XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
24.10.2006

 
 

 

 
 

 

 

Kultur - Atelier


   
 
 

Deutschland – ein Rechtsstaatmärchen

Von Michael Kiesen

Es war einmal ein Jurist; der glaubte über viele Jahre hinweg, Deutschland sei ein Rechtsstaat. In seiner beruflichen Praxis hatte er es meist mit Deutschen zu tun. Bei ihnen achteten die Gerichte peinlich genau darauf, dass zu deren Gunsten die formalen und materiell-rechtlichen Bestimmungen eingehalten wurden; die Richter fanden sogar immer wieder subtile Argumente, um die betroffenen Deutschen vor staatlichen Maßnahmen zu schützen.

Da lernte der Jurist einen Mazedonier kennen. Der wurde eines Tages wegen des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs arbeitslos. Nun wies ihn ein Kumpel auf die Geschäftsführerin einer Firma hin; die habe vielleicht einen Job für ihn. Der Mazedonier wandte sich an die Frau. Sie sagte, in ihrer Firma habe sie gegenwärtig keine freie Stelle, aber wenn er ihr preiswert Stoff beschaffen könne, werde sie mal was für ihn tun. Der Mazedonier erkundigte sich in einem Asylantenwohnheim, ob er dort was bekommen könne. So brachte er der Frau zu deren Verbrauch drei Mal Heroin. Sie geriet ins Visier der Polizei, und der Mazedonier wurde festgenommen, als er zufällig bei der Frau war und Polizisten in ihre Wohnung eindrangen.

Ein Kripobeamter bot der Frau an, als Kronzeugin mit entsprechenden Vorteilen auszusagen. Daraufhin sagte sie, der Mazedonier habe sie drei Mal beliefert. Der Mazedonier weigerte sich, Angaben zu machen. Der Haftrichter unterstellte bei ihm Fluchtgefahr, obwohl der Mazedonier einen festen Wohnsitz hatte, eine ganz gut verdienende deutsche Ehefrau und eine dreijährige Tochter.

Die Geschäftsführerin sagte ein zweites Mal aus; diesmal behauptete sie, jeder ihrer 4 Dealer habe ihr jeweils 10 Mal Stoff im Umfang von 20 bis 40 g in den letzten 2 Jahren geliefert, also auch der Mazedonier. Weder die Kripo noch die Staatsanwaltschaft hakte nach, ob die Angaben der zweiten Vernehmung die er ersten ersetzten oder ergänzten, auch wurde die Frau nicht auf die Widersprüche zwischen ihren Aussagen und das Schemenhafte angesprochen. Die Staatsanwaltschaft legte die angeblichen 10 Lieferungen ihrer Anklage gegen den Mazedonier zugrunde und nahm aus der ersten Vernehmung noch eine Lieferung hinzu.

Dem folgte das Schöffengericht, obwohl die Frau in der Hauptverhandlung sagte: „So oft war des net, so lang kenn ich den doch gar net.“ Der Mazedonier wurde zu 2,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Sein Strafverteidiger versicherte, eine Abschiebung drohe nicht, und riet von einer Berufung ab.

Doch die Ausländerbehörde erließ eine Ausweisungsverfügung. 11 Tage nach Beginn der Untersuchungshaft hatte die Behörde dem Mazedonier mitgeteilt, sie prüfe, ob eine Ausweisung möglich sei, und um seine persönliche Situation zu berücksichtigen, erhalte er Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Mazedonier gab das Schreiben seinem Verteidiger, der es in seinen Akten ablegte, ohne etwas zu unternehmen. Nach dem Aufenthaltsgesetz war ein Ausweisungstatbestand erst gegeben, wenn man rechtskräftig ohne Bewährung zu einer Freiheitsstrafe wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt war. Somit wäre es erst nach Rechtskraft des Strafurteils möglich gewesen, dem Mazedonier die Absicht auszuweisen und die dafür maßgeblichen Gründe mitzuteilen und ihm eine Frist zur Stellungnahme einzuräumen, wie sich auch aus der fortgeltenden Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz ergab.

Der Jurist erhob gegen die Ausweisungsverfügung Klage und, weil sofortige Vollziehung angeordnet war, brachte er ein Eilverfahren in Gang. Er setzte sich mit dem ehemaligen Arbeitgeber des Mazedoniers in Verbindung und erreichte, dass ein Arbeitsvertrag ausgestellt wurde, da sich die Auftragslage der Firma erheblich verbessert hatte. Diesen Vertrag legte er mit umfangreichen Ausführungen auch zur familiären Situation des Mazedoniers dem Verwaltungsgericht vor, da das Hauptargument der Behörde war, der Mazedonier habe bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage keine Aussicht auf Arbeit und werde daher wieder dealen.

