverein Banjaluka), WERKKREIS (Literatur der Arbeitswelt)
sowie DIE BRÜCKE (Forum für antirassistische Politik und
Kultur).
Der kooperativen Publikation ging das Augsburger Friedensprojekt
„PAX ART 2005 - Krieg und Frieden“ voraus, zu dem die
beiden Wortkünstler einen gemeinsamen Beitrag unter dem Titel
„Mensch sein - Mensch“ leisteten.
Bratislav Rakic, Jahrgang 1938, präsentiert sich
in diesem Band als Lyriker und Übersetzer (für die serbische
Version der Verse von Margot Marquardt).
Margot Marquardt, Jahrgang 1947, Malerin und Bildhauerin
entdeckt für sich, neben den Farbtönen für ihre Illustrationen
sowie Werkstoffen für ihre Installationen, auch die Sprache
als elementares Ausdrucksmittel des künstlerischen Schaffens.
Die beiden Verseschmiede begegnen sich im Geflüster
von Strophen, begeben sich über den fetten Schatten der verzweigten
Zeitströme hinaus auf die Suche nach einem Weiler der Heiterkeit.
Danica Nain Rudovic´ bekräftigt in ihrem Nachwort: „‘zwei
worte’ ist vor allem ein Lyrikband der Liebe. Die Sprache
der beiden Autoren ist im deutschen Teil des Buches angeglichen.
Die leisen Töne dieser Lyrik vermitteln dem Leser das Gefühl
der Harmonie und Zärtlichkeit.
Rakic und Marquardt haben in diesem Buch eine gemeinsame
poetische Konzeption entwickelt, wobei individuelle Distinktionen
der Gedichte erhalten bleiben. Im Buch ‘zwei worte’
ertönen zwei Liebesstimmen, die stets harmonisch miteinander
einen poetischen Dialog eingehen. Zwei lyrische Subjekte befinden
sich in einer Interaktion; durch suggestive Anrede korrespondieren
sie miteinander mittels der Aktion und Reaktion. Die Gedichte In
diesem Buch bilden eine poetische Einheit, dessen Bestandteile,
die Verse der beiden Autoren die Anwesenheit des anderen voraussetzt.“
Ich fragte dich
"Welcher Weg brachte
uns zusammen..?"
"Frieden..."
sagtest du,
"an dem du
auch arbeitest..."
In unserem Wesen
hat wunderliche
Ruhelosigkeit geplaudert
wegen "unseres" Friedens...
Nach dir ist
Freiheit
Frieden
und Liebe
das Paradies...
Begeistert bin ich...
ich entdeckte
dass ich dich
bewusst
angeschaut habe...
(Bratislav Rakic)
alle irdischen guter
hast du
während
der kriegerischen
auseinandersetzung
in deinem
heimatland
selbstlos
verschenkt
mit deinem
geistigen reichtum
deinen
wegbereitenden
werten
hast du
freigiebig
alle wartenden
in deiner
neuen heimat
beschenkt
lass uns gemeinsam
für frieden
freiheit
und liebe
einstehen
und sichtbare zeichen
setzen
(Margot Marquardt)
***
Jürgen Roth: Der Deutschland Clan. Eichborn AG, Frankfurt am
Main 2006.
Jürgen Roth, bekannt für investigativen
Journalismus mit in Jahrzehnten geschultem Blick in Abgründe
von Politik und Wirtschaft, versucht das unsichtbare Netzwerk Kriminalität
- Wirtschaft - Politik sichtbar zu machen, der Netzstruktur Farbe
zu geben.
Gewissenhaft trägt der Autor einen Teil der in
der Ära Schröder in unserer Republik ruchbar gewordenen
und in Medien publizierten Skandale zusammen, ergänzt sie mit
Details, welche die Bestätigung unser aller Ahnung um den dahinter
sich abzeichnenden kriminellen Impetus um doch nur Ahnungen bereichern.
Ahnungen freilich, die gesundem Menschenverstand keinen anderen
Schluß erlauben: Deutschland einig Täterland!
Die Ungeheuerlichkeiten, die Jürgen Roth zu Tage
fördert, ihr innerer Zusammenhalt mit den Klammern Kriminelle
Energie, Machtwille, Persönliche Bereicherung sind dem interessierten
und kundigen Medienkonsumenten keineswegs Neuland. Sie hier für
einen Zeitabschnitt gehäufelt auffinden zu können, ist
das Verdienst des Autors.
