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Deutschland – ein
Rechtsstaatmärchen
Von Michael Kiesen
Es war einmal ein Jurist; der glaubte über viele
Jahre hinweg, Deutschland sei ein Rechtsstaat. In seiner beruflichen
Praxis hatte er es meist mit Deutschen zu tun. Bei ihnen achteten
die Gerichte peinlich genau darauf, dass zu deren Gunsten die formalen
und materiell-rechtlichen Bestimmungen eingehalten wurden; die Richter
fanden sogar immer wieder subtile Argumente, um die betroffenen
Deutschen vor staatlichen Maßnahmen zu schützen.
Da lernte der Jurist einen Mazedonier kennen. Der
wurde eines Tages wegen des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs
arbeitslos. Nun wies ihn ein Kumpel auf die Geschäftsführerin
einer Firma hin; die habe vielleicht einen Job für ihn. Der
Mazedonier wandte sich an die Frau. Sie sagte, in ihrer Firma habe
sie gegenwärtig keine freie Stelle, aber wenn er ihr preiswert
Stoff beschaffen könne, werde sie mal was für ihn tun.
Der Mazedonier erkundigte sich in einem Asylantenwohnheim, ob er
dort was bekommen könne. So brachte er der Frau zu deren Verbrauch
drei Mal Heroin. Sie geriet ins Visier der Polizei, und der Mazedonier
wurde festgenommen, als er zufällig bei der Frau war und Polizisten
in ihre Wohnung eindrangen.
Ein Kripobeamter bot der Frau an, als Kronzeugin mit
entsprechenden Vorteilen auszusagen. Daraufhin sagte sie, der Mazedonier
habe sie drei Mal beliefert. Der Mazedonier weigerte sich, Angaben
zu machen. Der Haftrichter unterstellte bei ihm Fluchtgefahr, obwohl
der Mazedonier einen festen Wohnsitz hatte, eine ganz gut verdienende
deutsche Ehefrau und eine dreijährige Tochter.
Die Geschäftsführerin sagte ein zweites
Mal aus; diesmal behauptete sie, jeder ihrer 4 Dealer habe ihr jeweils
10 Mal Stoff im Umfang von 20 bis 40 g in den letzten 2 Jahren geliefert,
also auch der Mazedonier. Weder die Kripo noch die Staatsanwaltschaft
hakte nach, ob die Angaben der zweiten Vernehmung die er ersten
ersetzten oder ergänzten, auch wurde die Frau nicht auf die
Widersprüche zwischen ihren Aussagen und das Schemenhafte angesprochen.
Die Staatsanwaltschaft legte die angeblichen 10 Lieferungen ihrer
Anklage gegen den Mazedonier zugrunde und nahm aus der ersten Vernehmung
noch eine Lieferung hinzu.
Dem folgte das Schöffengericht, obwohl die Frau
in der Hauptverhandlung sagte: „So oft war des net, so lang
kenn ich den doch gar net.“ Der Mazedonier wurde zu 2,5 Jahren
Freiheitsstrafe verurteilt.
Sein Strafverteidiger versicherte, eine Abschiebung
drohe nicht, und riet von einer Berufung ab.
Doch die Ausländerbehörde erließ eine
Ausweisungsverfügung. 11 Tage nach Beginn der Untersuchungshaft
hatte die Behörde dem Mazedonier mitgeteilt, sie prüfe,
ob eine Ausweisung möglich sei, und um seine persönliche
Situation zu berücksichtigen, erhalte er Gelegenheit zur Stellungnahme.
Der Mazedonier gab das Schreiben seinem Verteidiger, der es in seinen
Akten ablegte, ohne etwas zu unternehmen. Nach dem Aufenthaltsgesetz
war ein Ausweisungstatbestand erst gegeben, wenn man rechtskräftig
ohne Bewährung zu einer Freiheitsstrafe wegen Verstoßes
gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt war. Somit wäre
es erst nach Rechtskraft des Strafurteils möglich gewesen,
dem Mazedonier die Absicht auszuweisen und die dafür maßgeblichen
Gründe mitzuteilen und ihm eine Frist zur Stellungnahme einzuräumen,
wie sich auch aus der fortgeltenden Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz
ergab.
Der Jurist erhob gegen die Ausweisungsverfügung
Klage und, weil sofortige Vollziehung angeordnet war, brachte er
ein Eilverfahren in Gang. Er setzte sich mit dem ehemaligen Arbeitgeber
des Mazedoniers in Verbindung und erreichte, dass ein Arbeitsvertrag
ausgestellt wurde, da sich die Auftragslage der Firma erheblich
verbessert hatte. Diesen Vertrag legte er mit umfangreichen Ausführungen
auch zur familiären Situation des Mazedoniers dem Verwaltungsgericht
vor, da das Hauptargument der Behörde war, der Mazedonier habe
bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage keine Aussicht
auf Arbeit und werde daher wieder dealen.
