Lale Akgün, 1953 in Instanbul geboren, Psychologin,
Mitglied der SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages, kam mit 9 Lebensjahren
nach Deutschland und wurde 1981 deutsche Staatsbürgerin. In
der SPD-Fraktion ist sie zuständig für Integration.
Karl Feldkamp, 1943 in Lübeck geboren, als freier
Autor tätig, arbeitet darüber hinaus als Sozialarbeiter
beim Kölner Amt für Kinder, Jugend und Familie und ist
dort für Familienfreundlichkeit in Köln zuständig.
Beide haben bis 1997 in der städtischen Familienberatung
Kölns gelegentlich sogar gemeinsam deutsche und Familien mit
Migrationshintergrund beraten. Lale Akgün war von 1992-1997
stellvertretende Leiterin der städtischen Familienberatung
und im Anschluss bis 2002 Leiterin der Landeszentrale für Zuwanderung
in Nordrhein-Westfalen.
Feldkamp, überzeugter Verfechter multikultureller
Auffassungen, verfolgte in letzter Zeit selbst bei Politikern, die
ähnliche Auffassungen vertraten wie er, eine deutliche oder
schleichende Abkehr von einstigen Multikulti-Positionen.
Was lag da näher, als mit Lale Akgün, seiner
ehemaligen Familienberatungskollegin und Vorgesetzten sowie ausgewiesenen
Fachfrau für Integration folgenden Briefwechsel einzugehen?
Liebe Lale,
Multikulti ist offenbar out, so höre ich allenthalben.
Selbst DIE GRÜNEN, die sich in ihren Programm immer damit rühmten,
wenden sich vorsichtig davon ab. Die Sozialdemokraten geben in der
sogenannten Großen Koalition offenbar auch immer mehr von
jener Haltung auf.
Wir beide arbeiteten vor einigen Jahren zusammen als
Familienberater, in Köln, einer Stadt, die ihre liberale multikulturelle
Haltung stets und nicht ohne Stolz betonte. Soll diese Haltung in
dieser Stadt demnächst nicht mehr möglich sein? Wird damit
nicht Vielfalt und Freiheit einer allgemeinen Islamisten-Angst geopfert
und damit gerade jenen radikalen Fundamentalisten ein für sie
nicht unwesentlicher Teilsieg überlassen?
Nun gut, Menschen, die zusammen leben wollen, müssen
sich sprachlich verständigen können. Somit empfinde ich
es auch als Notwendigkeit, sich mit Migranten, die sich in Deutschland
niederlassen wollen, in einer Sprache unterhalten zu können.
Aber wird da über die deutsche Spracherziehung nicht zugleich
versucht, durch die Hintertür die so genannte deutsche Leitkultur
für alle zukünftigen deutschen Personalausweisbesitzer
und -besitzerinnen einzuführen, besonders für die mit
Migrationshintergrund.
Warum kann nicht weiterhin kulturelle Vielfalt eine
Bereicherung für Deutschland und die Deutschen bedeuten? Gibt
es nicht auch in unserem Land genügend, die stolz darauf sind,
Weltbürger zu sein? Und warum kommt dieses Umdenken ausgerechnet
zu einer Zeit, in der die Einwanderung in unser Land deutlich nachzulassen
beginnt?
Steckt hinter allem eventuell nichts Anderes als der
Absolutheitsanspruch der christlichen Religionen, die Christen,
und ganz besonders die fundamentalistischen unter ihnen, am liebsten
dem Islam unterstellen?.
Ist nicht die derzeitige Anti-Multikulti-Debatte Wasser
auf deutsch-nationalistische Mühlräder, die dabei nicht
zuletzt aus äußerst trüben Abwässern schöpfen?
Wie verstehst du als jene, die in ihrer (sozialdemokratischen)
Partei für Integration zuständig ist, diesen deinen Auftrag?
Immerhin gehörst du auch zu jenen Deutschen, die einen so genannten
Migrationshintergrund haben.
Zeugt eigentlich Mulitkulti-Denken wirklich von so
großer Naivität, wie uns derzeit selbst ernannte Realpolitiker
immer wieder weis machen wollen?
Oder wird einmal mehr aus Machtinteressen Fremdenangst
geschürt, die von innerdeutschen Problemen ablenken soll? Das
hat doch vor gut sechzig Jahren schon einmal auf spätgermanische
Irrwege geführt.
Nach meinem Empfinden ist es gute demokratische Sitte,
mit allen Staatsbürgern unseres Landes partnerschaftlich umzugehen,
soweit sie sich zur Demokratie bekennen und bereit sind, mit uns
dazu zu lernen, was es bedeutet, friedlich zusammen zu leben. Wie
aber soll das gehen, wenn nur Staatsbürger deutschen Geblüts
die gleicheren Partner sind?
Ich bin sehr gespannt auf deine Antworten.
