XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
24.10.2006

 
 

 

 
 

 

 

Medien - Kultur - Schau




   
 
 

Heleno Saña: Don Quijote in Deutschland. Autobiographische Aufzeichnungen eines Außenseiters. PapyRossa Verlag, Köln 2005.

Heleno Saña ist ein angesehener spanischer Schriftsteller (Barcelona, 1930) aber seit über vierzig Jahren in Deutschland wohnhaft. Er hat bereits eine beachtliche Anzahl Bücher publiziert, bis Ende der siebziger oder Anfang der achtziger Jahren auf spanisch verfaßt, seitdem vorwiegend auf deutsch. Aus diesem Grunde können wir ihn als spanisch-deutschen Schriftsteller betrachten, obwohl in seiner Persönlichkeit und Denkweise das spanische Substrat immer noch eine sehr wichtige Rolle zu spielen scheint (zum Beispiel in seinem unbestechlichen Quichottismus). Und obwohl das Genre, das er am meisten pflegt, der sozio-politische und sozio-kulturelle Essay im breitesten Sinne des Wortes ist, finden wir in seiner bereits langen Bibliographie, unter anderem, Gedichtbände, Zeitungsartikel, Übersetzungen aus dem Deutschen ins Spanische von Max Frisch, Martin Walser, Günter Grass, Heiner Kipphardt etc. sowie Werke wie Crónica de una ausencia (Chronik einer Abwesenheit), das wir dem autobiographischen Genre zuschreiben können.

Das Buch, das wir jetzt besprechen, wird vom Autor selbst im Untertitel als autobiographisch bezeichnet, allerdings nicht im üblichen Sinne, wie er selbst uns versichert: „Eine Autobiographie im konventionellen Sinn beabsichtige ich freilich nicht zu schreiben“. Auf der darauffolgenden Seite schreibt er: „Ich werde vornehmlich von meinem inneren Leben sprechen“ weil „Das Wichtigste die Seele ist“. Aus diesem Grunde finden wir in seinem Buch nicht so sehr Beschreibungen von Tatsachen oder von äußeren Ereignissen sondern vielmehr Ideen, Überlegungen und Gedanken, die sich auf sein Innenleben beziehen, auf Themen, die ihm dauernd Sorge bereiten und zu schaffen machen, Themen aus dem sozialen, politischen und ethischen Bereich. Unter anderem können wir darin zwei großen Bezugspunkte ausmachen: die zwei Länder nämlich, in denen der Verfasser gelebt hat, das heißt, das Spanien nach dem Bürgerkrieg und Franquismus, in dem er in der Opposition und im Untergrund mitarbeitete, aber auch das Land in dem er seine ersten Publikationen veröffentlichte (bis ca. 1960). Auf der anderen Seite finden wir das Deutschland wo er sich nach diesem Jahr niederließ, ein Land dessen Gesellschaft, Kultur, Mentalität und Geschichte er hervorragend kennt und dessen Sprache er beherrscht, wie er in vielen seiner Bücher eindrucksvoll bewiesen hat: Das Vierte Reich, Die verklemmte Nation, Die Deutschen. Zwischen Weinerlichkeit und Größenwahn, Das Ende der Gemütlichkeit usw. Das erste auf deutsch verfaßte Werk, in dem er sich mit dem Land auseinandersetzt, in dem er seine zweite Lebenshälfte verbracht hat (Verstehen Sie Deutschland? Impressionen eines spanischen Intellektuellen) ist nach meiner Überzeugung eines der treffendsten und brillantesten Bücher, das je von einem Spanier über Deutschland geschrieben wurde.

Aber Heleno Saña, der zur Einsamkeit neigt und sich fast als ein Eremit überall begreift, glaubt, daß seine wahre geistige Heimat weder Spanien noch Deutschland sind, sondern vielmehr seine intellektuelle Arbeit, seine Beschäftigung als Schriftsteller, die ja „per definitionem“ die Isolierung gegenüber der Außenwelt impliziert, „la solitude orgueilleuse de l’écrivain“, wie es J.P. Sartre formuliert hat: „Weder Spanien noch Deutschland sind meine Heimat. Meine Heimat sind meine Gedanken, meine Lektüre, meine Schriftstellerei, meine Träume, mein Kampf um eine bessere, humanere Welt“. Aber nicht nur das: das und außerdem die romantische Liebe zu seiner Frau: „Meine einzige, wahre, täglich erlebte Heimat (ist) meine Frau... Ich gehöre sonst nirgendwohin“. warum schreibt Heleno Saña diese Art persönlichen Memoiren? Er kann uns nicht mit absoluter Sicherheit sagen, welcher Impuls oder welches Motiv ihn dazu bewogen haben: „Vielleicht das unbewußte Bedürfnis, Bilanz zu ziehen, bevor es zu spät und meine Stimme für immer verstummt ist“. Traurige Gedanken, kann man wohl sagen, aber dem kann man entgegensetzen, daß nicht alles spurlos verschwinden wird, es werden seine Bücher bleiben, und damit seine Innigsten Ideale, für die er das ganze Leben gekämpft hat, sein Vermächtnis also.

Dieses Buch, pünktlich im Jahre der vierten Jahrhundertfeier der Erscheinung des berühmtesten Werkes der spanischen Literatur aller Zeiten herausgekommen, ist eine Hommage sowohl an Cervantes wie auch an Don Quijote, wobei Heleno Saña sich mit dem Held des Romans aufgrund einer Seelenverwandschaft identifiziert:“Ich brauche nicht zu unterstreichen, daß ich mich selbst meine, wenn ich von Don Quijote spreche, was auch umgekehrt gilt“ (Der Titel ist bereits ein Hinweis darauf). Aber darüberhinaus ist es nicht nur eine Hommage an Cervantes und Don Quijote, es ist auch eine ernste und aufrichtige, selbstkritische Bilanz seines eigenen Lebens und gleichzeitig eine rührende Liebeserklärung an seine deutsche Dulcinea, das Wichtigste in seinem Leben:“ Das Wichtigste bleibt... meine Frau und ihre großartige Liebe“.