Dem Leser beschert die Anhäufung Zorn, das Gefühl
der Ohnmacht und Abscheu, nicht zuletzt vor der Republik, in der
er leben muß.
Ob die von Jürgen Roth zusammengetragenen Indizien
gerichtsverwertbare Sachverhaltsanalysen zulassen, wird selbst der
Fachjurist offen lassen müssen, was der Empörung keinen
Abbruch tut.
Erstaunlich bleibt, wie wenig das von Jürgen
Roth bemühte Zeitfenster den historischen, ökonomischen
und politsoziologischen Zusammenhang zu erhellen vermag, wie entfernt
die analytische Arbeit von ihrem Auftrag und Anspruch bleibt. Dies
mag mit darin begründet liegen, daß der Autor sein Kaleidoskop
mit dem „falschen“ Objekt eröffnet und auch abschließt:
mit Gerhard Schröder dem Exkanzler und Gasprom-Neuaufsichtsrat.
Ein Sachbuch scheint nicht der geeignete Ort zum Abwatschen von
Lieblingsfeinden, auch dann nicht, wenn sie Gerhard Schröder
und Wladimir Putin heißen.
Das Zeitalter der Turbo-Industrialisierung hat dem
Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts zwei Weltkriege beschert. Bescherung
insbesondere der Schwerindustrie eingeschlossen. Die Restwelt durfte
sich mit täglichen bewaffneten Konflikten begnügen. Ein
durchaus kriminelles Wirtschafts- und Politiktreiben. Im Zeichen
des Friedens und der Abrüstung bleibt das Kapital. Als Turbokapitalismus
setzt es kriminelle Politik und verbrecherisches Wirtschaften fort.
Die einst Deutschland aufgehalste Kriegsschuldfrage trifft damit
die Restwelt, trifft besonders und zuerst den Westen mit und in
seinen Werten. Damit werden Jürgen Roths Feindbilder zu Randfiguren
eines globalen Spiels, das Putin und Schröder zumindest nicht
als Verlierer aus der Hand geben wollen. Zu Gewinnern werden andere.
So dicht der Autor die Informationsfülle verwebt,
einem roten Faden folgt, so wenig geht das Versprechen auf, das
schwarz-rot-gold gewebte Netzwerk sichtbar, seine Protagonisten
erkennbar, benennbar zu machen. Das befreit keineswegs von Angst
um diese Republik. Soweit Jürgen Roth in Vereinigungen engagierter
Bürger und der Ausübung demokratischer Rechte einen Hoffnungsschimmer
zu sehen vermag, ist diese Aussicht getrübt von der unübersehbaren
Tatsache, Demokratie ist tot, läßt uns nichts als einen
Leichnam, nichts als die Hülle Demokratismus. Ist Zukunftsangst
nicht letztlich nur Produkt furchtbarer Gegenwart?
Dennoch ist Jürgen Roths Buch ein wichtiges Zeitdokument,
eine aufschlußreiche Informationsquelle, ein Diskussionsbeitrag,
dem hoffentlich viel Diskussion folgt.
Teja Bernardy
***
Karl Markus Gauß: Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone.
10-Länder-Sonderangebot. Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien,
2005
EU: Wie weiter? Wo geht’s entlang?
Kein biederes Alltagsgeschwätz beim mehr oder
weniger unentbehrlichen Veltliner, sondern regelrechte Erweiterungsgespräche
mit Hand und Fuß innerhalb eines identitätsstrotzenden
Gebietes, das Konjunktur verspricht. Der Titel dieses Buches hat
was auf sich. Er klingt nach Wirtlichkeit, nach besonnener Bürgerlichkeit
in der bisweilen unbesonnen Integrationspolitik eines Kontinents
auf der Suche seines grenzentranszendierenden Selbst.
Nein, er klingt nach Stammtisch. Nach Wandel und Einweihung.
Nach einem zum Teil kapriziösen Gesamtblick über die Verwendbarkeit
des neuen europäischen Zeugs. Nicht nur liegt dem Rezipienten
seine überregionale kulturgeschichtliche Ausstrahlungskraft
schon auf Anhieb nahe, sondern sie reicht sogar ungemein fern in
die hinreißende Tiefenpsychologie der Lektüre. Ein bisschen
Historiker, ein bisschen Bleistiftmeister und ein bisschen Winzer
sein, dazu braucht man gute Stube und einen gesunden Appetit - auf
große und kleine Worte. Jedes Journal von Gauß ähnelt
dem Gespritzten: halb reiner Perspektivenumschlag, halb diffuse
Provokation.