Als der Mazedonier die Hälfte der Strafe verbüßt
hatte, ordnete die Ausländerbehörde plötzlich die
Abschiebung an, obwohl ein Stillhalteabkommen mit dem Verwaltungsgericht
bestand. Der Jurist eilte zum stellvertretenden Leiter der Ausländerbehörde,
den er kannte, überreichte eine Dokumentation über die
rechtswidrige Arbeitsweise der Dienststelle für Ausländerangelegenheiten
und bat, die Sache wegen der formellen Fehler und des daraus folgenden
falschen Sachverhalts, der in der Ausweisungsverfügung wiedergegeben
war, nochmals aufzugreifen. Der stellvertretende Behördenleiter
lehnte das ab. „Wir gewinnen eigentlich alle unsere Prozesse.“
Der Jurist stutzte. Wie konnte so etwas sein, wenn die zuständigen
Beamten grundlegende rechtsstaatliche Regeln nicht beachteten? Er
legte die Aussage des stellvertretenden Behördenleiters als
Zweckoptimismus aus.
Doch wenige Tage später wies das Verwaltungsgericht
den Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung zurück
und vertrat die Auffassung, der Mazedonier hätte sich ja nach
Rechtskraft des Strafurteils an die Behörde wenden können.
Das war jedoch nicht Sache des Betroffenen; denn die Behörde
hatte nach den geltenden Bestimmungen „von Amts wegen“
zu handeln. Auch erwähnte das Gericht das Verwaltungsverfahrensgesetz
und die Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz nicht, obwohl
der Jurist deren Verletzung ausführlich dargelegt hatte. Er
staunte. Wenn ein Gericht sich über eine Bestimmung ausschwieg,
dann gab es sie eben nicht? Oder? So etwas hatte er bei den vielen
Prozessen, die er mit deutschen Beteiligten geführt hatte,
noch nie erlebt.
Zusammen mit einem Fachanwalt für Ausländerrecht
verfasste er eine zwölfseitige Beschwerdebegründung, die
der Anwalt beim Verwaltungsgerichtshof einreichte. Der Jurist war
sicher, dass dieses hohe Gericht so offenkundige fundamentale Rechtsverstöße
nicht dulden würde.
Die Behörde setzte sogar die Abschiebung auf
Wunsch des Verwaltungsgerichtshofs aus. Das war ein gutes Zeichen.
Doch einen Monat später mailte der Anwalt dem
Juristen, der Verwaltungsgerichtshof habe die Beschwerde zurückgewiesen,
eine Begründung liege noch nicht vor. Die Behörde ordnete
sofort die Abschiebung an. Vier Tage später flog der Mazedonier
nach Skopje zurück.
Er rief den Juristen von der Wohnung seiner Eltern
aus an. Der Jurist sagte, er werde den Prozess im Hauptverfahren
zwar weiterführen; er glaube aber nicht, dass ein deutsches
Gericht zu Gunsten der Klägerseite entscheiden werde; ausländische
Straftäter seien für die eben das Letzte, auch setzte
sich fast niemand für solche Leute ein; die letzte Hoffnung
sei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wo
Deutschland laufend Prozesse verliere, wie der Fachanwalt gesagt
habe.
Die hübsche, sehr empfindsame kleine Tochter
des Mazedoniers wuchs nun ohne ihren Vater auf. Der Jurist besuchte
sie und ihre attraktive Mutter, um die neue Lage zu besprechen.
Er sagte zu ihnen: „Ich werde immer für euch da sein.“
Der Verwaltungsgerichtshof räumte in seiner Begründung
dann zwar ein, es könne schon sein, dass Formfehler unterlaufen
seien; die hätten die Entscheidung der Behörde aber offensichtlich
nicht beeinflusst und seien daher nach § 46 Verwaltungsverfahrensgesetz
unbeachtlich. Diese Bestimmung war jedoch nach den Kommentaren nur
anwendbar, wenn es keine Entscheidungsalternativen gab. Da im Verfahren
gegen den Mazedonier indes Ermessen ausgeübt und unbestimmte
Rechtsbegriffe angewandt wurden, also hierbei unterschiedliche Auffassungen
möglich waren, kam § 46 Verwaltungsverfahrensgesetz gar
nicht in Frage. Der Jurist wunderte sich, dass ein so hohes Gericht
einen so groben und peinlichen Fehler machte. Nun ja, man musste
doch Germanien von ausländischem Gesindel säubern; da
brauchte man es nicht so genau zu nehmen.