Das Buch ist in einer fließenden, transparenten, sehr gut lesbaren Prosa geschrieben, das Interesse und die Spannung beim Lesen läßt nicht nach, weil der Autor, wie Karl Kohut treffend gesagt hat, „der geborene Erzähler“ ist. Es ist ein Beispiel mehr aus der Feder dieses spanisch-deutschen Intellektuellen, Dichter und Denker, halb Asket, halb Guerrillero, quischottisch bis ins Mark, der zahlreiche Polemiken hervorgerufen hat mit seiner kritischen, unkonformistischen und unbestechlichen Haltung auf seinem unbequemen Weg, immer auf der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit.

José Rodríguez Richart


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Horst Hensel: Sturzacker. Roman einer Jugend. asso-verlag, Oberhausen 2005.

Die deutsche Literatur ist nicht reich an Lebensgeschichten aus der Arbeiterklasse; noch rarer sind Romane mit der Darstellung von Industriearbeit. Beides bietet Hensels Roman, und schon deswegen verdient er Aufmerksamkeit, zumal er in den 1960er Jahren spielt, in jener Zeit der Umbrüche in der Industriearbeit, als die gesellschaftspolitische Arbeiterliteratur zu ihrem neuen Höhenflug ansetzte.

Sturzacker erzählt die Geschichte des Bergarbeitersohns Frank Fechner, der nicht aufs Gymnasium darf, weil die Eltern die Kosten scheuen, sich nach dem Volksschulabschluss dem Willen des Vaters fügt, der U-Bootfunker im Zweiten Weltkrieg war, und als knapp Vierzehnjähriger eine Lehre als Fernmeldeelektriker beginnt. Obwohl er alle Prüfungen in dieser „Elite der Elektroberufe“ besteht, als Geselle mit einem Bautrupp Fernmeldeämter überholt, versucht er aus dem ungeliebten Beruf herauszukommen, aus dem vorgezeichneten Weg als Arbeiter auszubrechen. Zwei Wege beschreitet er, gleichzeitig, den einen, die Schriftstellerei, ohne Plan und ohne handfestes Ziel, über zwei Autodafés, den anderen, ein Studium zu einem akademischen Beruf, systematisch und zielstrebig; er will es bis zur „Doktorprüfung“ bringen.

Ein Roman über einen sozialen Ortswechsel, der mit Brüchen, Widersprüchen und Irritationen verbunden ist und dem Autor Gelegenheit gibt, proletarisches Leben und akademisches aus dem Blickwinkel eines Dazugehörigen wie auch Außenseiters zu beleuchten.

Ein Blick auf Horst Hensels Biographie zeigt, dass sein Held Frank Fechner stark autobiographische Züge trägt. Auch Hensel ist 1947 in eine Bergmannsfamilie hinein geboren, auch er war Fernmeldetechniker in Dortmund und München und kam über den zweiten Bildungsweg zum Abitur und zum Studium, auch Hensel hat in München politische Wissenschaften studiert, auch er war als Werkstudent Schmelzer in einem Eisenhüttenwerk, und er hat den Doktortitel erworben. Man merkt es der Erzählung an, dass hier authentische Erlebnisse zu einem dichten historischen Zeitroman verarbeitet sind.

Hensel ist kein Unbekannter. Er hat sich dem „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ angeschlossen, war Ende der 70er Jahre fast drei Jahre lang dessen erster Sprecher und griff mit einem Buch in die Debatte um die Probleme des Werkkreises ein („Werkkreis oder Die Organisierung politischer Kulturarbeit“, 1980). Neben gesellschaftskritischen Romanen („Aufstiegsversagen“ 1984) hat Geschichten über den Alltag im Ruhrgebiet geschrieben und historische Romane („Die Sehnsucht der Rosa Luxemburg“ 1987; „Stauffenbergs Asche“ 2001), ferner Kinderbücher und sehr viele pädagogische, wissenschaftliche und literarische Essays und Aufsätze für Zeitungen, Zeitschriften, Sammelbände und den Hörfunk.

Dennoch ist der Roman keine reine Autobiographie. Hensel geht es um die Unsicherheiten eines Jugendlichen in der sich rasch wandelnden Kohle-und Stahl-Industrie des Ruhrgebiets. Die Brüche werden z.B. in der Lektüre des Viellesers Fechner deutlich. Die Presseberichte über Ernest Hemingway, der sich am 2. Juli 1961 erschoss, schaffen den ersten Kontakt zu Hemingways Erzählstil; außerdem macht das Titelbild im Spiegel Fechner zu einem regelmäßigen Leser dieses Nachrichtenmagazins. Nicht weniger beeindruckt ist der Held von Max von der Grüns Irrlicht und Feuer. Dass von der Grün selbst Bergmann ist, also aus Fechners Milieu stammt, und dass er die realistische Darstellung von Arbeit und Lebensverhältnissen von Bergleuten zum Thema seines Romans macht, fasziniert Fechner.