Als der Mazedonier die Hälfte der Strafe verbüßt hatte, ordnete die Ausländerbehörde plötzlich die Abschiebung an, obwohl ein Stillhalteabkommen mit dem Verwaltungsgericht bestand. Der Jurist eilte zum stellvertretenden Leiter der Ausländerbehörde, den er kannte, überreichte eine Dokumentation über die rechtswidrige Arbeitsweise der Dienststelle für Ausländerangelegenheiten und bat, die Sache wegen der formellen Fehler und des daraus folgenden falschen Sachverhalts, der in der Ausweisungsverfügung wiedergegeben war, nochmals aufzugreifen. Der stellvertretende Behördenleiter lehnte das ab. „Wir gewinnen eigentlich alle unsere Prozesse.“ Der Jurist stutzte. Wie konnte so etwas sein, wenn die zuständigen Beamten grundlegende rechtsstaatliche Regeln nicht beachteten? Er legte die Aussage des stellvertretenden Behördenleiters als Zweckoptimismus aus.

Doch wenige Tage später wies das Verwaltungsgericht den Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung zurück und vertrat die Auffassung, der Mazedonier hätte sich ja nach Rechtskraft des Strafurteils an die Behörde wenden können. Das war jedoch nicht Sache des Betroffenen; denn die Behörde hatte nach den geltenden Bestimmungen „von Amts wegen“ zu handeln. Auch erwähnte das Gericht das Verwaltungsverfahrensgesetz und die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz nicht, obwohl der Jurist deren Verletzung ausführlich dargelegt hatte. Er staunte. Wenn ein Gericht sich über eine Bestimmung ausschwieg, dann gab es sie eben nicht? Oder? So etwas hatte er bei den vielen Prozessen, die er mit deutschen Beteiligten geführt hatte, noch nie erlebt.

Zusammen mit einem Fachanwalt für Ausländerrecht verfasste er eine zwölfseitige Beschwerdebegründung, die der Anwalt beim Verwaltungsgerichtshof einreichte. Der Jurist war sicher, dass dieses hohe Gericht so offenkundige fundamentale Rechtsverstöße nicht dulden würde.

Die Behörde setzte sogar die Abschiebung auf Wunsch des Verwaltungsgerichtshofs aus. Das war ein gutes Zeichen.

Doch einen Monat später mailte der Anwalt dem Juristen, der Verwaltungsgerichtshof habe die Beschwerde zurückgewiesen, eine Begründung liege noch nicht vor. Die Behörde ordnete sofort die Abschiebung an. Vier Tage später flog der Mazedonier nach Skopje zurück.

Er rief den Juristen von der Wohnung seiner Eltern aus an. Der Jurist sagte, er werde den Prozess im Hauptverfahren zwar weiterführen; er glaube aber nicht, dass ein deutsches Gericht zu Gunsten der Klägerseite entscheiden werde; ausländische Straftäter seien für die eben das Letzte, auch setzte sich fast niemand für solche Leute ein; die letzte Hoffnung sei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wo Deutschland laufend Prozesse verliere, wie der Fachanwalt gesagt habe.

Die hübsche, sehr empfindsame kleine Tochter des Mazedoniers wuchs nun ohne ihren Vater auf. Der Jurist besuchte sie und ihre attraktive Mutter, um die neue Lage zu besprechen. Er sagte zu ihnen: „Ich werde immer für euch da sein.“

Der Verwaltungsgerichtshof räumte in seiner Begründung dann zwar ein, es könne schon sein, dass Formfehler unterlaufen seien; die hätten die Entscheidung der Behörde aber offensichtlich nicht beeinflusst und seien daher nach § 46 Verwaltungsverfahrensgesetz unbeachtlich. Diese Bestimmung war jedoch nach den Kommentaren nur anwendbar, wenn es keine Entscheidungsalternativen gab. Da im Verfahren gegen den Mazedonier indes Ermessen ausgeübt und unbestimmte Rechtsbegriffe angewandt wurden, also hierbei unterschiedliche Auffassungen möglich waren, kam § 46 Verwaltungsverfahrensgesetz gar nicht in Frage. Der Jurist wunderte sich, dass ein so hohes Gericht einen so groben und peinlichen Fehler machte. Nun ja, man musste doch Germanien von ausländischem Gesindel säubern; da brauchte man es nicht so genau zu nehmen.

