XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
24.10.2006

 
 

 

 
 

 

 

Meinungen–Karawanserei




   
 
 

Falsche Fronten

Je mehr man über die Lage der Welt nachdenkt, desto verzweifelter müsste man eigentlich werden. Vor allem die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten lassen Schlimmstes befürchten. Man darf die Augen nicht verschließen. Was droht, ist eine Welt, wo Bombardements und Strafaktionen sich mit Terroranschlägen ablösen, wo ökologische Katastrophen und sozialer Kahlschlag obligat werden, wo rassistische und antisemitische Übergriffe an Bedeutung gewinnen. Auch der Wiederaufstieg des Religiösen, mag er sich nun islamisch oder christlich munitionieren, passt in dieses abgedrehte Realszenario. Da werden stolz Haltegriffe halluziniert, wo doch die Welt der Werte an allen Ecken und Enden auseinander bricht.

Huntingtons „Clash of civilizations“ scheint bereits Realität zu sein, man denke nur an den Karikaturenstreit und seine Folgen. Auf den Schlachtruf „Culture is to die for“, können sich gar viele einigen. Weltweit. Wird die Austragung der Konflikte jedoch als Kulturkampf akzeptiert, hat die Emanzipation schon verloren. Perspektiven gibt es nur jenseits dieser falschen Front, nicht in ihr.

Die Linke ist in diesem Spiel allerdings zur Zeit kein Faktor. Hängen sich die einen an die Rockschöße des Abendlands, insbesondere der USA, so spulen die anderen ihren Traditionalismus ab, machen ganz unbeeindruckt auf antiimperialistische Befreiung. Bush wird schön- und Ahmadinejad kleingeredet. Die Maßstäbe verrutschen ins Irre. Da gratulieren die Krieger der Wiener „Antiimperialistischen Koordination“ der antisemitischen Hamas zum Wahlsieg oder eine Pumpgun der Guten lässt Folgendes verlauten: „Die Europäer seien von Wohlstand korrumpiert, weil sie schon lange keinen echten Krieg mehr erlebt hätten, sagte Broder, ihnen sei deshalb die Fähigkeit abhanden gekommen, auf existentielle Probleme angemessen zu reagieren.“ (FAZ vom 6. Februar 2006)

Sich entweder mit den westlichen Machthabern und der Wertegemeinschaft zu verbünden oder jeder obskuren Regung in der Dritten Welt Positives abzugewinnen, darf doch nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Deeskalation kann nur damit beginnen, dass man sich gegen den Gesamtirrsinn selbst wendet, sich nicht einrühren lässt in diese durchgeknallten Allianzen der Destruktion.

Die bisherigen Politiken und Denkmuster haben sich allesamt unfähig erwiesen, sie sind nichts anderes als Bestandteile einer scheinbar unaufhaltsamen Konfrontation. Die Wahrscheinlichkeit, dass die USA einen Atomüberfall des Iran auf Israel verhindern, ist geringer als dass sie selbst atomares Arsenal im Mittleren Osten einsetzen. Es sind die Vereinigten Staaten von Amerika, die offen mit dem atomaren Erstschlag drohen. Und Frankreich denkt bereits in eine ähnliche Richtung. Im Prinzip müssen die Atomwaffen überhaupt weg, nicht nur dort, aber insbesondere dort. Todessüchtig sind nicht bloß die Islamisten. Wer seine Interventionen „Enduring freedom“ oder „Infinite justice“ nennt, demonstriert, wie er tickt. Angesagt wäre vielmehr Abrüsten.

Wie sich jemand einbilden kann, dass gerade die USA, nachdem sie Jahrzehnte maßgeblich zur Misere beigetragen haben und soeben im Irak kläglich scheitern, etwas gutmachen können, ist ein Rätsel. Eine Intervention im Iran würde die Lage nur immens verschärfen. Vergessen werden darf auch nicht, dass es die islamische Bombe schon gibt; Pakistan hat sie, und was im Falle einer weiteren Zuspitzung dort passiert, weiß keine Weltmacht vorauszuplanen. Aber noch ist der einstige Ziehvater der Taliban, Musharraf, ein Guter, wie auch dessen Erzfeind Indien plötzlich einer werden darf. Obwohl sich beide Länder Jahrzehnte über den Atomsperrvertrag hinweggesetzt haben, werden sie hofiert. Das Ganze nennt sich Weltpolitik und ist doch ein gefährliches Gemisch aus Intrige, Manöver und Kalkül.

Der Identitätswahn steht in voller Blüte. In der großen Welt wie auch im linken Minimundus. Kritik daran ist unumgänglich. Aber sie reicht nicht. Das Fatale ist, dass Kritik sich erschöpft, wenn sie keine Perspektive bieten kann. Da kann jene noch so richtig sein, wenn kein „Gegenland“ (Ernst Bloch) in Sicht gerät, werden sich die Leute mit den herrschenden Angeboten nicht nur abfinden, sondern in ihrer Verlorenheit diese aggressiv vertreten. Kritik und Perspektive müssen zusammenfinden, als isolierte Größen können sie nur verkümmern.