So fand der Jurist, dass die zentrale Ausländerbehörde
eines Regierungsbezirks, das Verwaltungsgericht einer Landeshauptstadt,
das Oberverwaltungsgericht eines großen Bundeslandes eine
Phalanx der Macht jenseits des Rechts gegen vorwiegend jüngere
ausländische Mitbürger, die eben mal ausgerutscht waren,
bildeten.
„Eben mal ausgerutscht! Was braucht dieser Mazedonier
zu dealen!“, wird mancher sagen. „Recht so, dass die
Gerichte da durchgreifen.“
Genau diesen Fehler haben die Verwaltungsbeamten und
Richter auch gemacht. Sie haben sich von ihrer Emotion leiten lassen,
anstatt einfach die geltenden Bestimmungen zu befolgen, wozu sie
nach dem Grundgesetz verpflichtet sind. Meinte der Jurist, der nicht
mehr glaubte, dass es in Deutschland einen funktionierenden Rechtsstaat
gab, soweit es um Ausländer ging.
***
Erlebnis eines Tages
Von María del Carmen González Gamarra
Ich bastle gern. Dementsprechend laufe ich oft durch einen Baumarkt.
Manchmal auch einmal in der Woche. Suche Material aus Metall, Holz
oder einfach nur Farben und auch Werkzeuge zum Arbeiten, Basteln
und Gestalten neuer Ideen. Vor einigen Tagen lief ich wieder durch
den Baumarkt mit den drei großen orangenen Buchstaben, der
bei uns um die Ecke ist. Suchte dünne und lange Spanplatten,
leichte und schöne Griffe aus Kunststoff und eine stabile,
gute Säge. Als ich gerade von Herrn Müller beraten werde,
den ich aus unzähligen Einkäufen kenne, und der sehr freundlich
ist, höre ich, wie hinter mir eine männliche, sehr aggressive
und laute, ältere Stimme sagt, „He Mädchen, geh
zur Seite. Du versperrst den Weg.“
Da ich mit dem Blick zu Herrn Müller gewandt
bin und ihm zuhöre, wie er sich wie immer sehr viel Mühe
gibt, den richtigen Rat zu geben, habe ich nicht bemerkt, daß
ich meine Spanplatte etwas unglücklich in der Hand halte und
dadurch einen Teil des Ganges zwischen den hohen Regalen versperre.
Etwas erschrocken drehe ich mich um, als ich diese Stimme höre
und auch weil ich einen Stoß mit dem Einkaufwagen gegen die
Holzplatte in meiner Hand spüre, von dem ich annehme, daß
er von dem Kunden herrührt, der mich mit „He Du“
ansprach. Auch Herr Müller schaut etwas überrascht zum
drängenden und wütenden Mann hin, der älter als siebzig
aussieht, einen Bauch vor sich herträgt, circa Einmeterfünfundsiebzig
groß scheint, dünne Haare hat und mit einem blauen Pullover
und schwarzer Hose bekleidet seinem Einkaufwagen zwischen den Menschen
durch den Gang zu drängen versucht. Auch andere Kunden, die
auf Herrn Müller warten und nur einige Schritte von uns entfernt
stehen, reagieren etwas erschrocken auf die plötzlich auftauchende
aggressive Stimme des alten Herrn.
Spontan erwidere ich, den alten Mann anschauend, er
solle bitte nicht so respektlos „Du“ zu mir sagen. Ich
habe auch nicht „Du“ zu ihm gesagt. Er soll bitte höflich
fragen. Woraufhin er antwortet, noch lauter als zuvor, „Lern
erst Deutsch, ich habe ‘Sie’ gesagt, Du. Deutsch lernen
sollst Du, bevor Du hier redest...“ Er wirft noch einige Sätze
in dem Raum, die ich aber nicht mehr höre, während er
weiter spricht und dabei seinen Einkaufswagen durch alle um uns
herum stehenden Verkäufer, Kundinnen und Kunden schiebt. Als
er einige Meter von uns entfernt ist, höre ich noch Satzfragmente:
„…die sollen Deutsch lernen. Du auch, lern erst Deutsch.“
Dann ist er aus meiner Hörweite verschwunden.
Ich bin sprachlos. Schaue mich um. Sehe Gesichter.
Höre die Stille. Vernehme das Schweigen. Beklommenheit ist
zu spüren. Peinlichkeit auch. Vor Verlegenheit spricht keiner.
Bedrückung schwingt in der Luft.