So fand der Jurist, dass die zentrale Ausländerbehörde eines Regierungsbezirks, das Verwaltungsgericht einer Landeshauptstadt, das Oberverwaltungsgericht eines großen Bundeslandes eine Phalanx der Macht jenseits des Rechts gegen vorwiegend jüngere ausländische Mitbürger, die eben mal ausgerutscht waren, bildeten.

„Eben mal ausgerutscht! Was braucht dieser Mazedonier zu dealen!“, wird mancher sagen. „Recht so, dass die Gerichte da durchgreifen.“

Genau diesen Fehler haben die Verwaltungsbeamten und Richter auch gemacht. Sie haben sich von ihrer Emotion leiten lassen, anstatt einfach die geltenden Bestimmungen zu befolgen, wozu sie nach dem Grundgesetz verpflichtet sind. Meinte der Jurist, der nicht mehr glaubte, dass es in Deutschland einen funktionierenden Rechtsstaat gab, soweit es um Ausländer ging.


***


Erlebnis eines Tages

Von María del Carmen González Gamarra


Ich bastle gern. Dementsprechend laufe ich oft durch einen Baumarkt. Manchmal auch einmal in der Woche. Suche Material aus Metall, Holz oder einfach nur Farben und auch Werkzeuge zum Arbeiten, Basteln und Gestalten neuer Ideen. Vor einigen Tagen lief ich wieder durch den Baumarkt mit den drei großen orangenen Buchstaben, der bei uns um die Ecke ist. Suchte dünne und lange Spanplatten, leichte und schöne Griffe aus Kunststoff und eine stabile, gute Säge. Als ich gerade von Herrn Müller beraten werde, den ich aus unzähligen Einkäufen kenne, und der sehr freundlich ist, höre ich, wie hinter mir eine männliche, sehr aggressive und laute, ältere Stimme sagt, „He Mädchen, geh zur Seite. Du versperrst den Weg.“

Da ich mit dem Blick zu Herrn Müller gewandt bin und ihm zuhöre, wie er sich wie immer sehr viel Mühe gibt, den richtigen Rat zu geben, habe ich nicht bemerkt, daß ich meine Spanplatte etwas unglücklich in der Hand halte und dadurch einen Teil des Ganges zwischen den hohen Regalen versperre. Etwas erschrocken drehe ich mich um, als ich diese Stimme höre und auch weil ich einen Stoß mit dem Einkaufwagen gegen die Holzplatte in meiner Hand spüre, von dem ich annehme, daß er von dem Kunden herrührt, der mich mit „He Du“ ansprach. Auch Herr Müller schaut etwas überrascht zum drängenden und wütenden Mann hin, der älter als siebzig aussieht, einen Bauch vor sich herträgt, circa Einmeterfünfundsiebzig groß scheint, dünne Haare hat und mit einem blauen Pullover und schwarzer Hose bekleidet seinem Einkaufwagen zwischen den Menschen durch den Gang zu drängen versucht. Auch andere Kunden, die auf Herrn Müller warten und nur einige Schritte von uns entfernt stehen, reagieren etwas erschrocken auf die plötzlich auftauchende aggressive Stimme des alten Herrn.

Spontan erwidere ich, den alten Mann anschauend, er solle bitte nicht so respektlos „Du“ zu mir sagen. Ich habe auch nicht „Du“ zu ihm gesagt. Er soll bitte höflich fragen. Woraufhin er antwortet, noch lauter als zuvor, „Lern erst Deutsch, ich habe ‘Sie’ gesagt, Du. Deutsch lernen sollst Du, bevor Du hier redest...“ Er wirft noch einige Sätze in dem Raum, die ich aber nicht mehr höre, während er weiter spricht und dabei seinen Einkaufswagen durch alle um uns herum stehenden Verkäufer, Kundinnen und Kunden schiebt. Als er einige Meter von uns entfernt ist, höre ich noch Satzfragmente: „…die sollen Deutsch lernen. Du auch, lern erst Deutsch.“ Dann ist er aus meiner Hörweite verschwunden.

Ich bin sprachlos. Schaue mich um. Sehe Gesichter. Höre die Stille. Vernehme das Schweigen. Beklommenheit ist zu spüren. Peinlichkeit auch. Vor Verlegenheit spricht keiner. Bedrückung schwingt in der Luft.

