|
Falsche Fronten
Je mehr man über die Lage der Welt nachdenkt,
desto verzweifelter müsste man eigentlich werden. Vor allem
die Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten lassen Schlimmstes
befürchten. Man darf die Augen nicht verschließen. Was
droht, ist eine Welt, wo Bombardements und Strafaktionen sich mit
Terroranschlägen ablösen, wo ökologische Katastrophen
und sozialer Kahlschlag obligat werden, wo rassistische und antisemitische
Übergriffe an Bedeutung gewinnen. Auch der Wiederaufstieg des
Religiösen, mag er sich nun islamisch oder christlich munitionieren,
passt in dieses abgedrehte Realszenario. Da werden stolz Haltegriffe
halluziniert, wo doch die Welt der Werte an allen Ecken und Enden
auseinander bricht.
Huntingtons „Clash of civilizations“ scheint
bereits Realität zu sein, man denke nur an den Karikaturenstreit
und seine Folgen. Auf den Schlachtruf „Culture is to die for“,
können sich gar viele einigen. Weltweit. Wird die Austragung
der Konflikte jedoch als Kulturkampf akzeptiert, hat die Emanzipation
schon verloren. Perspektiven gibt es nur jenseits dieser falschen
Front, nicht in ihr.
Die Linke ist in diesem Spiel allerdings zur Zeit
kein Faktor. Hängen sich die einen an die Rockschöße
des Abendlands, insbesondere der USA, so spulen die anderen ihren
Traditionalismus ab, machen ganz unbeeindruckt auf antiimperialistische
Befreiung. Bush wird schön- und Ahmadinejad kleingeredet. Die
Maßstäbe verrutschen ins Irre. Da gratulieren die Krieger
der Wiener „Antiimperialistischen Koordination“ der
antisemitischen Hamas zum Wahlsieg oder eine Pumpgun der Guten lässt
Folgendes verlauten: „Die Europäer seien von Wohlstand
korrumpiert, weil sie schon lange keinen echten Krieg mehr erlebt
hätten, sagte Broder, ihnen sei deshalb die Fähigkeit
abhanden gekommen, auf existentielle Probleme angemessen zu reagieren.“
(FAZ vom 6. Februar 2006)
Sich entweder mit den westlichen Machthabern und der
Wertegemeinschaft zu verbünden oder jeder obskuren Regung in
der Dritten Welt Positives abzugewinnen, darf doch nicht der Weisheit
letzter Schluss sein. Deeskalation kann nur damit beginnen, dass
man sich gegen den Gesamtirrsinn selbst wendet, sich nicht einrühren
lässt in diese durchgeknallten Allianzen der Destruktion.
Die bisherigen Politiken und Denkmuster haben sich
allesamt unfähig erwiesen, sie sind nichts anderes als Bestandteile
einer scheinbar unaufhaltsamen Konfrontation. Die Wahrscheinlichkeit,
dass die USA einen Atomüberfall des Iran auf Israel verhindern,
ist geringer als dass sie selbst atomares Arsenal im Mittleren Osten
einsetzen. Es sind die Vereinigten Staaten von Amerika, die offen
mit dem atomaren Erstschlag drohen. Und Frankreich denkt bereits
in eine ähnliche Richtung. Im Prinzip müssen die Atomwaffen
überhaupt weg, nicht nur dort, aber insbesondere dort. Todessüchtig
sind nicht bloß die Islamisten. Wer seine Interventionen „Enduring
freedom“ oder „Infinite justice“ nennt, demonstriert,
wie er tickt. Angesagt wäre vielmehr Abrüsten.
Wie sich jemand einbilden kann, dass gerade die USA,
nachdem sie Jahrzehnte maßgeblich zur Misere beigetragen haben
und soeben im Irak kläglich scheitern, etwas gutmachen können,
ist ein Rätsel. Eine Intervention im Iran würde die Lage
nur immens verschärfen. Vergessen werden darf auch nicht, dass
es die islamische Bombe schon gibt; Pakistan hat sie, und was im
Falle einer weiteren Zuspitzung dort passiert, weiß keine
Weltmacht vorauszuplanen. Aber noch ist der einstige Ziehvater der
Taliban, Musharraf, ein Guter, wie auch dessen Erzfeind Indien plötzlich
einer werden darf. Obwohl sich beide Länder Jahrzehnte über
den Atomsperrvertrag hinweggesetzt haben, werden sie hofiert. Das
Ganze nennt sich Weltpolitik und ist doch ein gefährliches
Gemisch aus Intrige, Manöver und Kalkül.
Der Identitätswahn steht in voller Blüte.
In der großen Welt wie auch im linken Minimundus. Kritik daran
ist unumgänglich. Aber sie reicht nicht. Das Fatale ist, dass
Kritik sich erschöpft, wenn sie keine Perspektive bieten kann.
Da kann jene noch so richtig sein, wenn kein „Gegenland“
(Ernst Bloch) in Sicht gerät, werden sich die Leute mit den
herrschenden Angeboten nicht nur abfinden, sondern in ihrer Verlorenheit
diese aggressiv vertreten. Kritik und Perspektive müssen zusammenfinden,
als isolierte Größen können sie nur verkümmern.