Franz Schandl
A – Wien


***


Worüber kein Grass wächst

Ein Sturm weht durch den bundesrepublikanischen Blätterwald, die Feuilletons rauschen, die Redaktionen sind begeistert über dieses Sommerthema, die Leserschaft vibriert. Die führenden Scheinheiligen der Republik schreien auf. Allen voran der Spiegel: „Man wird ihm den Nobelpreis nicht aberkennen, die Schweden werden sich nicht blamieren wollen, aber man wird ihn fortan nur noch als die Karikatur seiner selbst wahrnehmen und ihm einen Platz in der Hall of Shame zuweisen.“ Und so stellt der Geiferer vom Dienst am Ende fest: „Dass auf dem Umweg über Grass die Waffen-SS rehabilitiert wird.“

Wer ist eigentlich „man“, Herr Broder?

Nicht alle Linken in diesem Lande haben GG zu ihrem Jesus gemacht, zur obersten moralischen Instanz, an den zu glauben alle Schuld, auch die, die sich nur in Gedanken manifestiert, tilgt. GG war gerade nicht der lebendige Beweis, daß das deutsche Volk seine Vergangenheit bewältigt hat. Er war es schlicht aus dem Grunde nicht, weil er sie - nicht einmal für sich selbst - bewältigen konnte. Er hat sie verarbeitet. Er hat sie in dem Sinne verarbeitet, wie es einem Schriftsteller gemäß ist. Und er verarbeitet sie immer noch. Daran wird ihn auch das Geschrei von Leuten nicht hindern, die ihr Denkmal - das sie aber offenbar nicht zum Denken angeregt hat - von dessen eigener Hand vom Sockel gestürzt sehen.

Das Gewieher jener, denen er auf die Füße getreten hat, deren Ränkespiele er entlarvte, wird ihn, wie gewohnt, weiterhin begleiten. Dieses Gewieher fällt - zumindest publizistisch - etwas leiser aus. Das liegt an der Wahl der Quelle, der er die Nachricht, noch vor der Veröffentlichung des Buches, anvertraute. Aber die braunen Horden sind begeistert, sie werden den Todestag des Hitlerstellvertreters Rudolf Hess auch weiterhin mit der gewohnten Inbrunst begehen, ihre gerichtlich genehmigten Aufmärsche werden wie bisher davon Zeugnis ablegen, daß sich Vergangenheit nicht bewältigen läßt.

Ich verzichte darauf, mich in Mutmaßungen zu ergehen, sowohl über die knapp einjährige Zugehörigkeit des 17-jährigen Günter Grass zur SS-Panzerdivision Frundsberg, wie auch über den Zeitpunkt der freiwilligen Veröffentlichung dieses Tatbestandes durch den Schriftsteller Günter Grass. Ich stelle fest, daß es, neben Stellungnahmen von Leuten vom Schlage des Spiegel-Redakteurs Broder, auch Anmerkungen von Mitmenschen gibt, die zu den Opfern des nationalsozialistischen Massakers gehörten und die sich trotzdem und gerade im Hinblick darauf ein Gefühl für Dimensionen bewahrt haben. Ein Gefühl, das besonders bei der Beurteilung von Ursache und Wirkung eine Rolle spielt.

Es wäre ein Zeichen der Hoffnung, wenn ältere Leser „Beim Häuten der Zwiebel“ den momentanen Eklat, der gewiß kein Beleg für die Volljährigkeit der 57-jährigen Bundesrepublik ist, zumindest gedanklich ausblenden und den Versuch unternehmen, das Gelesene in Beziehung zum eigenen Langzeitgedächtnis zu setzen. Und wenn sie sich darüber hinaus noch entschließen könnten, Jüngeren zu vermitteln, daß kein Mensch unfehlbar ist, daß aber die Fähigkeit, einen Irrtum einzusehen, zu den wichtigsten menschlichen Tugenden gehört, dann wäre das wirklich - wie Politiker aller Couleur so gern phrasieren - ein Schritt in die richtige Richtung.

Dieter J Baumgart
F – Mourèze


***


Zu Goyas Los Fusilamientos

   3. Mai 1808

Fettleibig ein Priester
kauernd im Gebet

Fruchtgelbes Licht
aus der Laterne

Kugeln: sprungbereit

Kohlenäugig warm
waren die Augen des Bauern
Das Angesicht des Todes aber kennt
dieses Weiß um die Pupille

Ich seh Lorcas
Grimaus Gesicht

Blut im Sand
aus reinem Karmin

schreit

unüberhörbar
ungehört


Goyas Alptraum

Ein Toter liegt in der Blutlache. Karminrot. Blut auch auf seiner Stirn, flankiert von seinen ausscherenden Armen. Winklig angezogen sein Knie. Dahinter der Berg, lauernd wie eine Ozeanwoge: lehmig, tonig.

