XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
24.10.2006

 
 

 

 
 

 

 

Kosmopolitane Menschenwelten

Zuwanderer aus bildungsfernen Schichten haben kaum Chancen
Briefwechsel zwischen Lale Akgün (MdB) und Karl Feldkamp

   
 
 

Lale Akgün, 1953 in Instanbul geboren, Psychologin, Mitglied der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages, kam mit 9 Lebensjahren nach Deutschland und wurde 1981 deutsche Staatsbürgerin. In der SPD-Fraktion ist sie zuständig für Integration.

Karl Feldkamp, 1943 in Lübeck geboren, als freier Autor tätig, arbeitet darüber hinaus als Sozialarbeiter beim Kölner Amt für Kinder, Jugend und Familie und ist dort für Familienfreundlichkeit in Köln zuständig.

Beide haben bis 1997 in der städtischen Familienberatung Kölns gelegentlich sogar gemeinsam deutsche und Familien mit Migrationshintergrund beraten. Lale Akgün war von 1992-1997 stellvertretende Leiterin der städtischen Familienberatung und im Anschluss bis 2002 Leiterin der Landeszentrale für Zuwanderung in Nordrhein-Westfalen.

Feldkamp, überzeugter Verfechter multikultureller Auffassungen, verfolgte in letzter Zeit selbst bei Politikern, die ähnliche Auffassungen vertraten wie er, eine deutliche oder schleichende Abkehr von einstigen Multikulti-Positionen.

Was lag da näher, als mit Lale Akgün, seiner ehemaligen Familienberatungskollegin und Vorgesetzten sowie ausgewiesenen Fachfrau für Integration folgenden Briefwechsel einzugehen?


Liebe Lale,

Multikulti ist offenbar out, so höre ich allenthalben. Selbst DIE GRÜNEN, die sich in ihren Programm immer damit rühmten, wenden sich vorsichtig davon ab. Die Sozialdemokraten geben in der sogenannten Großen Koalition offenbar auch immer mehr von jener Haltung auf.

Wir beide arbeiteten vor einigen Jahren zusammen als Familienberater, in Köln, einer Stadt, die ihre liberale multikulturelle Haltung stets und nicht ohne Stolz betonte. Soll diese Haltung in dieser Stadt demnächst nicht mehr möglich sein? Wird damit nicht Vielfalt und Freiheit einer allgemeinen Islamisten-Angst geopfert und damit gerade jenen radikalen Fundamentalisten ein für sie nicht unwesentlicher Teilsieg überlassen?

Nun gut, Menschen, die zusammen leben wollen, müssen sich sprachlich verständigen können. Somit empfinde ich es auch als Notwendigkeit, sich mit Migranten, die sich in Deutschland niederlassen wollen, in einer Sprache unterhalten zu können. Aber wird da über die deutsche Spracherziehung nicht zugleich versucht, durch die Hintertür die so genannte deutsche Leitkultur für alle zukünftigen deutschen Personalausweisbesitzer und -besitzerinnen einzuführen, besonders für die mit Migrationshintergrund.

Warum kann nicht weiterhin kulturelle Vielfalt eine Bereicherung für Deutschland und die Deutschen bedeuten? Gibt es nicht auch in unserem Land genügend, die stolz darauf sind, Weltbürger zu sein? Und warum kommt dieses Umdenken ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Einwanderung in unser Land deutlich nachzulassen beginnt?

Steckt hinter allem eventuell nichts Anderes als der Absolutheitsanspruch der christlichen Religionen, die Christen, und ganz besonders die fundamentalistischen unter ihnen, am liebsten dem Islam unterstellen?.

Ist nicht die derzeitige Anti-Multikulti-Debatte Wasser auf deutsch-nationalistische Mühlräder, die dabei nicht zuletzt aus äußerst trüben Abwässern schöpfen?

Wie verstehst du als jene, die in ihrer (sozialdemokratischen) Partei für Integration zuständig ist, diesen deinen Auftrag? Immerhin gehörst du auch zu jenen Deutschen, die einen so genannten Migrationshintergrund haben.

Zeugt eigentlich Mulitkulti-Denken wirklich von so großer Naivität, wie uns derzeit selbst ernannte Realpolitiker immer wieder weis machen wollen?

Oder wird einmal mehr aus Machtinteressen Fremdenangst geschürt, die von innerdeutschen Problemen ablenken soll? Das hat doch vor gut sechzig Jahren schon einmal auf spätgermanische Irrwege geführt.

Nach meinem Empfinden ist es gute demokratische Sitte, mit allen Staatsbürgern unseres Landes partnerschaftlich umzugehen, soweit sie sich zur Demokratie bekennen und bereit sind, mit uns dazu zu lernen, was es bedeutet, friedlich zusammen zu leben. Wie aber soll das gehen, wenn nur Staatsbürger deutschen Geblüts die gleicheren Partner sind?