Wie durch einen Schock ergriffen, stehen alle für einige Sekunde im schmalen Regalgang still und regungslos da. Wie eingefroren. Obwohl einige Kunden plötzlich rote Gesichter bekommen haben. Nur Herr Müller, selten des Wortes arm, bringt ein „ja, ja, ja“ über seine Lippen, während er zum alten Mann und dann zu mir sieht. Eine junge blonde Kundin hinter mir schaut total entgeistert aus ihrem schwarzen Blazer und schüttelt immer noch den Kopf, nachdem der alte Mann schon lange weg ist. Sie hat auch rote Wangen, als würde sie etwas nicht begreifen können, das sich aber gerade in ihrer Anwesenheit ereignet und das sie selbst erlebt hat, wie ihr Blick verrät. Auch ihr großer Begleiter steht sprachlos da. Den Blick in der Leere verhaftet, wirkt er apathisch. Andere Menschen um uns schauen schweigend hinter dem alten Mann her, dann zu mir, dann wieder hinter dem alten Mann her und wieder zu mir. Einige Male. Als empfänden sie Mitleid. Aber mit wem? Bis der alte Mann mit seinem Einkaufswagen zwischen den Regalen in der Halle verschwunden ist. Danach dreht sich jeder mit seinem Blick entweder zum Regal, vor dem er steht, oder richtet den Blick zum Boden.

Ein peinliches, bedrückendes und schmerzvolles Schweigen bestimmt für einige Sekunden die Stille zwischen diesen Menschen, die doch irgendwie auf unbestimmte Weise berührt wirken. Ich konnte mich beim alten Mann nicht entschuldigen, daß ich den Weg etwas versperrt hatte, denke ich, obwohl ich gewohnt bin, mich sofort zu entschuldigen. Mein Vater würde in so einem Fall sagen, deine gute Erziehung ist an die zweite Stelle gerückt, die Verteidigung an die erste, die Zeit hat dich verändert. Du musst aufpassen! Nicht dich anpassen!

Traurig nehme ich wieder mein Holz, die Säge und den Griff, gehe noch einmal zu einem Schraubenregal hin und anschließend zur Kasse, vor der der alte Mann noch steht. Zwischen ihm und mir wartet noch ein Kunde zum Zahlen. Zum Glück, denke ich.

Nachdem ich bezahlt habe und den Baumarkt verlassen will, kommt Herr Müller auf mich zu und fragt: „Alles in Ordnung?“ Ich nicke und bin dankbar für die Nachfrage. Doch die verdrängt geglaubte Träne kann ich nicht mehr zurückhalten. Das Auge mit Tränenflüssigkeit gefüllt, kann die Träne nicht verdrängen; sie schwappt über und rollt, trotz Schluckens, auf der Wange runter. Ich schäme mich. Aber ich lebe, denke ich.

Herr Müller versucht mich zu trösten: „Er ist bei uns bekannt“, sagt er. „Er mischt sich auch in Gespräche ein, wenn wir mit Kunden reden“, fügt er hinzu. Ich nicke. „Wir müssen ihn einfach in Ruhe lassen“, ergänzt er und ich nicke wieder. „Ja“, antworte ich leise und schlucke innerlich die zweite Träne, die sich den Weg aus den Augen bahnen wollte. „Ich kenne solche Dinge. Auch Menschen“, antworte ich. Herr Müller schaut mich etwas gerührt an. Sensibel. „Ich lebe mehr als 40 Jahren hier“, ergänze ich. Dann versagt meine Stimme. Herr Müller spricht weiter. „Er war ein hohes Tier bei der Deutschen Bank, hat mir mein ... erzählt. Nun...“ Dann schweigt auch er.

„Und daß wir nicht den Mund halten können, macht alles noch schlimmer“, sage ich zu ihm. Und die zweite Träne rollt doch noch. Er nickt. „Er kann doch nicht einfach einen duzen“, rede ich weiter. „Das geht so nicht. Nicht so respektlos“, halte ich fest. Herr Müller nickt und wirkt teilnahmsvoll. „Aber ich werde weiterhin zum Einkaufen kommen“, sage ich zu ihm. Er lächelt.

Trotz mehr als 40 Jahren - leben und oft auch sterben - in diesem Land kann ich mich nicht an rassistische Beleidigungen gewöhnen, mich mit Demütigungen befreunden, Verletzungen hinnehmen und mich mit Verachtung arrangieren. Ich habe mich an die Stille in der Menge bei Übergriffen gewöhnt, an das Schweigen unter den dabei zuschauenden Menschen auch, bis ich zum ersten Mal erleben konnte, wie ein deutscher Bürger mit ostdeutschem Akzent Worte fand für eine Tat, die jeden Tag, überall in dieser Republik Menschen widerfährt, die „anders“ aussehen als... Als wer eigentlich?