Da knien sie nun, glühende Stürmer noch vor wenigen Stunden. Da gaben sie sich, ohne Anführer, selbst den Befehl, und ihr brüllendes Amok ergoß sich auf die Straße. Die Gardefüsiliere aber beugten sich dem Befehl Murats, Napoleons Marschall. - Was heißt, beugten sich? - Sie gehorchten. Murat wußte an jenem Mai nichts Besseres, als Kanonen auffahren zu lassen und in die protestierende Menge zu schießen. Napoleon ließ die Soldaten seines Marschalls, einer Truppe von 40 000 Mann, nach Madrid marschieren; angeblich zum Aufmarsch gegen die Engländer in Portugal. In Wirklichkeit, um Spanien zu besetzen. Als Ferdinand VII als neuer König unter den Hochrufen der Madrider von Napoleon nach Bayonne gerufen und der letzte thronberechtigte Prinz, Francico de Paula, ebenfalls nach Bayonne in französische Gefangenschaft gebracht werden sollte, strömten die Bürger aus den einfachen Wohnvierteln Madrids - verstärkt durch die Bauern aus der Umgebung - auf den Platz vor dem königlichen Schloß in heller Empörung zusammen. Die Bauern und Städter besaßen nichts als Messer, Dolche, Hacken, Äxte und Schippen. Sie kämpften wild und ohne Strategie. Goya wohnte in der Nähe und sah dem Kampf zu. Manch einer konnte in den Häusern entkommen. Aber viele prallten ab an den plötzlich verschlossenen Türen. Sie wurden eingefangen und an einem Abhang im Frühmorgen des 3. Mais niederkartätscht. Für Goya mußte es wie ein Alptraum gewesen sein. Aber sechs Jahre später malte er dann die Füsilierung.

Erdige Farben, durchdrungen von Ocker. Der Himmel graugrün, eher dunkelgrün, hoffnungslos. Keine Farbe grünt richtig. Alle Farben sind vermischt und zusammengewachsen. Auch das Hemdweiß des Bauern ist gelblich schattiert. Laternenlicht zeigt den Füsilieren das Ziel. Einer der zu Füsilierenden beißt sich in die Hände, den Schrei zu ersticken. Aus den Gesichtern der anderen ringt die letzte Erwartung, genauer gesagt: ihre entgeisterten Augen, von klobigen Landarbeiterhänden zugedeckt, oder ihre Augen, die zum Unfaßlichen hinauf in den Äther starren.

Goya ein Zeitgenosse von Goethe und Beethoven. - Was kam danach? Millionen ähnliche Gesichter noch vor wenigen Jahrzehnten. Und die unsichtbar gebliebenen Augen in den deutschen Gaskammern, nicht so auffallend wie bei Goya. Der Tod dezenter, mit einem stets unschuldsvollem Ton, wenn die Leiber brannten. Der Tod “ein Meister aus Deutschland,“ (Paul Celan), ein Künstler mit Arbeitsbeschaffüngsambitionen in Guben: Van Hagen.


GUERNICA

Ich war hier und sah nichts mehr
Aufgesogen die Splitter der Bomben
vom Sand

Vögel im Lied, längs des Wegs
in den Schaukeln der Ulmen
Das Gezwitscher der Kinder überall

Es kam aus der Luft: Der Tod hatte Flügel
und scharfe Propeller
Maultiere brüllten, flatternde Windeln
auf Balkonen brannten, das Haar
auf des Schäfers Kopf, der Altar
die Heiligen, die Kirche...

Viele lagen da ohne Gesicht

Ich war hier und sah nichts mehr
Vielleicht hab ich ein Wort, ein Lächeln dagelassen
an das sich ein kleines Gesicht voll Grübchen
erinnert
   oder die Greisin
die vom Montag sprach, 1937
nach Christi Geburt


Picassos Frage

Welche Farbe hat die Gewalt? Ich denke an sein berühmtes Gemälde Guernica: Welche Farben hatten die drei Stunden, in denen Hitler in jener Junkers saß, die an einem friedlichen Markttag die kleine baskische Stadt in Schutt und Asche legte? Es sollte keine Wiedergabe eines Ereignisses sein, sondern der aus den Tiefen seiner eigenen Seele hervorbrechende Zorn und Schmerz. Aber die Farben schwiegen. Da verzichtete Picasso auf sie. Und er schloß auf seinem Gemälde die Verbrechen von Guernica in einen Raum, wo die vor Haß irrsinnige Mutter, ihr erschlagenes Kind auf den Armen, dem Todesstier ihren Fluch entgegenschleudert, wo eine Sterbende mit unwirklichen Augen und offenem Mund ihre Arme in die Ausweglosigkeit streckt. Sterben und erwachendes Bewußtsein, Vision und Wirklichkeit sind in seinem Bild vereint.

Reinhard Bernhof

   

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