XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

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Reinhard Bernhof: Freier Fall, sagte Heiner K.

   
 
 

Freiheit ist käuflich, ebenso die Wahrheit, sagte Heiner K.
Wir sind für die Freiheit und die ganze Wahrheit
wieder zu arm. Gehöre nun zu den 75 000 Arbeitslosen
in und um die „HELDENSTADT“,
zu den Nieten in der Lotterie des Seins
.

Als es anfing im Oktober 89 beim Lachen
über unsere korrumpierten Ideale
füllten wir die Kirchenschiffe. Wenngleich
wir keine Gläubigen waren, wollten wir
nicht mehr länger den Kopf verlieren, sondern frei
und gleich das Herz erproben, die Hände reichen
um den Ring:
den Brüderlichen, ein Bruder
daß nun Glück und Sonne herunterkommen möge
auf das Glasdach meines VEBs, um damit etwas
selber anzufangen: Herr im eigenen Haus
– Demokratie in einer Form, zuvor noch nie gesehen
von innen, unten:
konkrete Utopie...
Statt dessen sank eine schwere Wolke
auf uns nieder, bis zuweilen ein Schrecken überkam
mein Herz. Als sie sich hob, war alles verändert
stand ich inmitten einer Menge: Tirolerhütchen
hatte einer auf – die leichte Säbelung seiner Beine –
er schwenkte, Hohngelächter, den Ehrenbanner
unserer Arbeit vor dem Trabant-Kübelwagen
hin und her...

Eine zweite Gestalt in grünem Loden
trat hinzu, Musterkoffer in der Hand, eine dritte
mit Waldhorn, das blitzte
mit einem Zepter, die vierte

Nur die allerdümmsten Kälber
wählen ihren Metzger selber, dachte ich
und sah zu meiner Hand hinab, geballt zur Faust
Unser Eigentum im Rauchfang der Vergänglichkeit
(eine Treuhand wäscht die andere)
Wie schnell die alten Kader (die uns mit Zwang
erleuchten wollten), zu den neuen Dingen hüpften
ihre Symbole von den Schultern wischten
Sonne zur Freiheit aus den Köpfen löschten
sich Heime, Bäckerketten, Apotheken
untern Nagel rissen, Antreiber wurden
wie die von der anderen Seite – absurdes Spiel –
und die mich nun gemeinsam bekämpfen in der
neuen Blüte dieser Landschaft

(Nur wenige, die keine Schmarotzer
edler Ziele waren)

Arbeit immer drückender, überflüssiger
Auch ich, Aktivistennadeln
in der Sammlung, Urkunden
(als ich mich noch in der Brigade
der einheitlichen revolutionären Tat verstand)
zitterte ahnungsvoll und war bald
im Eimer der Geschichte

(Wir sind des Landes Grund, der Traum
vom besseren Leben. Wer kann
aus Volkes Schweigen wieder
seine Stimme reißen?)

Ummontiert als Baumarktsortierer
Schlagbohrmaschinenverkäufer, Handy
ans Ohr gewachsen, fand ich mich wieder
in einem Warmluftzelt: vier Stunden am Tag
Unterdessen alles verkauft, spürte ich abermals
den Abservierungskandidaten in mir
einen tiefen Krater im Gehirn, immer größer werdend
weil ich zum zweiten Mal verrechnet wurde
Die neuen Leute verstanden nicht
den grausigen Stoß gegen mich
wie ihn einst die Kalikumpel spürten: Bischofferode
dabei hatte ich mich, dehnbar wie ein Baum
für einen ganz und gar unentbehrlichen
unbehinderten Mann gehalten, tagaus, tagein
am Drücker
arbeitsmarktgängig
Fühle mich jetzt ausgezogen bis auf die Haut
stets vor Augen, daß sich vor mir
beim nächsten Schritt der Boden auftut
und mich verschlingen könnte

Allwissende Mutanten im Bundestag sagen
als Arbeitsloser geht es dir jetzt besser als in der
Monarchie der Werktätigen, kannst nun
als Armer wie die Reichen leben. Ich weiß nicht
was sie damit meinen, sie kennen nicht
die Gesichter an den Wartemarkenspendern
wissen nicht, wovon sie sprechen, die die
Ausgegrenzten noch mehr schwächen
ihnen alles Vertrauen zu sich selber rauben
Viele Abgeordnete – Fusionsberater für die
Freibeuter um den Erdkreis, reden Gedanken nach
wie sie von ihren Kontoauszügen
erzeugt werden