Diese Geschichte widme ich den Menschen, die begonnen haben das Schweigen zu durchbrechen.


***


Mit jugoslawischen Arbeitern in der MAN

Von Peter Feininger


Ich blickte von der Rampe, auf die wir das schwere Werkzeug in unser Lager hievten, das in vier Meter Höhe auf einer so genannten Galerie einer Werkhalle untergebracht war.

In der Tiefe sah ich auf lautlosen Aufruhr. Eine Gruppe von jugoslawischen und deutschen Arbeitern umringte Carol, der sich noch aus der Nachbarhalle in den Durchgang zu unserer Halle geschleppt haben muss. Er blutete aus der Augenhöhle und stand leicht schwankend aufrecht, obwohl er sich - wie ich später erfuhr - ein Rundeisen durch das Auge bis ins Gehirn gerammt hatte. Ich eilte die Wendeltreppe hinunter und sorgte dafür, dass er wenigstens auf einen der niedrigen Transporthänger gesetzt wurde. Es war eine stumme, verzweifelte Szene bis nach quälenden Minuten endlich der Sani mit einer Bahre und dem Werkssanka kam.

Nach Monaten sah ich Carol wieder. Das Auge war verloren und er mußte mühsam wieder sprechen lernen. Er war zumindest damals, Anfang der 90er Jahre invalide. Die Maschinenarbeit mit den tonnenschweren Teilen war nicht ungefährlich. Carol hatte ein selbst gefertigtes Hebeisen benutzt um das Teil auf seinem Frästisch zu bewegen. Das glatte, schwere Werkstück rutschte ihm vom Eisen, das ausschlug.

Ich kannte Carol als einen sehr freundlichen Arbeiter, der mich manchmal mit seinen weisen Sprüchen beeindruckte. So sagte er einmal, als wir über die kapitalistische Ausbeutung und Widerstandsmöglichkeiten redeten: „Peter, der Ochse zieht den Pflug, solange er seine Kraft nicht spürt“.

Ich lernte Carol in den 80er Jahren in R2 kennen. R2 war eine Werkhalle der Großteilproduktion, in der fast nur „Jugos“ arbeiteten. Carol war glaube ich kein „Jugoslawe“, aber so was ähnliches. Wenn ich mich recht erinnere, sagte er, er sei aus „Siebenbürgen“, das wäre dann eine Gegend in Rumänien gewesen, ein paar hundert Kilometer entfernt von Jugoslawien.

Über den Systemwandel in Rumänien und die Hinrichtung Ceausescus 1989 haben wir nie gesprochen. Vielleicht war Carol von der offiziellen deutschen Abstammungslehre her ein „Deutscher“, aber das merkte man ihm Gott sei Dank nicht an. Er war voll integriert in R2, sein Aufspanner an der Portalfräse war ein Serbe, Todor. Todor war aber nicht der Hilfsarbeiter und Depp, wie oft bei deutschen Maschinenbesetzungen. Carol und Todor waren ein Team. Das zeigte sich auch an dem Unfall. Normalerweise hätte Todor verunglücken müssen, denn aufspannen war seine Arbeit. Aber Carol machte das genauso, wenn er Zeit hatte oder Todor was anderes zu tun hatte.

Einen von dem Räuberhaufen in R2, Geza, machte der leitende Ingenieur zum Capo, später wurde er sogar zum Meister ernannt. Geza kam aus dem jugoslawischen Teil des Banats, der heute der Provinz Vojvodina in der Bundesrepublik Jugoslawien entspricht. Er gehörte dort der ungarischen Minderheit an, er sprach serbisch, ungarisch und auch sehr gut deutsch, hatte eine fantastische Ausbildung als Werkzeugmacher und auch sonst eine sehr gute Bildung. Er überzeugte durch Intelligenz, Fachkenntnis, praktisch-kooperativen Stil und Freundschaftlichkeit. Geza überzeugte auch mich, in vielerlei Hinsicht. Vor seiner Klugheit und seinem Wirken in der Abteilung musste man neidlos Respekt haben.