Wie durch einen Schock ergriffen, stehen alle für
einige Sekunde im schmalen Regalgang still und regungslos da. Wie
eingefroren. Obwohl einige Kunden plötzlich rote Gesichter
bekommen haben. Nur Herr Müller, selten des Wortes arm, bringt
ein „ja, ja, ja“ über seine Lippen, während
er zum alten Mann und dann zu mir sieht. Eine junge blonde Kundin
hinter mir schaut total entgeistert aus ihrem schwarzen Blazer und
schüttelt immer noch den Kopf, nachdem der alte Mann schon
lange weg ist. Sie hat auch rote Wangen, als würde sie etwas
nicht begreifen können, das sich aber gerade in ihrer Anwesenheit
ereignet und das sie selbst erlebt hat, wie ihr Blick verrät.
Auch ihr großer Begleiter steht sprachlos da. Den Blick in
der Leere verhaftet, wirkt er apathisch. Andere Menschen um uns
schauen schweigend hinter dem alten Mann her, dann zu mir, dann
wieder hinter dem alten Mann her und wieder zu mir. Einige Male.
Als empfänden sie Mitleid. Aber mit wem? Bis der alte Mann
mit seinem Einkaufswagen zwischen den Regalen in der Halle verschwunden
ist. Danach dreht sich jeder mit seinem Blick entweder zum Regal,
vor dem er steht, oder richtet den Blick zum Boden.
Ein peinliches, bedrückendes und schmerzvolles
Schweigen bestimmt für einige Sekunden die Stille zwischen
diesen Menschen, die doch irgendwie auf unbestimmte Weise berührt
wirken. Ich konnte mich beim alten Mann nicht entschuldigen, daß
ich den Weg etwas versperrt hatte, denke ich, obwohl ich gewohnt
bin, mich sofort zu entschuldigen. Mein Vater würde in so einem
Fall sagen, deine gute Erziehung ist an die zweite Stelle gerückt,
die Verteidigung an die erste, die Zeit hat dich verändert.
Du musst aufpassen! Nicht dich anpassen!
Traurig nehme ich wieder mein Holz, die Säge
und den Griff, gehe noch einmal zu einem Schraubenregal hin und
anschließend zur Kasse, vor der der alte Mann noch steht.
Zwischen ihm und mir wartet noch ein Kunde zum Zahlen. Zum Glück,
denke ich.
Nachdem ich bezahlt habe und den Baumarkt verlassen
will, kommt Herr Müller auf mich zu und fragt: „Alles
in Ordnung?“ Ich nicke und bin dankbar für die Nachfrage.
Doch die verdrängt geglaubte Träne kann ich nicht mehr
zurückhalten. Das Auge mit Tränenflüssigkeit gefüllt,
kann die Träne nicht verdrängen; sie schwappt über
und rollt, trotz Schluckens, auf der Wange runter. Ich schäme
mich. Aber ich lebe, denke ich.
Herr Müller versucht mich zu trösten: „Er
ist bei uns bekannt“, sagt er. „Er mischt sich auch
in Gespräche ein, wenn wir mit Kunden reden“, fügt
er hinzu. Ich nicke. „Wir müssen ihn einfach in Ruhe
lassen“, ergänzt er und ich nicke wieder. „Ja“,
antworte ich leise und schlucke innerlich die zweite Träne,
die sich den Weg aus den Augen bahnen wollte. „Ich kenne solche
Dinge. Auch Menschen“, antworte ich. Herr Müller schaut
mich etwas gerührt an. Sensibel. „Ich lebe mehr als 40
Jahren hier“, ergänze ich. Dann versagt meine Stimme.
Herr Müller spricht weiter. „Er war ein hohes Tier bei
der Deutschen Bank, hat mir mein ... erzählt. Nun...“
Dann schweigt auch er.
„Und daß wir nicht den Mund halten können,
macht alles noch schlimmer“, sage ich zu ihm. Und die zweite
Träne rollt doch noch. Er nickt. „Er kann doch nicht
einfach einen duzen“, rede ich weiter. „Das geht so
nicht. Nicht so respektlos“, halte ich fest. Herr Müller
nickt und wirkt teilnahmsvoll. „Aber ich werde weiterhin zum
Einkaufen kommen“, sage ich zu ihm. Er lächelt.
Trotz mehr als 40 Jahren - leben und oft auch sterben
- in diesem Land kann ich mich nicht an rassistische Beleidigungen
gewöhnen, mich mit Demütigungen befreunden, Verletzungen
hinnehmen und mich mit Verachtung arrangieren. Ich habe mich an
die Stille in der Menge bei Übergriffen gewöhnt, an das
Schweigen unter den dabei zuschauenden Menschen auch, bis ich zum
ersten Mal erleben konnte, wie ein deutscher Bürger mit ostdeutschem
Akzent Worte fand für eine Tat, die jeden Tag, überall
in dieser Republik Menschen widerfährt, die „anders“
aussehen als... Als wer eigentlich?