Sein Bildungsweg beginnt beim Bücherschrank seines Großvaters und setzt sich fort in der Leihbücherei Schulze, im Hinterzimmer eines Papier- und Zeitschriftenladens, einer typischen Erscheinung der Nachkriegszeit, die heute verschwunden ist. Dort leiht er sich Romane von Gorki, Jack London, B. Traven, Françoise Sagan und Pasternak aus, auch von Kafka, liest „Buddenbrooks“, „Tonio Kröger“, Schillers „Räuber“ und Storms „Schimmelreiter“. Seine Lektüre reicht von Grimmelshausen „Simplizissimus“ über Sealsfields „Kajütenbuch“ bis zu Gedichten von Lenau, Mörike und Uhland. Goethes Leben liest er in Friedenthals Biographie.

Die scheinbare Wahllosigkeit der Lektüre ist auch der Spiegel seines sozialen Ortswechsels. Der Bildungsweg verläuft von Hemingway und von der Grün über die Lektüre von Goethes Faust I und Faust II, Hölderlin, Nietzsche und Sartre wieder zu Max von der Grün. Als er in München an der Hochschule studiert, liest er Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ und nimmt sich vor, die vierzigbändige Goethe-Taschenbuchausgabe zu kaufen und alle Werke zu lesen: Der Aufstieg ins Bürgertum ist abgeschlossen.

Franks erste ernsthafte Literaturversuche bestehen in zwölf Prosagedichten, die er dann aber verbrennt. Als Student plant er „ein Tagebuch der Arbeit im Stahlwerk“ und eine Geschichte: „Jesus - als Revolutionär gekreuzigt“.

Der Roman ist reich und spannend durch seine realistische Darstellung der bundesrepublikanischen Gärung in den 60er Jahren vor 1968. Schauplätze der ersten Hälfte sind Kamen-Methler, im Roman „Industriedorf“ genannt, wo seine Eltern wohnen, und Dortmund, was der Ruhrgebietsunkundige bis Seite 175 mühsam erschließen muss, erst dann fällt der Name der Stadt. Der zweite Teil spielt in München, wo Fechner tagsüber als Fernmeldetechniker arbeitet und abends an der „Hochschule für Politische Wissenschaften“ sich auf das Abitur vorbereitet.

Hensel versteht es, mit oft nur wenigen Strichen ein plastisches Bild der von Landschaft und Gesellschaft zu zeichnen. Da ist das ländlich industrielle Ruhrgebiet: „Gehöfte und Felder, Siedlungen und Zechen. Ein Horizont aus Fördertürmen“, „Rauch von Kokereien und Stahlwerken. „Und wieder ein gepflügte Brachfeld, ein Sturzacker“. Wie die Einfahrt in die Grube gehört für den Bergmann zum Leben das Schweineschlachten und der Schrebergarten.

Die Darstellung der Jugendlichen unter sich fängt die Knappheit und Härte des Umgangs ein. Das gilt auch für die Liebesversuche, bei denen Sex vor Liebe geht und drastisch ausschweifend erzählt wird. Innensicht der Figuren wird meist vermittelt über signifikante Handlungen, weniger durch ausfaltende Rede, weder des Erzählers noch in Dialogen.

Hensel beschönigt nicht. Die Familie Frank Fechners ist konservativ, der Vater verbietet der Mutter zu arbeiten, die den Mann zu bedienen hat, der Sohn soll Proletarier werden wie er selbst. „Zechenbetriebsrat und Privatausbeuter“, schimpft der Sohn auf den Vater. Obwohl Fechner später sagt, sein Elternhaus sei „ein Haus voller Geschichten gewesen“, von denen der Roman leider sehr wenige erzählt, fällt das wortkarge Klima in der Familie auf. Grotesk, dass der nur selten redende Vater, der den Sohn nicht auf das Gymnasium ließ, sein Tagebuch seinem Sohn zu lesen gibt, in dem die Eltern kurz vor Franks Geburt sich vornehmen, den Sohn nach Goethes Poesiealbumsspruch „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ zu erziehen.

Die Fechners gehören zum SPD- und KPD-Proletariat, das von den Nationalsozialisten drangsaliert und verfolgt wurde, „manche waren von der SA totgeschlagen worden, wie einer der Großväter“. Der Sohn setzt die Tradition fort, kritisiert den Vietnamkrieg, gilt als „ein verkappter Kommunist“, liest das „Kommunistische Manifest“. Die Mutter warnt: der Kommunismus sei verboten, Frank käme ins Gefängnis.

Hensel schildert Arbeit, nicht nur betriebliche Realität, sondern auch den Arbeitsvorgang, exemplarisch an zwei Beispielen. Das Herstellen eines U-Eisens wird mit großem Sprachaufwand und präzisen Begriffen der Fachsprache in einem temporeichen Satz über eine ganze Buchseite anschaulich. Ein Ausschnitt:

„Sie bohrten und feilten eine Raute in den Rücken des U-Eisens, feilten aus einem Stück Stahl eine Raute, die in die Rauten des U-Eisens passte, es kam auf zehntel Millimeter an, auf Maßgenauigkeit bei allem, auf die Parallelität der Wangen des U-Eisens, darauf, dass die Flächen völlig plan geschruppt und danach die Oberflächen glatt und fein glänzend geschlichtet wurden, die immer feineren Schlichtfeilen mit einem immer feineren Hieb...“

Eine Stippvisite in der Zeche seines Vaters gibt Einblick in den Umgang der Kumpels und die Arbeit unter Tage. Höhepunkt der Darstellung von Arbeit ist Franks Praktikum in einer Eisenhüttengießerei, die der Held euphorisch erlebt. Hensel erzählt das hinreißend, in zwei Abschnitten, das erste Mal als erinnerten Dokumentarfilm einer untergegangen Arbeitsweise, dann als szenischen unmittelbaren Vorgang.