Ohne diesen Schachzug, Geza zum Capo zu machen, wäre die Betriebsleitung wohl nicht mit diesen eigenwilligen und stolzen Menschen aus den jugoslawischen und benachbarten Regionen klar gekommen. Sie ließen sich nicht viel sagen, sie machten ihre Arbeit „selbständig“, sie waren gute Facharbeiter an den konventionellen Maschinen. R2 war in gewisser Weise eine selbstverwaltete Halle im Produktionsbetrieb der MAN. Und für mich als Neuling in der Firma und frisch ausgebildeten allgemeinen Mechaniker war es echt eine Ehre, in R2 unter Geza zu landen. Die Arbeiter lernten von Geza und lernten sich gegenseitig an und schmissen die Produktion im Kollektiv. Mich schleppten sie irgendwie mit. Sie sorgten auch dafür, dass ich was verdiente und auf meine „Minuten“ kam.

Verglichen mit den Tölpeln und Krücken, Schleimern, Arschkriechern und Nieten, die sonst in der Regel vom Management aus dem deutschen Reservoir als Vorgesetzte in der Produktion handverlesen wurden, war Geza ein wohltuender Sonderfall. Bei deutschen Vorgesetzten war oft nicht klar, ob sie nur aus reinem Opportunismus handelten oder aus Hinterlist, aus Torheit oder echter Geisteskrankheit.

Die Jugos, die vor dem Anwerbestopp 1973 gekommen waren, ließen sich oft auch in Augsburg nieder. Danach war es schwieriger, die MAN deckte ihren Bedarf seitdem in Form von Werkverträgen mit der jugoslawischen Leiharbeiterfirma Monting.

Mit diesen Leiharbeitern, die später auch an NC- und CNC-Maschinen eingesetzt wurden, verstand ich mich gut in den Spätschichten. Es waren Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier. Sie versorgten mich mit selbstgebranntem Slibovic und romantischen Geschichten über ihre Heimat, was die öden Nächte in den fahlen Hallen bedeutend angenehmer machte.

Ein jugoslawischer Leiharbeiter war nicht zu verwechseln mit einem herkömmlichen Leiharbeiter. Er behielt seinen Stolz, sein Nettolohn war mindestens so hoch wie der der deutschen Kollegen, eher höher. 10 oder 20 Prozent des Lohns gingen auf ein Devisensperrkonto der sozialistischen Republik. Es waren so viele in der MAN, dass sie einen eigenen Verwalter, Personalchef, Supervisor oder wie immer man ihn nennen mochte, hatten. Dieser Mensch, der ab und zu im Werk auftauchte, gelegentlich auch mit dem leitenden Ingenieur der Produktion redete, machte einen eher sanften, kumpelhaften Eindruck mit seinem abgewetzten, grauen Arbeitsmantel, einer verbeulten Hose und großen Augen hinter einer Hornbrille - irgendwie kein Vergleich mit einem deutschen Manager.

Die Zeiten wurden rauer in der Firma. Das Management predigte die Teamarbeit und zerschlug die bestehenden Teams. Der Meister von R2 und unmittelbare Vorgesetzte von Geza ging. Er war Landmetzger und hatte den Zirkus wohl nicht mehr nötig. Der Nachfolger war irgendein unbekannter Federfuchser, den der leitende Ingenieur aus den Reihen der Angestellten herausgefischt hatte - aus Gründen, die niemand jemals verstand.

Dieser neue Meister verstand seine Hauptaufgabe darin, jeden Morgen zum Rapport beim leitenden Ingenieur der Produktion zu eilen und zunächst wahllos, später gezielt Leute „auszurichten“. Wie ein geölter Blitz schoss er durch die Hallen und würdigte uns keines Blickes, denn in Gedanken ging er wohl sein neues Dossier durch, das er dem Ingenieur unterbreiten wollte. Wir standen an unseren Maschinen und beobachteten ihn, wie er auf seinem Weg zum Ingenieur auch die Mimik einstudierte. Er schwankte offensichtlich zwischen grimmiger Entschlossenheit und gewinnendem Optimismus. Wahrscheinlich entschied er sich spontan, denn er konnte nie wissen, ob der Ingenieur gerade gut drauf war oder ihn gereizt und mit verquollenem Gesicht empfing - was wohl einem gewissen Alkoholismus geschuldet war. Irgendwie mußte der Ingenieur ja mit dem ganzen Schnaps fertig werden, den ihm die Manager von Monting zuschoben.