Der europäischen Stunde von ihrem mutmaßlichen
geographischen Rand her auf die Schliche kommen. Gemeinsam nach
Utopia aufbrechen. Durch ein Gläschen in seinen Standortbestimmungen
gefestigt, durch zwei Gläschen in seinem Orientierungssinn
verunsichert werden. Einfach aufbrechen: Wo hin? Mit was für
einen Geschmack, mit was für einer geschichtlichen Einsicht,
mit was für Vorurteilen gewappnet? Man denkt sich leicht in
verwandte semantisch-gesellige Alternativen rein, die die Zunge
lockern, den Geist allerdings zu einem gewissen Grade trüben.
Gute Küche, Geselligkeit, Rausch, sprachlich begabte Konkneipanten
und die freudige Lektüre von Zeitungen und/oder Reiseberichten
tummeln sich in diesem Begriff herum, geraten durcheinander, werden
auseinander gerissen, von einander abgeleitet. Doch „Kneipengespräche“
wäre zu Deutsch, „Heurige-Gespräche“ zu österreichisch,
„Schlibowitz-Gespräche“ zu östlich (zu erweitert?).
Und außerdem gibt’s sowas wohl kaum. Mit „Pub-Gespräche“
ist es offensichtlich auch nicht getan. „Pub“, das riecht
zu sehr nach Whisky oder Gin, wo doch ein anständiger Obstler
ehrlich gesagt schon eher angebracht sein dürfte, den Beitrittsländern
gleichsam als anschauliches Hilfsphänomen, ja als dienliche
Alltagsmethaper des Euro-Gefühls im Rahmen des Beitritts „beizutreten“.
Dann eben Fine-Dining-Talk? Nein, kein Fine Dining. Und kein Talk,
sondern eben Gespräche.
Als Karl-Markus Gauß im April 1998 Heft Nr.
323/324 von Literatur und Kritik der Osterweiterung widmete, meinten
in Österreich noch viele, man sollte sich gegen die Beitrittsländer
abschirmen, damit deren Staatsbürger nicht etwa österreichischen
Grund und Boden betreten. Jetzt meinen noch viele, man sollte sich
gegen das Wissen um den Kulrreichtum der neuen Euro-Länder
abschirmen. Offensichtlich teilt Gauß diese Meinung nicht.
Go East: Warum das Wort sitzt? In welche Himmelsrichtungen
es eigentlich weist? Für wen es ertönt? Für wen es
abtönt? Lauter Halbfragen, die zwischen den Zeilen, zwischen
den Seiten dieser geistreich dargebotenen Erweiterungstour versteckt
liegen. Die semantischen Nebenerscheinungen der Begriffe rufen eine
unwillkürliche Neugier nach dem zugrundeliegenden politischen
Diskurs wach - und zugleich ein gewisses kollektives Kompetenzgefühl.
Ein Wirtshaus hat nämlich offensichtlich mit Wirtschaft zu
tun. Darauf meint sich jeder zu verstehen. Und Gepräche in
der Erweiterungszone muss es ganz bestimmt geben, sonst gibt es
ja keine Erweiterungszone. Speisekarten schaffen Verbindung - auch
in Buchform. Die Faustregel im Sack: Wer frisst, der ist.
Dass es Gauß gerade in die Gastronomie verschlagen
hat, damit er aus historischer, linguistischer, ethnologischer,
ethischer und ästhetischer Perspektive ermitteln kann, was
denn größer wird, wenn was größer wird, weist
auf das zentrale Prinzip der EU hin: auf die ökonomischen Überlegungen,
aus denen sich kulturpolitische Konsequenzen ergeben. Wenn sich
einer Politik und Kultur durch den Magen gehen lässt, vermag
er die gesamteuropäische Speisekarte wohl besser zu lesen.
Prost im Ryhthmus der Neunten - so ganz ohne Umstände. À
la Gauß?
Unterwegs nach Europa. Ausganspunkt: Österreich.
Endpunkt: Salzburg-Wien. Nun gut, die Strecke Salzburg-Wien ist
freilich an sich kein Punkt im engeren Sinne, genauer gesagt, diese
Strecke ist überhaupt kein Punkt, ja kann es nicht sein, sondern
offensichtlich eine Linie, womöglich sogar eine Linie im weitesten
Sinne, aber jedenfalls keine gerade, zuckt sie sich doch sozusagen
recht unkontinuierlich durch ein in mehrfacher Hinsicht recht ansehnliches
Stück Neu-Europa.