Daneben die Hochschule, das Studium in München, in einer Gesellschaft von Schlipsträgern; die Studenten siezen sich. Satirisch komisch Fechners Prüfung für die Aufnahme in die studentisch linke Organisation „GAST“: der Proletarier Frank hält gewerkschaftliche Arbeit für sinnvoll und fällt damit durch bei einer Organisation, die für den Sieg des Proletariats kämpfen will.

Die starke Autobiographik hat vermutlich zur Folge, dass Hensel Abstand zu Held und Geschehen hält. Der Roman wird von einem namentlich nicht genannten Erzähler aus olympischer Perspektive erzählt, der sich allmählich als der über 50 Jahre alte Held erweist. Der aber erzählt formal nicht von sich, sondern von einem Jugendlichen, in der dritten Person. Der Roman ist durchzogen von Floskeln wie: „Ich sehe ihn noch“. Dadurch rückt der Erzähler Fechner ab von sich und seiner Jugend. Hensel gewinnt durch diese Erzählweise die Möglichkeit, aus scheinbar neutraler Perspektive Reflexionen über den Helden anzustellen, wovon allerdings zu selten Gebrauch gemacht wird. Die Distanz zeigt sich auch darin, dass uns Autor Hensel eine Kostprobe von Fechners Prosagedichten vorenthält. Insbesondere nimmt man dem Erzähler nicht ab, dass der phantasiebegabte Junge nur sexuelle Wünsche, aber keine personalen Liebeswünsche hat. Fechner als Erzähler müsste wissen, welche Phantasien z.B. die Liebesbeziehung mit der viel älteren Frau freisetzt. Erzählt wird das Verhältnis als ein ausschließlich sexuelles.

Es ist ein Zeichen für die Schnelligkeit des industriellen Wandels, dass die Realistik der Darstellung bundesrepublikanischer Gesellschaft von vor vierzig Jahren zugleich nostalgische Züge hat. Weniger durch Hensels Art der Darstellung, sondern durch den weitgehenden Untergang der Montanindustrie im Ruhrgebiet und in Deutschland überhaupt und das endgültige Ende der Nachkriegszeit. Das aber macht die Lektüre des Romans besonders interessant.

Rüdiger Scholz

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Dadi Sideri-Speck (Hrsg.): Fern von der dicht besiedelten Sprache. Griechische Lyrik der Gegenwart.Griechisch-Deutsch. Romiosini Verlag, Köln 2006.

In Heft 3/2002 hatte ich auf den griechischen Lyriker Alexandros Issaris (geb. 1941 in Serres) aufmerksam gemacht. Diesmal soll insbesondere hingewiesen werden auf Vassilis Ioannidis (geb. 1948 in Thessaloniki). Anders als der studierte Architekt Issaris ist Ioannidis Arzt, übt aber schon seit 15 Jahren seinen Beruf nicht mehr aus, sondern wirkt als Maler und Dichter. In der vorliegenden Lyrikanthologie ist er erstmals mit Übersetzungen seiner Haikus vertreten: Vollmond / und die Einsamkeit / leuchtender Stern / mitten am Himmel. Und ein weiterer Kurzzeiler: Alle Wörter / sind Sterne geworden; / und suchen dich. In seinen Versen bewahrt er sich einen Schimmer von Selbstgewissheit, wo seine zahlreich in diesem Band versammelten Dichterkolleginnen eher zu Ungewissheiten, zu Larmoyanz neigen. Denn wenn es die Vätergeneration - Kavafis, Ritsos, Seferis, Elytis, Embirikos, Engonopulos - auszeichnete, die Welt im Großen im Kleinen aufscheinen zu lassen, mutet der poetische Höhenflug der hier Vorgestellten doch zumindest fürs erste mehr wie ein Wagnis mit lädierten Flügeln an. Immerhin ist es bemerkenswert, wie sich eine große poetische Tradition erhält und fast ungebrochen fortsetzt.

Der jetzt erschienenen Anthologie, die dreiundvierzig Namen - von Takis Varvitsiotis (geb. 1916 in Thessaloniki) bis Jorgos Christodulidis (geb. 1968 in Moskau) und Vassiliki Nevrokopli (geb. 1968 in Serres) - auflistet, ging der von der gleichen Herausgeberin erarbeitete Band „Unter dem Gewicht der Wörter“ (Romiosini Verlag, Köln 1999) mit achtundzwanzig anderen Autorinnen voraus. Ist es das einst von Ludwig Curtius wahrgenommene Agens, das zu dieser verblüffenden dichterischen Rührigkeit in Griechenland veranlasst? Eigentlich sei das Wort des Dichters doch zu schwach, um dem Ausdruck zu verleihen, worin Weltanschauung im Griechischen ihren Ausgangspunkt hat: „Die lineare Prägnanz der in ihrer Fülle unabsehbaren, jedes Mal so reizvoll durchgebildeten landschaftlichen Motive, von denen jedes wieder eine kleine Welt für sich darstellt, das blendende Weiß der überall hingestreuten griechischen Kapellchen, Kirchen und Klöster, das silberne Geglitzer der Olivenwälder, der zugleich immer wieder vom Einzelnen in der Nähe in die Ferne gleitende Blick, wo aus der blauen Flut wieder neue Küsten, noch leise duftverschleiert neue Inseln aufsteigen und in neuer Ferne das Festland den Horizont einsäumt, der Wechsel, den in diesem Panorama das sich verändernde Tageslicht hervorruft, so dass der erstaunliche Aufbau der Landschaft sich nicht nur durch die bei der Klarheit und der Helligkeit des Lichts bis in die letzten Gründe sichtbare lineare Gliederung, sondern auch als ein farbiger durch die Abstufung der Farbtöne im Hellen und im Schatten vollzieht.“

Solche Schattierungen vollziehen sich im Gedicht „Unerfahrener Begleiter“ von Christophoros Liontakis (geb. 1945 in Heraklion) keineswegs traumwandlerisch: Einen Zauber wirft das Licht auf sein Gesicht. / Es betont den Schatz der Trauer / und bildet wieder die uralte Schönheit / Die Trugbilder des Schlafs, die hilflose Anmut und / jenes unerwartete Singen der Nachtigall geben ihm Kraft / und er startet mit Vollgas dem Verderben zum Trotz. / Ein unerfahrener Begleiter von Orpheus.