Der neue Meister trug einen roten Mantel, wie ein Scharfrichter, und machte natürlich auch Geza das Leben schwer. Obwohl auch Geza einen roten Mantel trug, den er einer Ernennungswelle des Managements verdankte und fortan tragen mußte. Für Geza sollte die Funktion des roten Mantels nicht die Gleichstellung mit den anderen Meistern bedeuten, sondern vor allem eine Distanz zu seinen Arbeitern und Freunden schaffen. Was aber kaum gelang. Er saß jetzt zwar mehr in der Meisterbude nun und hatte irgendwie mehr Papier zu wälzen, aber seine Rundgänge und Gespräche in den Hallen ließ er sich nicht nehmen.

Dass sich der Wind änderte, merkte ich z.B. an der Weihnachtsfeier in R2. Früher grillten die Jugoslawen Cevapcici und schenkten Slibovic aus. Sie setzten sich alle zusammen, luden auch die Deutschen ein, regelmäßig auch den leitenden Ingenieur, der schon wusste, wo es in seinen vielen Hallen was Gutes gab, zum Essen und vor allem auch zum Saufen. Mit roter Birne sah man ihn lange sitzen in R2. Er ließ sich von den Arbeitern verköstigen und Geza war stolz, seinen Arbeitern den Ingenieur als seinen persönlichen Freund und Gast präsentieren zu können. So lullten sie ihren Chef in einer Mischung aus Gastfreundschaft und Verachtung ein bisschen ein und wenn er dicht war, feierten sie alleine weiter.

Eines Jahres war das vorbei. Der Ingenieur untersagte die Weihnachtsfeiern, was den Haufen in R2 nicht weiter störte, aber der nette Herr war nicht mehr dabei.

Um vermutete Kumpaneien innerhalb der Meisterschaft und unter den Capos zu unterbinden, wurde ein junger Ingenieur eingestellt, der sein mageres Gehalt nicht als Ingenieur, sondern als Spießhund verdienen sollte. Er spionierte die Leute aus und knöpfte sie sich einzeln vor. Dragan hatte er bald auf dem Kicker, weil der zufällig schräg gegenüber dem „Büro“ des Ingenieurs - einem mit weiß gestrichenem Holz und Glas verkleideten Verschlag - arbeitete.

Dragan hatte seinen eigenen Stil zu arbeiten. Aber er brachte seine „Minuten“ zusammen - locker. Für das Ingenieurlein, den Spießhund, zu locker. Der Ingenieur beobachtete Dragan Tag für Tag aus seinem Glasverschlag heraus. Eines Tages stellte er Dragan in seinem gescherten Allgäuer Dialekt und wies ihm nach, dass er nichts tat.

Ich bekam die Angelegenheit nicht so genau mit und weiß auch nicht wie es ausging. Jedenfalls sah ich Dragan ein oder zwei Wochen später von meiner Rampe aus vier Metern Höhe unten vor seinem Arbeitsplatz stehen. Er stand in voller Größe, erhobenen Hauptes am Gang, als ob er auf jemand wartete. Seine Gesichtshaut war etwas fettig und gerötet, schwarze gelockte Haare, ein schwarzer dicker Schnurrbart und dunkle Augen ließen ihn noch grimmiger als sonst aussehen. Die Hände waren hinter dem Rücken verschränkt.

Ich machte von oben eine fragende Geste. Dragan blickte zu meiner Galerie hoch, nahm wortlos die rechte Hand hinter seinem Rücken vor, in der eine große, dunkel glänzende Pistole lag. Dann sprach er laut und deutlich, in ernstem Ton: „Den knall ich ab, den Hund?“

Irgendwann war das Ingenieurlein auch verschwunden, aber nicht weil Dragan ihn beseitigt hatte. Ich ließ mir sagen, er hätte gekündigt, weil er hier nichts werden konnte. Vielleicht wollte er doch lieber als Ingenieur arbeiten und nicht als Spießhund. In gewisser Weise war der Mann an den Jugoslawen und anderen Arbeitern gescheitert, aber streng genommen haben sie ihm vielleicht auf ihre Art und Weise zu einem neuen Job verholfen.

Die Zeiten wurden nicht nur im Betrieb rauer. Als sich vier Republiken von Jugoslawien abspalteten und der Bosnisch-Kroatisch-Serbische Krieg ausbrach, kühlten auch die Beziehungen unter den verschiedenen ehemals jugoslawischen Belegschaftsteilen ab. Da ich in diesen Jahren Anfang der 90er nicht mehr in der Produktion arbeitete, sondern in ein abgelegenes Lager auf der Galerie (nicht Galeere) verbannt war, bekam ich nicht viel mit. Es muss aber keine offenen Auseinandersetzungen gegeben haben, sonst hätte man was davon gehört. Der Bürgerkrieg fand in Bosnien statt, nicht in der MAN.

