XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Necati Mert´s Kolumne

Die imperiale Imagination: Die Integrationsindustrie


   
 
 

Die Malaise der globalen Gigantomanie, die durch den zeitgeistzeremoniell gezüchteten Bilder- und Blätterwald allelei Spielart kurzweilig breitgetreten wird, tangiert die Laune für ein volkstümliches Geraune. Mit derartiger Melodie, welche die Gemeinplatz-Gesellschafter vorspielen, verbürgen sie, das postmodernisierten Kleinbürgertum zum Tanzen zu bringen – auf der Plattform eines markant Menschenrechtsmeriten mimenden Sozialdarwinismus.

Aufsperren läßt sich den fremdländischen Zugpferden die Stalltür einen Spalt, solange sie dazu taugen, die Kurve der Wachstumsraten aufwärts zu zerren und sich noch dazu so assimilationsemsig qualifizieren, das Deutschtum vor dem demographischen Dämon zu behüten, das heißt, seinem Aussterben entgegenzuwirken. Gegen die kapitalismusinternen Kapriolen kreieren die prominenten Werbetrommler der tüchtigen Teutonen-Yuppies mit dem kreischenden Gefälligkeitsgetue für die potentiellen Proleten, den Kulturkreis-Humanismus, die Soziabilität sowie virtuose Weltverantwortlichkeit. In den kosmischen Kaskaden ihrer leitkulturimmanenten Elogen kommen sie zur selben Zeit als Kassenverwalter des Kasperletheaters ans Licht.

Freie Fahrt dem Tüchtigen und Krieg dem Taugenichts – diesem Wahlspruch entspricht die Varietät der eingewurzelten Politokratie, die in der Oberkastenschichtstube der hedonistisch aufgeheiterten Schicksalsgemeinschaft – ein Konglomerat aus zivilgesellschaftlichen Zierden und kommunitarischen Begleitkompositionen – haust. Das mediokratische Melodrama mit dem Kollaps-, Konkurrenz- und Katastrophen-Tropus, eskaliert mit der biblisch gelieferten Apokalypse-Abart, alarmiert die unterschichtinhärenten Untertanen, notfalls einem Trugschluß zu unterliegen, wenn sie das Regime ihrer Regenten ausersehen.

Integration zielt nicht auf die Bürgerrepublik, sondern auf die Definition der unterordnenden Paradigmata. Statt das universal Verbindende und die individuelle Autonomie zu aktualisieren, modelliert sie Kulturen, fundiert sie mit Identitäten. Ghettos oder „Parallelgesellschaften“ sind daher keine Ausrutscher aus dem Gewünschten, sondern seine Ausgeburten. Eine Machart, die ermöglicht, unterprivilegierten Kollektive als Minorität einzulullen, die qualifizierten Eliten aus ihr herauszufiltern und den ethnischen Bruch auszubauen. Wenn die Integration, wie man vorgibt, zur (Chancen)-Gleichheit den Weg ebnet, dann sollte zuvorderst das Postulat honoriert werden, daß alle Menschen von Geburt her gleich sind.

Der Leitfaden der Identität ist die Definition des anderen und des Unterschieds. Sie grenzt das andere nicht nur aus, sondern würdigt sie auch herab, bis zur Negation. Sie erkennt den Menschen nicht als autonomes Wesen an, sondern als leibeigen. Kollektive Identität negiert die Gleichwertigkeit des anderen. Kulturelle Identität ist der subjektive Sinneseindruck von Kontrasten. Sie fungiert auf einem System der Symbole, auf ethnozentrischen Konstanten.

Also biegt die Integration als ein Augenschein der homogenisierenden Interaktion die mulmigen Mißverhältnisse in der Talmulde des heterogenen Menschenmaterials gerade.