Ich kann nun überall liegen, wo ich will
in Prospektbetten von TUI, siebente Handtuchreihe
unter Palmen, in Ibizzas Wellen schaukeln
auf Kamelen reiten durch die Wüste, auf Madagaskar
tanzen, am Drachen hängen in den Schweizer Alpen
Doch dazu bin ich nicht in der Lage, Arme
Beine stillgelegt. Ich schäme mich, wenn ich
durch die Stadt spaziere, sehe mich wandern
im Schlaf durch Straßen mit verchromten Fassaden
wie Kristalle: Bankportale, Detektoren an der Decke
das stumpfe Zyklopenauge auf mich gerichtet
Türen, Treppen, automatisch, nicht für mich
bestimmt
die in die neue Hohlheit führen
Helle Lichter, die Außenfronten der Geschäfte
das geronnene Lächeln der Reklameschönen
Glücksindustrie-Komödie

Sie wollen meinen Verstand zerreißen; ich habe
noch nicht gefunden, was ich lieben könnte

Ich werde geimpft für eine Welt
an der ich keinen Teil habe, meine Zukunft
eine wundersame Krankheit: ein Knäuel aus Zorn
in meiner Brust
Ich schlucke schwer und oft
schmecke meine Spucke, sie schmeckt nicht gut
wenngleich ich eine prezzo fizzo
an einer Bude essen war

Ich weiß, das Vergangene ist das Besiegte
das Uralte wieder das Neue. Keiner traut mehr
dem anderen. Mann gegen Mann, Gruppe
gegen Gruppe, Betrieb gegen Betrieb, Standort
gegen Standort
in fröhlichen Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen

Manchmal gehe ich in mein stillgelegtes Kombinat
ein Stück Leben in mir. Offenes Tor:
Schweigen, kalte Entsetzen: fingergroße Stalaktiten
an der Decke, von denen
es tropft
Echotal
als ich durch die Hallen rief, darin Niethämmer
wie auseinanderreißende Bettücher knatterten
Lichtelektroden wie Gewitter flackerten ...
Zerschnittene Drähte, zerstörte Maschinen:
numeric-controll
so unwillig, angehalten:
die brüchigen Zahnräder, Zapfenlager
rostrote Schrauben, das gebrochene Getriebe
Gehäuse eines Motors...
Durch eingeschlagene Scheiben fliegen Schwalben
über Pressen
die ihre Zylinder wirbelten

Aber Fräsautomaten, Spitzendrehautomaten
über deren Stahl bernsteinfarbenes Öl lief
um erneut herangeschleust zu werden
stromschnellengleich zwischen
geschliffenen Flanken
rotierender Zahnräder, laufen munter weiter
in den Pfalzen

Ach könnt ich mir den Schweiß noch einmal
von der Stirn wegwischen, mich einmal richtig
zum Ausdruck bringen mit meiner Drehbank
für alle
den gleich Anteil
Ach könnt ich mich öffnen: Verbrüderung
nicht als Idee in Büchern – Revolution
in der Natürlichkeit meiner täglichen Arbeit
ohne Unterlaß – wie ich es will: Selbstverwaltung
Part
mit dem Ganzen...

Finis: herumliegenden Gußteile, ausgelaufenes Altöl
ertrunken zwischen zerbrochenen Bohlen
Unkraut, Steinplatten... Ich spür
wie mir mit wildem Schmerz das Herz
hinter den Rippen schlägt, fühl mich ausgezogen
bis auf die Haut, find mich nicht mehr wieder ...

Der abgesperrte Wasserhahn in der Kantine:
zerschlagene Stühle, die Suppenkelle
als ich sie mit dem Fuß am falschen Ende traf
sprang sie mir ins Gesicht

Regale umgestoßen in der Gewerkschaftsbibliothek
zusammengeballtes Papier, zersplitterten Vasen
die hochsteigende Herrschaft des Salpeters
an den Wänden –, Scholochow, Anna Seghers
zerfleddert
Nackt unter Wölfen
die Anthologien der Hoffnung, Rinnsale
der Lyrik, Poeme Majakowskis
ohne Rücksicht auf Regen, Sonne
Vandalen! Vandalen!

Ich weiß nicht, ob Gegenwart
zu viel ist für mich? Ohne Widerstand bin ich
das Schweigen und irgendwie nicht mehr derselbe

Einsamkeit scheint nieder zu brechen. Nichts mehr
was ich anfüllen kann mit meinem Leben
nach und nach
Im Gefühl
vor der Rente zu versiechen, blicke ich Tag um Tag
in meine Erinnerungen, die selbst
von der Welt vergessenen. Entsetzlich fremd
vegetiere ich am Tropf des neuen Systems
beim Frühstück bis nach Mitternacht, festgekittet
an der Fernsehwunschmaschine: Männer als Frauen
verkleidet
Vor und Zus auf Pferderücken
Bomberstarts von Flugzeugträgern, potemkinsche
Dörfer-Serien:
Kampfstem Galactica...

Laß mir langsam das Gehirn ausblasen
die Pupillen zerquetschen, taub, blind
eingeschlafene Glieder, das trägt geistig dazu bei
meine Lebenslage zu ertragen

   

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