Ich bin sehr gespannt auf deine Antworten.

Mit herzlichem Gruß

Karl Feldkamp

Lieber Karl,

wie Du selbst betonst, sind wir beide überzeugte Kölner und von dieser Stadt geprägt.

Der § 7 des Kölschen „Grundgesetzes“: „jede Jeck is anders“ hat das vorbildliche, weltoffene und kulturell vielfältige Gesellschaftsbild, das Du mit „Multikulti“ beschreibst, längst verinnerlicht, bevor andere den Begriff geprägt haben.

Diese Haltung, diese Lebensweise möchte ich nicht nur in dieser Stadt erhalten, sondern ich bin überzeugt: mehr davon, mehr von Köln für ganz Deutschland täte unserem Land gut.

Ich hänge in dieser Debatte aber nicht an Begriffen. „Multikulti“ kann und wird als Schlagwort und Parole von Befürwortern und Gegnern einer weltoffenen Gesellschaft genutzt und missbraucht.

Als Sozialdemokratin geht es mir jedoch um die Inhalte, um die drängenden Zukunftsfragen, die sich aus dem Inhalt von „Multikulti“ für mich ergeben.

Wie kann Deutschland als modernes Einwanderungsland zukunftstauglich gestaltet werden? Wie kann Integration gelingen? Und wer ist schuld am vorherrschenden Bild, dass Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft scheinbar nicht zueinander finden?

Dabei möchte ich eines als Prämisse festhalten. Die Behauptung der Gegner von „Multikulti“, dass sich Einwanderer, zumal muslimische, immer weiter von den Werten Deutschlands entfernen, hat mit der Realität reichlich wenig zu tun. Die Realität ist, dass die Zuwanderer natürlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland mitgeprägt werden und sie auch wissen, dass in dieser Leistungsgesellschaft Erfolg nur durch Integration erreicht werden kann. Das Problem liegt woanders: Zuwanderer aus bildungsfernen Schichten haben kaum Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe- im schulischen Bereich, bei der Ausbildungsplatzvergabe, in der Arbeitswelt. Wo gibt es dort Gesetze und Vorschriften, die Chancengleichheit wirklich fördern?

Dies ist für mich der Kern der Integration: die Verwirklichung von Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Auch und gerade die von Dir angesprochenen mangelnden Sprachkenntnisse sind kein Ausdruck für ein Leben in einer „Parallelgesellschaft“. Sie haben mit Bildungsdefiziten und sozialer Benachteiligung zu tun. Deutsche Jugendliche aus vergleichbaren Milieus haben dieselben Probleme in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt. Dies zeigt uns die Pisa-Studie, die beweist, dass der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft nirgendwo größer ist als in Deutschland.

Ein Blick über die Landesgrenzen hinweg nach Frankreich mag unseren Blick wieder schärfen. Dort ist die Situation, obwohl Sprachkenntnisse und Staatsbürgerschaft bei den meisten Zugewanderten vorhanden sind, für diese nicht viel anders als bei uns.

Das französische Beispiel lehrt uns: Auch wenn die ganzen frommen Wünsche von Sprachkenntnissen und Einbürgerungen wahr werden würden, so wäre die ethnische Unterschichtung in Deutschland noch lange nicht aufgehoben. Integration kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft auch einen Platz für die Zugewanderten bereithält. Andernfalls zementieren wir die ethnische Unterschichtung. Diese können wir uns aber nicht leisten, weil sie gegen die Grundsätze unseres Zusammenlebens verstößt.

Wer heute am lautesten nach dem Ende von „Multikulti“ ruft und das Thema Chancengleichheit außer Acht lässt, der betreibt in Wirklichkeit eine unsinnige und gefährliche Neuauflage der Leitkultur-Debatte. In Deutschland leben über 7 Millionen Ausländer und der Islam ist mit 3,2 Millionen Gläubigen längst die drittgrößte Religion in Deutschland. Schon jetzt haben 40 Prozent aller Schüler in Westdeutschland einen Migrationshintergrund. Die Prognose, dass wir es in 20 Jahren mit einer Fifty-fifty-Gesellschaft zu tun haben werden, die zu gleichen Teilen aus Menschen ohne und eben mit Migrationshintergrund besteht, ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Minderheiten von heute sind die Deutschen von morgen. Und wir müssen daran arbeiten, dass diese neue Gesellschaft zusammen wächst.

Wie heißt es in § 3 des Kölschen Grundgesetzes so schön: Nix bliev wie et es! (Nichts bleibt wie es ist!)

Lale Akgün

   

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