Lange war der Autor „nur lesend auf europäische
Wanderschaft gegangen“, und lesend folgen wir ihm nun - denn
außer „seinem“ Fotografen Kurt Jandl leidet er
ja kaum Begleiter auf abwegigen Schnüffel-Touren. Tief in die
oft divergierenden Mentalitäten der neuesten Europäer
wagt sich dieser Salzburger Kultur-Scout hinein, um der Integration
auf die Zähne zu fühlen. Er ist nicht immer optimistisch
aufgelegt, doch einfach in die Rolle des Euro-Skeptikers zu schlüpfen,
das wäre ihm zu viel - oder eben doch zu wenig.
Weil Gauß in Salzburg wohnt, fängt das
Buch natürlich in Salzburg an, und zwar in einem von einem
türkischen Zyprioten geführten griechischen Restaurant
(in der Tat eine Erweiterung). Dann geht es über Estland, Lettland,
Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Slovenien nach Malta,
der Insel, die sich zum EU-Beitritt nicht weniger als 76 Sonderklauseln
ausgehandelt hat, weil sie so günstig, d.h. so strategisch
liegt. Die kulinarisch-diskussionsfreudig angekündigte Textreise
führt dicht heran an ihre semitische, doch in lateinischen
Buchstaben geschriebene Sprache, die „in der wechselvollen
Geschichte des Landes gewissermaßen Grammatik geworden ist.“
Als gleichsam essayistisch-kulturwissenschaftlich bedienter Textkonsument
liest man sich leicht selber mit hinein in die offene Diskussion
rund um den erweiterten Alltag und fragt bald unvermittelt: Könnte
eine solche Sprache etwa haltbare Spielregeln für die Integration
stiften - auch über Malta hinweg?
Der Zeitplan lässt wenig Ruhe. Neue Gerichte
warten, neue Urteile werden gefällt, neue Erkenntnisse gezeitigt,
aneinendergereiht, aktualisiert, gestapelt. Ein leiser Verdacht
schlüpft wie subversiv durch den Text: die europäischen
Ecken sind in Wirklichkeit rund. Man legt den Verdacht beiseite,
hebt ihn auf, schreibt ihn nieder, versiegelt das Schriftstück,
archiviert es - wie als sei man in Bruxelles. Des weiteren saust
man mit dem Bartok-Bela-Express nach Ungarn. Nein, nicht aus Malta,
aus Salzburg. Und eigentlich geht es ja gar nicht nach Ungarn, sondern
bloß nach Wien. Immerhin dauert die Fahrt volle fünf
Stunden, die man ja strenggenommen in Ungarn verbringt. Denn „der
Bartok Bela ist ein Zug der Österreichischen Bundesbahn, aber
sein Speisewagen ist ungarisches Territorium.“
Von Wirtshaus zu Wirtshaus bewegt sich der Leser innerhalb
des Textes, innerhalb der jornalistisch, der literarisch verklärten
Erweiterungszone europäischen Selbstverständnisses. Oder
das Wirtshaus bewegt sich sogar mit - wie im Falle dieses interkulturellen
österreichisch-ungarischen Speisewagens. Plaudern kann der
Gesellschaftskritiker stundenlang in so einer mobilen Instanz der
Doppelgastronomie, besonders, wenn er sich etwas davon verspricht.
Denn zu einer ökonomisch bedingten Gemeinschaft gehört
eine kulturelle Identität. Zu einer Esskultur gehört eine
Quatschkultur. Zu einer Frage gehört eine Antwort.
Zwischen geschichtlichem Verhängnis und politischer
Voreingenommenheit liegen viele Standortbestimungen herum - jeder
Reisende kann sich bedienen, ob nun Autor oder Leser. Der Autor
will allerdings keine Antworten parat haben, sondern vielmehr zum
Staunen anregen (wozu sein Ton freilich unter Umständen zu
belehrend klingen mag). Wenn man das Buch als eine Art Gauß-Express
zur Europakunde betrachtet, so braucht man keine neunzig Seiten,
um sich durch zehn Beitrittsländern, das heißt durch
zehn bereits beigetretenen Beitrittsländern herumzustaunen
(Zählen Österreich und Bayern, so sind’s ihrer möglicherweise
gar zwölf). Ein treuer Leser, ein bildungsfreudiger Europäer,
ein neugieriger Buch- und Bildkonsument wäre dann wohl sowas
wie ein verdauungstüchtiger Stammgast in Gauß’
abwechslungsreichem Restaurant am unbeständigen Ende unseres
nicht-linearen Kontinents.
Vasile V. Poenaru
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