Mit herzlichem Gruß
Karl Feldkamp
Lieber Karl,
wie Du selbst betonst, sind wir beide überzeugte
Kölner und von dieser Stadt geprägt.
Der § 7 des Kölschen „Grundgesetzes“:
„jede Jeck is anders“ hat das vorbildliche, weltoffene
und kulturell vielfältige Gesellschaftsbild, das Du mit „Multikulti“
beschreibst, längst verinnerlicht, bevor andere den Begriff
geprägt haben.
Diese Haltung, diese Lebensweise möchte ich nicht
nur in dieser Stadt erhalten, sondern ich bin überzeugt: mehr
davon, mehr von Köln für ganz Deutschland täte unserem
Land gut.
Ich hänge in dieser Debatte aber nicht an Begriffen.
„Multikulti“ kann und wird als Schlagwort und Parole
von Befürwortern und Gegnern einer weltoffenen Gesellschaft
genutzt und missbraucht.
Als Sozialdemokratin geht es mir jedoch um die Inhalte,
um die drängenden Zukunftsfragen, die sich aus dem Inhalt von
„Multikulti“ für mich ergeben.
Wie kann Deutschland als modernes Einwanderungsland
zukunftstauglich gestaltet werden? Wie kann Integration gelingen?
Und wer ist schuld am vorherrschenden Bild, dass Minderheiten und
Mehrheitsgesellschaft scheinbar nicht zueinander finden?
Dabei möchte ich eines als Prämisse festhalten.
Die Behauptung der Gegner von „Multikulti“, dass sich
Einwanderer, zumal muslimische, immer weiter von den Werten Deutschlands
entfernen, hat mit der Realität reichlich wenig zu tun. Die
Realität ist, dass die Zuwanderer natürlich von den gesellschaftlichen
Verhältnissen in Deutschland mitgeprägt werden und sie
auch wissen, dass in dieser Leistungsgesellschaft Erfolg nur durch
Integration erreicht werden kann. Das Problem liegt woanders: Zuwanderer
aus bildungsfernen Schichten haben kaum Chancen auf gesellschaftliche
Teilhabe- im schulischen Bereich, bei der Ausbildungsplatzvergabe,
in der Arbeitswelt. Wo gibt es dort Gesetze und Vorschriften, die
Chancengleichheit wirklich fördern?
Dies ist für mich der Kern der Integration: die
Verwirklichung von Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen
Bereichen.
Auch und gerade die von Dir angesprochenen mangelnden
Sprachkenntnisse sind kein Ausdruck für ein Leben in einer
„Parallelgesellschaft“. Sie haben mit Bildungsdefiziten
und sozialer Benachteiligung zu tun. Deutsche Jugendliche aus vergleichbaren
Milieus haben dieselben Probleme in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt.
Dies zeigt uns die Pisa-Studie, die beweist, dass der Zusammenhang
zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft nirgendwo größer
ist als in Deutschland.
Ein Blick über die Landesgrenzen hinweg nach
Frankreich mag unseren Blick wieder schärfen. Dort ist die
Situation, obwohl Sprachkenntnisse und Staatsbürgerschaft bei
den meisten Zugewanderten vorhanden sind, für diese nicht viel
anders als bei uns.
Das französische Beispiel lehrt uns: Auch wenn
die ganzen frommen Wünsche von Sprachkenntnissen und Einbürgerungen
wahr werden würden, so wäre die ethnische Unterschichtung
in Deutschland noch lange nicht aufgehoben. Integration kann nur
gelingen, wenn die Gesellschaft auch einen Platz für die Zugewanderten
bereithält. Andernfalls zementieren wir die ethnische Unterschichtung.
Diese können wir uns aber nicht leisten, weil sie gegen die
Grundsätze unseres Zusammenlebens verstößt.
Wer heute am lautesten nach dem Ende von „Multikulti“
ruft und das Thema Chancengleichheit außer Acht lässt,
der betreibt in Wirklichkeit eine unsinnige und gefährliche
Neuauflage der Leitkultur-Debatte. In Deutschland leben über
7 Millionen Ausländer und der Islam ist mit 3,2 Millionen Gläubigen
längst die drittgrößte Religion in Deutschland.
Schon jetzt haben 40 Prozent aller Schüler in Westdeutschland
einen Migrationshintergrund. Die Prognose, dass wir es in 20 Jahren
mit einer Fifty-fifty-Gesellschaft zu tun haben werden, die zu gleichen
Teilen aus Menschen ohne und eben mit Migrationshintergrund besteht,
ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Minderheiten von heute sind
die Deutschen von morgen. Und wir müssen daran arbeiten, dass
diese neue Gesellschaft zusammen wächst.
Wie heißt es in § 3 des Kölschen Grundgesetzes
so schön: Nix bliev wie et es! (Nichts bleibt wie es ist!)
Lale Akgün
|