Diese Geschichte widme ich den Menschen, die begonnen
haben das Schweigen zu durchbrechen.
***
Mit jugoslawischen Arbeitern in der MAN
Von Peter Feininger
Ich blickte von der Rampe, auf die wir das schwere Werkzeug in unser
Lager hievten, das in vier Meter Höhe auf einer so genannten
Galerie einer Werkhalle untergebracht war.
In der Tiefe sah ich auf lautlosen Aufruhr. Eine Gruppe
von jugoslawischen und deutschen Arbeitern umringte Carol, der sich
noch aus der Nachbarhalle in den Durchgang zu unserer Halle geschleppt
haben muss. Er blutete aus der Augenhöhle und stand leicht
schwankend aufrecht, obwohl er sich - wie ich später erfuhr
- ein Rundeisen durch das Auge bis ins Gehirn gerammt hatte. Ich
eilte die Wendeltreppe hinunter und sorgte dafür, dass er wenigstens
auf einen der niedrigen Transporthänger gesetzt wurde. Es war
eine stumme, verzweifelte Szene bis nach quälenden Minuten
endlich der Sani mit einer Bahre und dem Werkssanka kam.
Nach Monaten sah ich Carol wieder. Das Auge war verloren
und er mußte mühsam wieder sprechen lernen. Er war zumindest
damals, Anfang der 90er Jahre invalide. Die Maschinenarbeit mit
den tonnenschweren Teilen war nicht ungefährlich. Carol hatte
ein selbst gefertigtes Hebeisen benutzt um das Teil auf seinem Frästisch
zu bewegen. Das glatte, schwere Werkstück rutschte ihm vom
Eisen, das ausschlug.
Ich kannte Carol als einen sehr freundlichen Arbeiter,
der mich manchmal mit seinen weisen Sprüchen beeindruckte.
So sagte er einmal, als wir über die kapitalistische Ausbeutung
und Widerstandsmöglichkeiten redeten: „Peter, der Ochse
zieht den Pflug, solange er seine Kraft nicht spürt“.
Ich lernte Carol in den 80er Jahren in R2 kennen.
R2 war eine Werkhalle der Großteilproduktion, in der fast
nur „Jugos“ arbeiteten. Carol war glaube ich kein „Jugoslawe“,
aber so was ähnliches. Wenn ich mich recht erinnere, sagte
er, er sei aus „Siebenbürgen“, das wäre dann
eine Gegend in Rumänien gewesen, ein paar hundert Kilometer
entfernt von Jugoslawien.
Über den Systemwandel in Rumänien und die
Hinrichtung Ceausescus 1989 haben wir nie gesprochen. Vielleicht
war Carol von der offiziellen deutschen Abstammungslehre her ein
„Deutscher“, aber das merkte man ihm Gott sei Dank nicht
an. Er war voll integriert in R2, sein Aufspanner an der Portalfräse
war ein Serbe, Todor. Todor war aber nicht der Hilfsarbeiter und
Depp, wie oft bei deutschen Maschinenbesetzungen. Carol und Todor
waren ein Team. Das zeigte sich auch an dem Unfall. Normalerweise
hätte Todor verunglücken müssen, denn aufspannen
war seine Arbeit. Aber Carol machte das genauso, wenn er Zeit hatte
oder Todor was anderes zu tun hatte.
Einen von dem Räuberhaufen in R2, Geza, machte
der leitende Ingenieur zum Capo, später wurde er sogar zum
Meister ernannt. Geza kam aus dem jugoslawischen Teil des Banats,
der heute der Provinz Vojvodina in der Bundesrepublik Jugoslawien
entspricht. Er gehörte dort der ungarischen Minderheit an,
er sprach serbisch, ungarisch und auch sehr gut deutsch, hatte eine
fantastische Ausbildung als Werkzeugmacher und auch sonst eine sehr
gute Bildung. Er überzeugte durch Intelligenz, Fachkenntnis,
praktisch-kooperativen Stil und Freundschaftlichkeit. Geza überzeugte
auch mich, in vielerlei Hinsicht. Vor seiner Klugheit und seinem
Wirken in der Abteilung musste man neidlos Respekt haben.
Ohne diesen Schachzug, Geza zum Capo zu machen, wäre
die Betriebsleitung wohl nicht mit diesen eigenwilligen und stolzen
Menschen aus den jugoslawischen und benachbarten Regionen klar gekommen.