Franz Schandl
A – Wien
***
Worüber kein Grass wächst
Ein Sturm weht durch den bundesrepublikanischen Blätterwald,
die Feuilletons rauschen, die Redaktionen sind begeistert über
dieses Sommerthema, die Leserschaft vibriert. Die führenden
Scheinheiligen der Republik schreien auf. Allen voran der Spiegel:
„Man wird ihm den Nobelpreis nicht aberkennen, die Schweden
werden sich nicht blamieren wollen, aber man wird ihn fortan nur
noch als die Karikatur seiner selbst wahrnehmen und ihm einen Platz
in der Hall of Shame zuweisen.“ Und so stellt der Geiferer
vom Dienst am Ende fest: „Dass auf dem Umweg über Grass
die Waffen-SS rehabilitiert wird.“
Wer ist eigentlich „man“, Herr Broder?
Nicht alle Linken in diesem Lande haben GG zu ihrem
Jesus gemacht, zur obersten moralischen Instanz, an den zu glauben
alle Schuld, auch die, die sich nur in Gedanken manifestiert, tilgt.
GG war gerade nicht der lebendige Beweis, daß das deutsche
Volk seine Vergangenheit bewältigt hat. Er war es schlicht
aus dem Grunde nicht, weil er sie - nicht einmal für sich selbst
- bewältigen konnte. Er hat sie verarbeitet. Er hat sie in
dem Sinne verarbeitet, wie es einem Schriftsteller gemäß
ist. Und er verarbeitet sie immer noch. Daran wird ihn auch das
Geschrei von Leuten nicht hindern, die ihr Denkmal - das sie aber
offenbar nicht zum Denken angeregt hat - von dessen eigener Hand
vom Sockel gestürzt sehen.
Das Gewieher jener, denen er auf die Füße
getreten hat, deren Ränkespiele er entlarvte, wird ihn, wie
gewohnt, weiterhin begleiten. Dieses Gewieher fällt - zumindest
publizistisch - etwas leiser aus. Das liegt an der Wahl der Quelle,
der er die Nachricht, noch vor der Veröffentlichung des Buches,
anvertraute. Aber die braunen Horden sind begeistert, sie werden
den Todestag des Hitlerstellvertreters Rudolf Hess auch weiterhin
mit der gewohnten Inbrunst begehen, ihre gerichtlich genehmigten
Aufmärsche werden wie bisher davon Zeugnis ablegen, daß
sich Vergangenheit nicht bewältigen läßt.
Ich verzichte darauf, mich in Mutmaßungen zu
ergehen, sowohl über die knapp einjährige Zugehörigkeit
des 17-jährigen Günter Grass zur SS-Panzerdivision Frundsberg,
wie auch über den Zeitpunkt der freiwilligen Veröffentlichung
dieses Tatbestandes durch den Schriftsteller Günter Grass.
Ich stelle fest, daß es, neben Stellungnahmen von Leuten vom
Schlage des Spiegel-Redakteurs Broder, auch Anmerkungen von Mitmenschen
gibt, die zu den Opfern des nationalsozialistischen Massakers gehörten
und die sich trotzdem und gerade im Hinblick darauf ein Gefühl
für Dimensionen bewahrt haben. Ein Gefühl, das besonders
bei der Beurteilung von Ursache und Wirkung eine Rolle spielt.
Es wäre ein Zeichen der Hoffnung, wenn ältere
Leser „Beim Häuten der Zwiebel“ den momentanen
Eklat, der gewiß kein Beleg für die Volljährigkeit
der 57-jährigen Bundesrepublik ist, zumindest gedanklich ausblenden
und den Versuch unternehmen, das Gelesene in Beziehung zum eigenen
Langzeitgedächtnis zu setzen. Und wenn sie sich darüber
hinaus noch entschließen könnten, Jüngeren zu vermitteln,
daß kein Mensch unfehlbar ist, daß aber die Fähigkeit,
einen Irrtum einzusehen, zu den wichtigsten menschlichen Tugenden
gehört, dann wäre das wirklich - wie Politiker aller Couleur
so gern phrasieren - ein Schritt in die richtige Richtung.
Dieter J Baumgart
F – Mourèze
***
Zu Goyas Los Fusilamientos
3. Mai 1808
Fettleibig ein Priester
kauernd im Gebet
Fruchtgelbes Licht
aus der Laterne
Kugeln: sprungbereit
Kohlenäugig warm
waren die Augen des Bauern
Das Angesicht des Todes aber kennt
dieses Weiß um die Pupille
Ich seh Lorcas
Grimaus Gesicht
Blut im Sand
aus reinem Karmin
schreit
unüberhörbar
ungehört
Goyas Alptraum
Ein Toter liegt in der Blutlache. Karminrot. Blut
auch auf seiner Stirn, flankiert von seinen ausscherenden Armen.
Winklig angezogen sein Knie. Dahinter der Berg, lauernd wie eine
Ozeanwoge: lehmig, tonig.