Und wo bei Liontakis dann Landschaft thematisiert wird, heißt es ebenfalls ganz unromantisch: Die politische Landschaft bekommt Risse, / und die Dialektik torkelt. - Ferne kommt ins Bild zum Beispiel bei Stavros Safiriou (geb. 1958 in Thessaloniki), wo allerdings das von ihm als Metapher für weiten geistigen Horizont erwähnte, aus dem 4.-3. vorchristlichen Jahrhundert stammende indische Lehrgedicht nicht Bagwat Cita, sondern nach der üblicherweise im Deutschen gebrauchten Titelschreibung Bhagavadgita heißen müsste. - Man wird nun wohl mit noch größerem Interesse darauf schauen, in welcher Weise das griechische Agens auch künftig in der griechischen Dichtung fortwirkt.

Horst Möller


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Spuren – Tragovi. Auf dem Weg der Kultur ins neue Millennium. Zweisprachige Anthologie der Poesie (Serbisch/Deutsch). Ausgewählt und übersetzt von Dragica Schröder. Hrsg: Nikola Vukolic, Stiftung Petar Kocic. Banja Luka-Beograd 2006

Eigentlich läßt sich diese Anthologie als feuchtfröhliche Elego Eloge auf jene Felsenkegel, auf denen das sentimentale Brückenwerk der Wortkünstler von den Plateaus Balkaniens in weiten Gegenwartsgegenden Germaniens fußt. Und man kann seine Architektin Dragica Schröder, die Poetin und Literaturübersetzerin, ohne weiters als gesundes Gewissen der Stadt Hilden hochhalten. Denn diese „Spuren“ basieren auf lyrischen Beiträgen zu der internationalen Kulturmanifestation „Auf dem Weg der Kultur ins neue Millennium“ dieser Stadt.

Für Dragica Schröder stellt dieser Lyrikband „einen Funken am düsteren modernen Kulturhimmel dar, der ein wenig Licht spenden soll. Ob es nur ein Funke bleiben wird, oder zur Freude vieler Autoren und Leser sich in eine Flamme entwickeln wird, hängt ausschließlich davon ab, wie sehr wir geschafft haben, einen Weg zu der Seele und zum Herzen derer zu finden, für die diese Poesie geschrieben wurde.

Das ist der erste Schritt zum gewünschten Ziel, auf dem Weg, auf dem die Spuren verbleiben sollen, wonach ich den Titel dieser Gedichtsammlung ausgewählt habe.“

Und „Spur im Herzen“ lautet der Titel eines Gedichtes von Dragica Schröder in „Spuren“:

Wir verlassen uns auf unsere Sinne,
auf das was wir sehen,
hören, spüren.
Das Blau des Himmels,
zarte Harfenmelodie, Jasminduft.
Manchmal
wecken sie in uns
Erinnerungen an früher,
an die Begegnungen
die tief in uns
versteckte Spuren hinterließen;

Düfte die schöne Augenblicke
in uns neu entfachen.
Vielleicht sind die Düfte
dazu da um unsere Beziehung
zur Umwelt zu bestimmen.
Um die Einfluss auf unsere Gedanken,
die andauern, zu nehmen,
oder ein ungelöstes Geheimnis,
warum die Düfte in unserer Erinnerung
ewig verbleiben.

Vierzig Autoren sind in diesem 250 Seiten umfassenden literarischen Sammelwerk mit je zwei Arbeiten vertreten. Manche von ihnen gehören seit etlichen Jahren zum Poeten-Kreis der Zeitschrift DIE BRÜCKE wie Ljiljana-Lili Lukic´ mit ihrem Verstitel „Die verkehrte Welt“:

Der Roboter
Ein Gefüge aus Plastik, Metall, Draht...
Unfähig zu denken, fühlen...
Programmiert zu sagen
Was sich gut anhört.
Angenehmes für den Menschen.

Der Mensch
Von gesellschaftlich aufgesetzten
Barrieren befreit
Nimmt die Maske ab und gesteht,
dass ihn Angst und Zweifell zerreißen
wegen Allem anderes denkenden,
das ihn umgibt.

Er setzt erneut die Maske auf
Und wird zum Menschlichen
Roboter.


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Margot Marquardt & Bratislav Rakic: zwei worte. Lyrik in zwei Sprachen (Serbisch und Deutsch). Banja Luka 2006

Als Herausgeber dieses zweimal 245 Seiten umfassenden eigenartigen Bandes werden Zivko Vujic, Necati Mert und Michael Tonfeld aufgeführt, und als Verlage „ZUPA 22 S“ (Bürgerverein Banjaluka), WERKKREIS (Literatur der Arbeitswelt) sowie DIE BRÜCKE (Forum für antirassistische Politik und Kultur).

Der kooperativen Publikation ging das Augsburger Friedensprojekt „PAX ART 2005 - Krieg und Frieden“ voraus, zu dem die beiden Wortkünstler einen gemeinsamen Beitrag unter dem Titel „Mensch sein - Mensch“ leisteten.

Bratislav Rakic, Jahrgang 1938, präsentiert sich in diesem Band als Lyriker und Übersetzer (für die serbische Version der Verse von Margot Marquardt).