In der Kantine lernte ich mal einen bosnischen Serben kennen, einen Hünen von einem Monteur, mit dem ich mich gelegentlich unterhielt Seine Darstellung des Konflikts beeindruckte mich sehr und gab mir zu denken. Sie widersprach der hiesigen Propaganda, der Serbenhetze, den aufgetischten Massakers diametral. An seinen Berichten musste was dran sein, es konnte nicht alles gelogen sein. Er war auch zu einem Interview in einer linken Lokalzeitung bereit, was ich arrangierte. Besonders beeindruckte er mich, als er seinen Urlaub von zwei Jahren zusammenkratzte um in seinen Heimatort in Bosnien zu fahren und dort die elektrische Energieversorgung zu reparieren.

Zur Zeit der Bombardierung Serbiens durch die NATO, unterstützt durch die Tornados von Lagerlechfeld bei Augsburg, war ich nicht mehr im Betrieb. Unehrenhaft entlassen - sowohl von zu Hause als auch vom Betrieb -, musste ich nur eine neue Existenz aufbauen. Das hinderte mich daran, an den wöchentlichen Protestaktionen gegen den Angriff auf Jugoslawien teilzunehmen. An einer Osteraktion war ich mal dabei, als neben der Friedensinitiative auch ein junges Mitglied des serbischen Vereins das Mikrofon bekam und eine bestechende Rede hielt. Ein Pulk empörter Menschen serbischer Herkunft hatte sich zu den Friedensaktivisten am Königsplatz gesellt. Serbische Frauen wischten sich symbolisch mit einer US-Flagge den Hintern, bevor sie sie verbrannten.

Später, als ich mich wieder in die Politik am Ort eingeklinkt hatte, nahm ich Kontakt auf mit dem serbischen Verein und organisierte ein, zwei Gesprächsrunden mit der PDS und der Friedensinitiative. Das, was die Sprecher des Vereins mit erstaunlicher Ruhe und Gefasstheit vortrugen, erschütterte mich. Sie wollten nichts entschuldigen, sie versuchten die Entstehung des Konflikts zu erläutern, uns aufzuklären, was wirklich vorging. Vor allem kritisierten sie die einseitige deutsche Parteinahme und die deutsche Aggression. Sie beklagten sich auch über die Bedrohung und Drangsalierung durch deutsche Polizei und Behörden während des deutschen Angriffs. Sie gaben uns zu verstehen, dass der serbische Verein wenig Bedürfnis verspürte weiter an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn ständig bei Vereinsmitgliedern die Polizei vor der Tür stehe. Es beschämte mich, dass der Vereinsvorstand sich beinahe entschuldigte bei uns für die Vorsicht, Zurückhaltung und Resignation seiner Mitglieder.

Eigenartig berührt war ich bei meinen wenigen Besuchen in den Vereinsräumen, dort immer Gesichter wieder zu erkennen von Arbeitern aus der MAN. Ein Staplerfahrer, den ich in der Firma oft gesehen hatte, ein Aufspanner, ein Maschinenarbeiter, mit dem ich mal ein Wort gewechselt hatte, ohne ihn politisch oder ethnisch irgendwie zuzuordnen. Es waren stumme Zeugen. Hier im Verein grillten sie für uns und erzählten, wie man hierzulande mit ihnen umgesprungen ist, wie in der Heimat ihre Angehörigen umkamen und ihre Häuser zerstört wurden in einem Bürgerkrieg, an dem Deutschland durch seine einseitige, gezielte Politik seinen Anteil hatte, wie die Infrastruktur in Serbien mit aktiver deutscher Beteiligung zerstört wurde...

Unerträglich bis beute ist für mich der Gedanke, dass meine ehemaligen Kollegen während des Angriffs auf ihr Land still hielten, still halten mußten und in deutschen Fabriken dienten während von hier die Bomber aufstiegen. Noch unerträglicher ist eigentlich nur, dass man sie hierzulande obendrein noch einschüchterte und faktisch mundtot machte. Sie wurden politisch ausgeschaltet. So fand sich unter den Mitgliedern des großen Vereins praktisch niemand, der die Linke bei den Kommunalwahlen 2002 hätte unterstützen können, obwohl sie das gerne gemacht hätten. Sie hatten die deutsche Staatsbürgerschaft nicht

   

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