Da knien sie nun, glühende Stürmer noch
vor wenigen Stunden. Da gaben sie sich, ohne Anführer, selbst
den Befehl, und ihr brüllendes Amok ergoß sich auf die
Straße. Die Gardefüsiliere aber beugten sich dem Befehl
Murats, Napoleons Marschall. - Was heißt, beugten sich? -
Sie gehorchten. Murat wußte an jenem Mai nichts Besseres,
als Kanonen auffahren zu lassen und in die protestierende Menge
zu schießen. Napoleon ließ die Soldaten seines Marschalls,
einer Truppe von 40 000 Mann, nach Madrid marschieren; angeblich
zum Aufmarsch gegen die Engländer in Portugal. In Wirklichkeit,
um Spanien zu besetzen. Als Ferdinand VII als neuer König unter
den Hochrufen der Madrider von Napoleon nach Bayonne gerufen und
der letzte thronberechtigte Prinz, Francico de Paula, ebenfalls
nach Bayonne in französische Gefangenschaft gebracht werden
sollte, strömten die Bürger aus den einfachen Wohnvierteln
Madrids - verstärkt durch die Bauern aus der Umgebung - auf
den Platz vor dem königlichen Schloß in heller Empörung
zusammen. Die Bauern und Städter besaßen nichts als Messer,
Dolche, Hacken, Äxte und Schippen. Sie kämpften wild und
ohne Strategie. Goya wohnte in der Nähe und sah dem Kampf zu.
Manch einer konnte in den Häusern entkommen. Aber viele prallten
ab an den plötzlich verschlossenen Türen. Sie wurden eingefangen
und an einem Abhang im Frühmorgen des 3. Mais niederkartätscht.
Für Goya mußte es wie ein Alptraum gewesen sein. Aber
sechs Jahre später malte er dann die Füsilierung.
Erdige Farben, durchdrungen von Ocker. Der Himmel
graugrün, eher dunkelgrün, hoffnungslos. Keine Farbe grünt
richtig. Alle Farben sind vermischt und zusammengewachsen. Auch
das Hemdweiß des Bauern ist gelblich schattiert. Laternenlicht
zeigt den Füsilieren das Ziel. Einer der zu Füsilierenden
beißt sich in die Hände, den Schrei zu ersticken. Aus
den Gesichtern der anderen ringt die letzte Erwartung, genauer gesagt:
ihre entgeisterten Augen, von klobigen Landarbeiterhänden zugedeckt,
oder ihre Augen, die zum Unfaßlichen hinauf in den Äther
starren.
Goya ein Zeitgenosse von Goethe und Beethoven. - Was
kam danach? Millionen ähnliche Gesichter noch vor wenigen Jahrzehnten.
Und die unsichtbar gebliebenen Augen in den deutschen Gaskammern,
nicht so auffallend wie bei Goya. Der Tod dezenter, mit einem stets
unschuldsvollem Ton, wenn die Leiber brannten. Der Tod “ein
Meister aus Deutschland,“ (Paul Celan), ein Künstler
mit Arbeitsbeschaffüngsambitionen in Guben: Van Hagen.
GUERNICA
Ich war hier und sah nichts mehr
Aufgesogen die Splitter der Bomben
vom Sand
Vögel im Lied, längs des Wegs
in den Schaukeln der Ulmen
Das Gezwitscher der Kinder überall
Es kam aus der Luft: Der Tod hatte Flügel
und scharfe Propeller
Maultiere brüllten, flatternde Windeln
auf Balkonen brannten, das Haar
auf des Schäfers Kopf, der Altar
die Heiligen, die Kirche...
Viele lagen da ohne Gesicht
Ich war hier und sah nichts mehr
Vielleicht hab ich ein Wort, ein Lächeln dagelassen
an das sich ein kleines Gesicht voll Grübchen
erinnert
oder die Greisin
die vom Montag sprach, 1937
nach Christi Geburt
Picassos Frage
Welche Farbe hat die Gewalt? Ich denke an sein berühmtes
Gemälde Guernica: Welche Farben hatten die drei Stunden, in
denen Hitler in jener Junkers saß, die an einem friedlichen
Markttag die kleine baskische Stadt in Schutt und Asche legte? Es
sollte keine Wiedergabe eines Ereignisses sein, sondern der aus
den Tiefen seiner eigenen Seele hervorbrechende Zorn und Schmerz.
Aber die Farben schwiegen. Da verzichtete Picasso auf sie. Und er
schloß auf seinem Gemälde die Verbrechen von Guernica
in einen Raum, wo die vor Haß irrsinnige Mutter, ihr erschlagenes
Kind auf den Armen, dem Todesstier ihren Fluch entgegenschleudert,
wo eine Sterbende mit unwirklichen Augen und offenem Mund ihre Arme
in die Ausweglosigkeit streckt. Sterben und erwachendes Bewußtsein,
Vision und Wirklichkeit sind in seinem Bild vereint.
Reinhard Bernhof
|
|
|
Netzbrücke:
• Necati Merts Kolumne
• Mehr lesenswertes
Textmaterial
• Wider den Schwarzen Winter
• Porträt des Periodikums
|
|