Margot Marquardt, Jahrgang 1947, Malerin und Bildhauerin entdeckt für sich, neben den Farbtönen für ihre Illustrationen sowie Werkstoffen für ihre Installationen, auch die Sprache als elementares Ausdrucksmittel des künstlerischen Schaffens.

Die beiden Verseschmiede begegnen sich im Geflüster von Strophen, begeben sich über den fetten Schatten der verzweigten Zeitströme hinaus auf die Suche nach einem Weiler der Heiterkeit. Danica Nain Rudovic´ bekräftigt in ihrem Nachwort: „‘zwei worte’ ist vor allem ein Lyrikband der Liebe. Die Sprache der beiden Autoren ist im deutschen Teil des Buches angeglichen. Die leisen Töne dieser Lyrik vermitteln dem Leser das Gefühl der Harmonie und Zärtlichkeit.

Rakic und Marquardt haben in diesem Buch eine gemeinsame poetische Konzeption entwickelt, wobei individuelle Distinktionen der Gedichte erhalten bleiben. Im Buch ‘zwei worte’ ertönen zwei Liebesstimmen, die stets harmonisch miteinander einen poetischen Dialog eingehen. Zwei lyrische Subjekte befinden sich in einer Interaktion; durch suggestive Anrede korrespondieren sie miteinander mittels der Aktion und Reaktion. Die Gedichte In diesem Buch bilden eine poetische Einheit, dessen Bestandteile, die Verse der beiden Autoren die Anwesenheit des anderen voraussetzt.“

Ich fragte dich
   "Welcher Weg brachte
   uns zusammen..?"
"Frieden..."
   sagtest du,
"an dem du
   auch arbeitest..."
In unserem Wesen
   hat wunderliche
Ruhelosigkeit geplaudert
   wegen "unseres" Friedens...
Nach dir ist
   Freiheit
   Frieden
   und Liebe
      das Paradies...
Begeistert bin ich...
   ich entdeckte
dass ich dich
   bewusst
angeschaut habe...
(Bratislav Rakic)


alle irdischen guter
hast du
während
der kriegerischen
auseinandersetzung
in deinem
heimatland
selbstlos
verschenkt

mit deinem
geistigen reichtum
deinen
wegbereitenden
werten
hast du
freigiebig
alle wartenden
in deiner
neuen heimat
beschenkt

lass uns gemeinsam
für frieden
freiheit
und liebe
einstehen
und sichtbare zeichen
setzen
(Margot Marquardt)


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Jürgen Roth: Der Deutschland Clan. Eichborn AG, Frankfurt am Main 2006.

Jürgen Roth, bekannt für investigativen Journalismus mit in Jahrzehnten geschultem Blick in Abgründe von Politik und Wirtschaft, versucht das unsichtbare Netzwerk Kriminalität - Wirtschaft - Politik sichtbar zu machen, der Netzstruktur Farbe zu geben.

Gewissenhaft trägt der Autor einen Teil der in der Ära Schröder in unserer Republik ruchbar gewordenen und in Medien publizierten Skandale zusammen, ergänzt sie mit Details, welche die Bestätigung unser aller Ahnung um den dahinter sich abzeichnenden kriminellen Impetus um doch nur Ahnungen bereichern. Ahnungen freilich, die gesundem Menschenverstand keinen anderen Schluß erlauben: Deutschland einig Täterland!

Die Ungeheuerlichkeiten, die Jürgen Roth zu Tage fördert, ihr innerer Zusammenhalt mit den Klammern Kriminelle Energie, Machtwille, Persönliche Bereicherung sind dem interessierten und kundigen Medienkonsumenten keineswegs Neuland. Sie hier für einen Zeitabschnitt gehäufelt auffinden zu können, ist das Verdienst des Autors.

Dem Leser beschert die Anhäufung Zorn, das Gefühl der Ohnmacht und Abscheu, nicht zuletzt vor der Republik, in der er leben muß.

Ob die von Jürgen Roth zusammengetragenen Indizien gerichtsverwertbare Sachverhaltsanalysen zulassen, wird selbst der Fachjurist offen lassen müssen, was der Empörung keinen Abbruch tut.

Erstaunlich bleibt, wie wenig das von Jürgen Roth bemühte Zeitfenster den historischen, ökonomischen und politsoziologischen Zusammenhang zu erhellen vermag, wie entfernt die analytische Arbeit von ihrem Auftrag und Anspruch bleibt. Dies mag mit darin begründet liegen, daß der Autor sein Kaleidoskop mit dem „falschen“ Objekt eröffnet und auch abschließt: mit Gerhard Schröder dem Exkanzler und Gasprom-Neuaufsichtsrat. Ein Sachbuch scheint nicht der geeignete Ort zum Abwatschen von Lieblingsfeinden, auch dann nicht, wenn sie Gerhard Schröder und Wladimir Putin heißen.

Das Zeitalter der Turbo-Industrialisierung hat dem Europa des Zwanzigsten Jahrhunderts zwei Weltkriege beschert. Bescherung insbesondere der Schwerindustrie eingeschlossen. Die Restwelt durfte sich mit täglichen bewaffneten Konflikten begnügen. Ein durchaus kriminelles Wirtschafts- und Politiktreiben. Im Zeichen des Friedens und der Abrüstung bleibt das Kapital. Als Turbokapitalismus setzt es kriminelle Politik und verbrecherisches Wirtschaften fort. Die einst Deutschland aufgehalste Kriegsschuldfrage trifft damit die Restwelt, trifft besonders und zuerst den Westen mit und in seinen Werten. Damit werden Jürgen Roths Feindbilder zu Randfiguren eines globalen Spiels, das Putin und Schröder zumindest nicht als Verlierer aus der Hand geben wollen. Zu Gewinnern werden andere.