Sie ließen sich nicht viel sagen, sie machten ihre Arbeit
„selbständig“, sie waren gute Facharbeiter an den
konventionellen Maschinen. R2 war in gewisser Weise eine selbstverwaltete
Halle im Produktionsbetrieb der MAN. Und für mich als Neuling
in der Firma und frisch ausgebildeten allgemeinen Mechaniker war
es echt eine Ehre, in R2 unter Geza zu landen. Die Arbeiter lernten
von Geza und lernten sich gegenseitig an und schmissen die Produktion
im Kollektiv. Mich schleppten sie irgendwie mit. Sie sorgten auch
dafür, dass ich was verdiente und auf meine „Minuten“
kam.
Verglichen mit den Tölpeln und Krücken,
Schleimern, Arschkriechern und Nieten, die sonst in der Regel vom
Management aus dem deutschen Reservoir als Vorgesetzte in der Produktion
handverlesen wurden, war Geza ein wohltuender Sonderfall. Bei deutschen
Vorgesetzten war oft nicht klar, ob sie nur aus reinem Opportunismus
handelten oder aus Hinterlist, aus Torheit oder echter Geisteskrankheit.
Die Jugos, die vor dem Anwerbestopp 1973 gekommen
waren, ließen sich oft auch in Augsburg nieder. Danach war
es schwieriger, die MAN deckte ihren Bedarf seitdem in Form von
Werkverträgen mit der jugoslawischen Leiharbeiterfirma Monting.
Mit diesen Leiharbeitern, die später auch an
NC- und CNC-Maschinen eingesetzt wurden, verstand ich mich gut in
den Spätschichten. Es waren Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier.
Sie versorgten mich mit selbstgebranntem Slibovic und romantischen
Geschichten über ihre Heimat, was die öden Nächte
in den fahlen Hallen bedeutend angenehmer machte.
Ein jugoslawischer Leiharbeiter war nicht zu verwechseln
mit einem herkömmlichen Leiharbeiter. Er behielt seinen Stolz,
sein Nettolohn war mindestens so hoch wie der der deutschen Kollegen,
eher höher. 10 oder 20 Prozent des Lohns gingen auf ein Devisensperrkonto
der sozialistischen Republik. Es waren so viele in der MAN, dass
sie einen eigenen Verwalter, Personalchef, Supervisor oder wie immer
man ihn nennen mochte, hatten. Dieser Mensch, der ab und zu im Werk
auftauchte, gelegentlich auch mit dem leitenden Ingenieur der Produktion
redete, machte einen eher sanften, kumpelhaften Eindruck mit seinem
abgewetzten, grauen Arbeitsmantel, einer verbeulten Hose und großen
Augen hinter einer Hornbrille - irgendwie kein Vergleich mit einem
deutschen Manager.
Die Zeiten wurden rauer in der Firma. Das Management
predigte die Teamarbeit und zerschlug die bestehenden Teams. Der
Meister von R2 und unmittelbare Vorgesetzte von Geza ging. Er war
Landmetzger und hatte den Zirkus wohl nicht mehr nötig. Der
Nachfolger war irgendein unbekannter Federfuchser, den der leitende
Ingenieur aus den Reihen der Angestellten herausgefischt hatte -
aus Gründen, die niemand jemals verstand.
Dieser neue Meister verstand seine Hauptaufgabe darin,
jeden Morgen zum Rapport beim leitenden Ingenieur der Produktion
zu eilen und zunächst wahllos, später gezielt Leute „auszurichten“.
Wie ein geölter Blitz schoss er durch die Hallen und würdigte
uns keines Blickes, denn in Gedanken ging er wohl sein neues Dossier
durch, das er dem Ingenieur unterbreiten wollte. Wir standen an
unseren Maschinen und beobachteten ihn, wie er auf seinem Weg zum
Ingenieur auch die Mimik einstudierte. Er schwankte offensichtlich
zwischen grimmiger Entschlossenheit und gewinnendem Optimismus.
Wahrscheinlich entschied er sich spontan, denn er konnte nie wissen,
ob der Ingenieur gerade gut drauf war oder ihn gereizt und mit verquollenem
Gesicht empfing - was wohl einem gewissen Alkoholismus geschuldet
war. Irgendwie mußte der Ingenieur ja mit dem ganzen Schnaps
fertig werden, den ihm die Manager von Monting zuschoben.
Der neue Meister trug einen roten Mantel, wie ein
Scharfrichter, und machte natürlich auch Geza das Leben schwer.