Das Kabale-Kabarett mit dem EU-Papierwerk »Minderheitenschutz«

Die Kontroversen zum Tandwerk, ob die Republik Türkei für die Reife einen Beweis erbringen kann, den Türgriff des Euro-Clubs zu befingern, erreichten während der Wahlkämpfe zum Europäischen Parlament bis auf weiteres die Talsohle bzw. den Gipfel, ohne die Konturen zu veranschaulichen, welche Fragmente dieses Konglomerat kreiert. Die frommen Frondeure eines E-Konstrukts mit den Kompagnons nicht-christlicher Glaubenslehre bauen das Evangelium („gute Botschaft“) auf als Grundsäule für ein zielstrebig haltbares Viadukt auf lange Sicht. Die Befürworter der Beitrittsgespräche untermauerten hingegen ihr Lehrgebäude variabel mit den Idealen der Aufklärung und stellen den Scherenschnitt des Realen auf den Kopf. Daß sie die idealisierte Despotie der Bourgeoisie zum Inhalt hatte, verflüchtigte sich in der Silhouette der parlamentarischen Postenjäger. Ob der Protestantismus die bürgerliche Klasse auf die Geschichtsbühne begleitete oder umgekehrt, ob sie ihn aus der Taufe hob, bleibt eine rätselvolle Volte, ein obskures Gedankengut in der Vitrine des abendländischen Ideologieladens.

Die gottlob belobte Aufklärung ging selbst gegen den Katholizismus nicht mit der Fiktion vor, dem Klerus das Heft aus der Hand zu nehmen, sondern ihm gemäß dem Zweckverband des zielstrebigen Besitzbürgertums Gestalt zu verleihen. Demnach entpuppt sich die gegenwärtige E-Euphorie als eine abermalige Renaissance des christlichen Abendlandes auf der Stufe des Hightech-Kapitalismus, dessen Pathos der Informationsgesellschaft das kollektive Bewußtsein manipuliert und das soziale Geschick des Menschengeschlechts vernebelt.

Mit dem überlauten Aufwand der Reklametrommel des ökumenischen Stelldicheins, des Dialog-Gefasels gemäß der Agenda der monotheitischen Glaubensbekenntnisse, steuern die Strategiestäbe der Eurokratie eine Evangelisation der Province Anatolia an, attackieren daher unablässig die dortige Maxime des Laizismus. Von dem manifesten Manierismus der Pax Americana weiß man, daß die militanten Mentoren der imperialen Gelüste einen Hintergrund evangelischer Allianzen aufweisen. Während hier die Wortklauber der „Privilegierten Partnerschaft“ ihren Blütentraum auf die Regimenter des gemäßigten Islamismus im kleinasiatischen Tafelland hegen, experimentieren die eurozentrischen Advokaten des eventuellen Beitrittsgeplauders, mit dem Menschenrechtsmetier – auf den Terminus „Minderheitenschutz“ gekürzt und die sozialen Komponente kategorisch negiert – dem endkapitalistischen Expansionsprozeß Druck zu verleihen. Dieses kulturalistische Kalkül, den Geknebelten zu Hilfe zu eilen, ruft das Intrigenspiel des Auswärtigen Amtes, in Balkanien, primär im Bundesstaat Jugoslawien, das ethnische Auseinanderdriften anzuspornen, ins Gedächtnis.

Daß das Feigenblatt „Minderheitenschutz“ in Kleinasien gerade von den beiden EU-Obermächten D-Land und F-Reich ausgespannt wird, ist eine Extra-Attraktion des Kabale-Kabaretts. Ihnen gelang es nämlich vor über einem Dutzend Jahren, der „Europäischen Charta für regionale und Minderheitensprachen“ nach eigenem Gutdünken Schranken zu setzen. Die eingewanderten Minoritäten wurden unter dem Diktat der alliierten Nachfahren von Jakobinern und Junkern aus dem kulturalistisch kokettierten Gemeinplatz der Determination ausgemustert. Abgesehen davon, daß ca. acht Millionen Einwohner der bundesdeutschen Republik unter dem Titel „Ausländer“ mit Fronarbeit versehen und abqualifiziert werden, können z.B. hunderttausende eingewanderte Deutschländer mit „Nationalität: deutsch“ in ihrem Identitätspapier das EU-Papierwerk „Minderheitenschutz“ nicht in Anspruch nehmen.

Zum Exempel gibt es einen Riesenwuchs von Raffinessen, wie die potente Pappschachtel „Menschenrechte“ in den talentierten Händen ihrer abendländischen Protektoren plattgedrückt wird. Trotzdem drängelt sich die Europäische Union talmihaft als historische Gouvernante der Zivilisation vor, verflüchtigt sich de facto in den Schützengräben des „Clash of civilization“, für den sie das Feuer angezündet hat.

   

Netzbrücke:

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