So dicht der Autor die Informationsfülle verwebt, einem roten Faden folgt, so wenig geht das Versprechen auf, das schwarz-rot-gold gewebte Netzwerk sichtbar, seine Protagonisten erkennbar, benennbar zu machen. Das befreit keineswegs von Angst um diese Republik. Soweit Jürgen Roth in Vereinigungen engagierter Bürger und der Ausübung demokratischer Rechte einen Hoffnungsschimmer zu sehen vermag, ist diese Aussicht getrübt von der unübersehbaren Tatsache, Demokratie ist tot, läßt uns nichts als einen Leichnam, nichts als die Hülle Demokratismus. Ist Zukunftsangst nicht letztlich nur Produkt furchtbarer Gegenwart?

Dennoch ist Jürgen Roths Buch ein wichtiges Zeitdokument, eine aufschlußreiche Informationsquelle, ein Diskussionsbeitrag, dem hoffentlich viel Diskussion folgt.

Teja Bernardy


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Karl Markus Gauß: Wirtshausgespräche in der Erweiterungszone. 10-Länder-Sonderangebot. Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien, 2005

EU: Wie weiter? Wo geht’s entlang?

Kein biederes Alltagsgeschwätz beim mehr oder weniger unentbehrlichen Veltliner, sondern regelrechte Erweiterungsgespräche mit Hand und Fuß innerhalb eines identitätsstrotzenden Gebietes, das Konjunktur verspricht. Der Titel dieses Buches hat was auf sich. Er klingt nach Wirtlichkeit, nach besonnener Bürgerlichkeit in der bisweilen unbesonnen Integrationspolitik eines Kontinents auf der Suche seines grenzentranszendierenden Selbst.

Nein, er klingt nach Stammtisch. Nach Wandel und Einweihung. Nach einem zum Teil kapriziösen Gesamtblick über die Verwendbarkeit des neuen europäischen Zeugs. Nicht nur liegt dem Rezipienten seine überregionale kulturgeschichtliche Ausstrahlungskraft schon auf Anhieb nahe, sondern sie reicht sogar ungemein fern in die hinreißende Tiefenpsychologie der Lektüre. Ein bisschen Historiker, ein bisschen Bleistiftmeister und ein bisschen Winzer sein, dazu braucht man gute Stube und einen gesunden Appetit - auf große und kleine Worte. Jedes Journal von Gauß ähnelt dem Gespritzten: halb reiner Perspektivenumschlag, halb diffuse Provokation.

Der europäischen Stunde von ihrem mutmaßlichen geographischen Rand her auf die Schliche kommen. Gemeinsam nach Utopia aufbrechen. Durch ein Gläschen in seinen Standortbestimmungen gefestigt, durch zwei Gläschen in seinem Orientierungssinn verunsichert werden. Einfach aufbrechen: Wo hin? Mit was für einen Geschmack, mit was für einer geschichtlichen Einsicht, mit was für Vorurteilen gewappnet? Man denkt sich leicht in verwandte semantisch-gesellige Alternativen rein, die die Zunge lockern, den Geist allerdings zu einem gewissen Grade trüben. Gute Küche, Geselligkeit, Rausch, sprachlich begabte Konkneipanten und die freudige Lektüre von Zeitungen und/oder Reiseberichten tummeln sich in diesem Begriff herum, geraten durcheinander, werden auseinander gerissen, von einander abgeleitet. Doch „Kneipengespräche“ wäre zu Deutsch, „Heurige-Gespräche“ zu österreichisch, „Schlibowitz-Gespräche“ zu östlich (zu erweitert?). Und außerdem gibt’s sowas wohl kaum. Mit „Pub-Gespräche“ ist es offensichtlich auch nicht getan. „Pub“, das riecht zu sehr nach Whisky oder Gin, wo doch ein anständiger Obstler ehrlich gesagt schon eher angebracht sein dürfte, den Beitrittsländern gleichsam als anschauliches Hilfsphänomen, ja als dienliche Alltagsmethaper des Euro-Gefühls im Rahmen des Beitritts „beizutreten“. Dann eben Fine-Dining-Talk? Nein, kein Fine Dining. Und kein Talk, sondern eben Gespräche.

Als Karl-Markus Gauß im April 1998 Heft Nr. 323/324 von Literatur und Kritik der Osterweiterung widmete, meinten in Österreich noch viele, man sollte sich gegen die Beitrittsländer abschirmen, damit deren Staatsbürger nicht etwa österreichischen Grund und Boden betreten. Jetzt meinen noch viele, man sollte sich gegen das Wissen um den Kulrreichtum der neuen Euro-Länder abschirmen. Offensichtlich teilt Gauß diese Meinung nicht.

Go East: Warum das Wort sitzt? In welche Himmelsrichtungen es eigentlich weist? Für wen es ertönt? Für wen es abtönt? Lauter Halbfragen, die zwischen den Zeilen, zwischen den Seiten dieser geistreich dargebotenen Erweiterungstour versteckt liegen. Die semantischen Nebenerscheinungen der Begriffe rufen eine unwillkürliche Neugier nach dem zugrundeliegenden politischen Diskurs wach - und zugleich ein gewisses kollektives Kompetenzgefühl. Ein Wirtshaus hat nämlich offensichtlich mit Wirtschaft zu tun. Darauf meint sich jeder zu verstehen. Und Gepräche in der Erweiterungszone muss es ganz bestimmt geben, sonst gibt es ja keine Erweiterungszone. Speisekarten schaffen Verbindung - auch in Buchform. Die Faustregel im Sack: Wer frisst, der ist.