Obwohl auch Geza einen roten Mantel trug, den er einer Ernennungswelle
des Managements verdankte und fortan tragen mußte. Für
Geza sollte die Funktion des roten Mantels nicht die Gleichstellung
mit den anderen Meistern bedeuten, sondern vor allem eine Distanz
zu seinen Arbeitern und Freunden schaffen. Was aber kaum gelang.
Er saß jetzt zwar mehr in der Meisterbude nun und hatte irgendwie
mehr Papier zu wälzen, aber seine Rundgänge und Gespräche
in den Hallen ließ er sich nicht nehmen.
Dass sich der Wind änderte, merkte ich z.B. an
der Weihnachtsfeier in R2. Früher grillten die Jugoslawen Cevapcici
und schenkten Slibovic aus. Sie setzten sich alle zusammen, luden
auch die Deutschen ein, regelmäßig auch den leitenden
Ingenieur, der schon wusste, wo es in seinen vielen Hallen was Gutes
gab, zum Essen und vor allem auch zum Saufen. Mit roter Birne sah
man ihn lange sitzen in R2. Er ließ sich von den Arbeitern
verköstigen und Geza war stolz, seinen Arbeitern den Ingenieur
als seinen persönlichen Freund und Gast präsentieren zu
können. So lullten sie ihren Chef in einer Mischung aus Gastfreundschaft
und Verachtung ein bisschen ein und wenn er dicht war, feierten
sie alleine weiter.
Eines Jahres war das vorbei. Der Ingenieur untersagte
die Weihnachtsfeiern, was den Haufen in R2 nicht weiter störte,
aber der nette Herr war nicht mehr dabei.
Um vermutete Kumpaneien innerhalb der Meisterschaft
und unter den Capos zu unterbinden, wurde ein junger Ingenieur eingestellt,
der sein mageres Gehalt nicht als Ingenieur, sondern als Spießhund
verdienen sollte. Er spionierte die Leute aus und knöpfte sie
sich einzeln vor. Dragan hatte er bald auf dem Kicker, weil der
zufällig schräg gegenüber dem „Büro“
des Ingenieurs - einem mit weiß gestrichenem Holz und Glas
verkleideten Verschlag - arbeitete.
Dragan hatte seinen eigenen Stil zu arbeiten. Aber
er brachte seine „Minuten“ zusammen - locker. Für
das Ingenieurlein, den Spießhund, zu locker. Der Ingenieur
beobachtete Dragan Tag für Tag aus seinem Glasverschlag heraus.
Eines Tages stellte er Dragan in seinem gescherten Allgäuer
Dialekt und wies ihm nach, dass er nichts tat.
Ich bekam die Angelegenheit nicht so genau mit und
weiß auch nicht wie es ausging. Jedenfalls sah ich Dragan
ein oder zwei Wochen später von meiner Rampe aus vier Metern
Höhe unten vor seinem Arbeitsplatz stehen. Er stand in voller
Größe, erhobenen Hauptes am Gang, als ob er auf jemand
wartete. Seine Gesichtshaut war etwas fettig und gerötet, schwarze
gelockte Haare, ein schwarzer dicker Schnurrbart und dunkle Augen
ließen ihn noch grimmiger als sonst aussehen. Die Hände
waren hinter dem Rücken verschränkt.
Ich machte von oben eine fragende Geste. Dragan blickte
zu meiner Galerie hoch, nahm wortlos die rechte Hand hinter seinem
Rücken vor, in der eine große, dunkel glänzende
Pistole lag. Dann sprach er laut und deutlich, in ernstem Ton: „Den
knall ich ab, den Hund?“
Irgendwann war das Ingenieurlein auch verschwunden,
aber nicht weil Dragan ihn beseitigt hatte. Ich ließ mir sagen,
er hätte gekündigt, weil er hier nichts werden konnte.
Vielleicht wollte er doch lieber als Ingenieur arbeiten und nicht
als Spießhund. In gewisser Weise war der Mann an den Jugoslawen
und anderen Arbeitern gescheitert, aber streng genommen haben sie
ihm vielleicht auf ihre Art und Weise zu einem neuen Job verholfen.
Die Zeiten wurden nicht nur im Betrieb rauer. Als
sich vier Republiken von Jugoslawien abspalteten und der Bosnisch-Kroatisch-Serbische
Krieg ausbrach, kühlten auch die Beziehungen unter den verschiedenen
ehemals jugoslawischen Belegschaftsteilen ab. Da ich in diesen Jahren
Anfang der 90er nicht mehr in der Produktion arbeitete, sondern
in ein abgelegenes Lager auf der Galerie (nicht Galeere) verbannt
war, bekam ich nicht viel mit. Es muss aber keine offenen Auseinandersetzungen
gegeben haben, sonst hätte man was davon gehört. Der Bürgerkrieg
fand in Bosnien statt, nicht in der MAN.
In der Kantine lernte ich mal einen bosnischen Serben
kennen, einen Hünen von einem Monteur, mit dem ich mich gelegentlich
unterhielt Seine Darstellung des Konflikts beeindruckte mich sehr
und gab mir zu denken. Sie widersprach der hiesigen Propaganda,
der Serbenhetze, den aufgetischten Massakers diametral. An seinen
Berichten musste was dran sein, es konnte nicht alles gelogen sein.
Er war auch zu einem Interview in einer linken Lokalzeitung bereit,
was ich arrangierte. Besonders beeindruckte er mich, als er seinen
Urlaub von zwei Jahren zusammenkratzte um in seinen Heimatort in
Bosnien zu fahren und dort die elektrische Energieversorgung zu
reparieren.
Zur Zeit der Bombardierung Serbiens durch die NATO,
unterstützt durch die Tornados von Lagerlechfeld bei Augsburg,
war ich nicht mehr im Betrieb. Unehrenhaft entlassen - sowohl von
zu Hause als auch vom Betrieb -, musste ich nur eine neue Existenz
aufbauen. Das hinderte mich daran, an den wöchentlichen Protestaktionen
gegen den Angriff auf Jugoslawien teilzunehmen. An einer Osteraktion
war ich mal dabei, als neben der Friedensinitiative auch ein junges
Mitglied des serbischen Vereins das Mikrofon bekam und eine bestechende
Rede hielt. Ein Pulk empörter Menschen serbischer Herkunft
hatte sich zu den Friedensaktivisten am Königsplatz gesellt.
Serbische Frauen wischten sich symbolisch mit einer US-Flagge den
Hintern, bevor sie sie verbrannten.
Später, als ich mich wieder in die Politik am
Ort eingeklinkt hatte, nahm ich Kontakt auf mit dem serbischen Verein
und organisierte ein, zwei Gesprächsrunden mit der PDS und
der Friedensinitiative. Das, was die Sprecher des Vereins mit erstaunlicher
Ruhe und Gefasstheit vortrugen, erschütterte mich. Sie wollten
nichts entschuldigen, sie versuchten die Entstehung des Konflikts
zu erläutern, uns aufzuklären, was wirklich vorging. Vor
allem kritisierten sie die einseitige deutsche Parteinahme und die
deutsche Aggression. Sie beklagten sich auch über die Bedrohung
und Drangsalierung durch deutsche Polizei und Behörden während
des deutschen Angriffs. Sie gaben uns zu verstehen, dass der serbische
Verein wenig Bedürfnis verspürte weiter an die Öffentlichkeit
zu gehen, wenn ständig bei Vereinsmitgliedern die Polizei vor
der Tür stehe. Es beschämte mich, dass der Vereinsvorstand
sich beinahe entschuldigte bei uns für die Vorsicht, Zurückhaltung
und Resignation seiner Mitglieder.
Eigenartig berührt war ich bei meinen wenigen
Besuchen in den Vereinsräumen, dort immer Gesichter wieder
zu erkennen von Arbeitern aus der MAN. Ein Staplerfahrer, den ich
in der Firma oft gesehen hatte, ein Aufspanner, ein Maschinenarbeiter,
mit dem ich mal ein Wort gewechselt hatte, ohne ihn politisch oder
ethnisch irgendwie zuzuordnen. Es waren stumme Zeugen. Hier im Verein
grillten sie für uns und erzählten, wie man hierzulande
mit ihnen umgesprungen ist, wie in der Heimat ihre Angehörigen
umkamen und ihre Häuser zerstört wurden in einem Bürgerkrieg,
an dem Deutschland durch seine einseitige, gezielte Politik seinen
Anteil hatte, wie die Infrastruktur in Serbien mit aktiver deutscher
Beteiligung zerstört wurde...
Unerträglich bis beute ist für mich der
Gedanke, dass meine ehemaligen Kollegen während des Angriffs
auf ihr Land still hielten, still halten mußten und in deutschen
Fabriken dienten während von hier die Bomber aufstiegen. Noch
unerträglicher ist eigentlich nur, dass man sie hierzulande
obendrein noch einschüchterte und faktisch mundtot machte.
Sie wurden politisch ausgeschaltet. So fand sich unter den Mitgliedern
des großen Vereins praktisch niemand, der die Linke bei den
Kommunalwahlen 2002 hätte unterstützen können, obwohl
sie das gerne gemacht hätten. Sie hatten die deutsche Staatsbürgerschaft
nicht
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