Dass es Gauß gerade in die Gastronomie verschlagen hat, damit er aus historischer, linguistischer, ethnologischer, ethischer und ästhetischer Perspektive ermitteln kann, was denn größer wird, wenn was größer wird, weist auf das zentrale Prinzip der EU hin: auf die ökonomischen Überlegungen, aus denen sich kulturpolitische Konsequenzen ergeben. Wenn sich einer Politik und Kultur durch den Magen gehen lässt, vermag er die gesamteuropäische Speisekarte wohl besser zu lesen. Prost im Ryhthmus der Neunten - so ganz ohne Umstände. À la Gauß?

Unterwegs nach Europa. Ausganspunkt: Österreich. Endpunkt: Salzburg-Wien. Nun gut, die Strecke Salzburg-Wien ist freilich an sich kein Punkt im engeren Sinne, genauer gesagt, diese Strecke ist überhaupt kein Punkt, ja kann es nicht sein, sondern offensichtlich eine Linie, womöglich sogar eine Linie im weitesten Sinne, aber jedenfalls keine gerade, zuckt sie sich doch sozusagen recht unkontinuierlich durch ein in mehrfacher Hinsicht recht ansehnliches Stück Neu-Europa.

Lange war der Autor „nur lesend auf europäische Wanderschaft gegangen“, und lesend folgen wir ihm nun - denn außer „seinem“ Fotografen Kurt Jandl leidet er ja kaum Begleiter auf abwegigen Schnüffel-Touren. Tief in die oft divergierenden Mentalitäten der neuesten Europäer wagt sich dieser Salzburger Kultur-Scout hinein, um der Integration auf die Zähne zu fühlen. Er ist nicht immer optimistisch aufgelegt, doch einfach in die Rolle des Euro-Skeptikers zu schlüpfen, das wäre ihm zu viel - oder eben doch zu wenig.

Weil Gauß in Salzburg wohnt, fängt das Buch natürlich in Salzburg an, und zwar in einem von einem türkischen Zyprioten geführten griechischen Restaurant (in der Tat eine Erweiterung). Dann geht es über Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Slovenien nach Malta, der Insel, die sich zum EU-Beitritt nicht weniger als 76 Sonderklauseln ausgehandelt hat, weil sie so günstig, d.h. so strategisch liegt. Die kulinarisch-diskussionsfreudig angekündigte Textreise führt dicht heran an ihre semitische, doch in lateinischen Buchstaben geschriebene Sprache, die „in der wechselvollen Geschichte des Landes gewissermaßen Grammatik geworden ist.“ Als gleichsam essayistisch-kulturwissenschaftlich bedienter Textkonsument liest man sich leicht selber mit hinein in die offene Diskussion rund um den erweiterten Alltag und fragt bald unvermittelt: Könnte eine solche Sprache etwa haltbare Spielregeln für die Integration stiften - auch über Malta hinweg?

Der Zeitplan lässt wenig Ruhe. Neue Gerichte warten, neue Urteile werden gefällt, neue Erkenntnisse gezeitigt, aneinendergereiht, aktualisiert, gestapelt. Ein leiser Verdacht schlüpft wie subversiv durch den Text: die europäischen Ecken sind in Wirklichkeit rund. Man legt den Verdacht beiseite, hebt ihn auf, schreibt ihn nieder, versiegelt das Schriftstück, archiviert es - wie als sei man in Bruxelles. Des weiteren saust man mit dem Bartok-Bela-Express nach Ungarn. Nein, nicht aus Malta, aus Salzburg. Und eigentlich geht es ja gar nicht nach Ungarn, sondern bloß nach Wien. Immerhin dauert die Fahrt volle fünf Stunden, die man ja strenggenommen in Ungarn verbringt. Denn „der Bartok Bela ist ein Zug der Österreichischen Bundesbahn, aber sein Speisewagen ist ungarisches Territorium.“

Von Wirtshaus zu Wirtshaus bewegt sich der Leser innerhalb des Textes, innerhalb der jornalistisch, der literarisch verklärten Erweiterungszone europäischen Selbstverständnisses. Oder das Wirtshaus bewegt sich sogar mit - wie im Falle dieses interkulturellen österreichisch-ungarischen Speisewagens. Plaudern kann der Gesellschaftskritiker stundenlang in so einer mobilen Instanz der Doppelgastronomie, besonders, wenn er sich etwas davon verspricht. Denn zu einer ökonomisch bedingten Gemeinschaft gehört eine kulturelle Identität. Zu einer Esskultur gehört eine Quatschkultur. Zu einer Frage gehört eine Antwort.

Zwischen geschichtlichem Verhängnis und politischer Voreingenommenheit liegen viele Standortbestimungen herum - jeder Reisende kann sich bedienen, ob nun Autor oder Leser. Der Autor will allerdings keine Antworten parat haben, sondern vielmehr zum Staunen anregen (wozu sein Ton freilich unter Umständen zu belehrend klingen mag). Wenn man das Buch als eine Art Gauß-Express zur Europakunde betrachtet, so braucht man keine neunzig Seiten, um sich durch zehn Beitrittsländern, das heißt durch zehn bereits beigetretenen Beitrittsländern herumzustaunen (Zählen Österreich und Bayern, so sind’s ihrer möglicherweise gar zwölf). Ein treuer Leser, ein bildungsfreudiger Europäer, ein neugieriger Buch- und Bildkonsument wäre dann wohl sowas wie ein verdauungstüchtiger Stammgast in Gauß’ abwechslungsreichem Restaurant am unbeständigen Ende unseres nicht-linearen Kontinents.

Vasile V. Poenaru

   

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