XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

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Kurt May: Menschwerdung

         
 
 

Menschwerdung

Am Tage nach der dreihundertsten Hungersnot
Versammelten sich im Tal des Ginkgo,
Südlich der La-Ning-Berge,
Alle Affenhorden der um liegenden Höhlen.
Unfassbares Geschwätz hatten ihnen
Wandernde Viertelaffen zugetragen.
Riesenaffe Gigantopithecus
Hatte endgültig beschlossen,
Mensch zu werden.
War je im Tal des Ginkgos
Ein größerer Wahnsinn vernommen worden?

Der Sippenredner der anderen Affenartigen
Hatten sich viele gemeldet zur Diskussion.
Die Geschosse der unwiderlegbaren Argumente
Brachten Gigantopithecus arg ins Fortschrittslallen.
Welch tertiärer Urwahn,
So donnerte ein befugter Kolonnenführer.
Nieder den Abtrünnigen.
Hört, meine Feuergenossen.
Er will das bequeme tierische Leb en aufgeben.
Wie ein Ochse will er auf der erde kriechen
Und Gras und Würmer fressen.
Seine Hände will er sich nicht mehr beschmutzen
Und von vorn will er den Nachwuchs zeugen.
Das Gesäß will er sich mit Papier abwischen,
Sich in albernen Autos umbringen
Und verlogene Höflichkeiten will er stottern.
Und denken will er, denken will er, der Ultranarr.
Höchste unaffige Politik will er einst betreiben
Und dumme Bücher verfassen.
Ha, ha, ha! Da kichern doch meine Läuse.
Das Ururblöde will er tun
Und diesem Darwin zu Ruhm und Ehre verhelfen.
Er nennt es Mensch werden
Ich aber sage, das ist verrat an uns Sonnengeschöpfen.
Die moralische Glatze sei sein ewiges Schicksal.

Und johlend vernahm es die hörige Sippe.
Sie ahmte nach die Gebärden des Menschen,
Verspotteten den Riesenbruder,
Nannte ihn Trottel vom Ginkgotal.
Jedoch, man muss ihn loben,
Den sturen Gigantopithecus.
Er war ein Spross eines heiteren Aktes von hinten.
Er blieb seinem Vorsatz treu.
Und selbst als die Führer der Majorität
Die Horden animierten zum Sprechchor-
Fraktionszwang, Fraktionszwang-

Verbohrte sich das Riesenwesen in seine Idee.
Seine Antwort war ein langes Buuuh,
Sein Abgang ein lächerlicher Gehversuch.
Er reckte die Zungen zur Opposition,
Streckte den rechten Mittelfinger
Hin zu den Gaffenden und Staunenden.
Und er verkroch sich in einer entfernten Höhle
Und wurde Mensch.
Und noch heute glotzt sein Publikum.


Der erste Mord

Heiß brannte die Sonne bei Saccopastore.
Ein homo neanderthalnensis
Träumte den Traum aller Affen.
Er sah sich futtern durch Berge von Früchten
Und saftigem Auerochsenfleisch.
Laszive Jungweiber,
Wenig behaart, schauten ihm zu.
Mutig schmetterte er Witze über Jungfrauen
Den Gaffenden an den Schädel.
Alle bewunderten seinen gepflegten Fressstil.

Da knufft ihn plötzlich ein Schlag aus dem Dösen
Ein Stein fiel donnernd auf sein Haupt.
Der Wind hatte ihn gelöst von den spröden Hängen:
Er homo neanderthalnensis
Erstarrte und sah alle bekannten Sternbilder blinken.
Im Spiegel eines nahen Weihers
Beglotze er sein blutiges Antlitz.
Und ganz neue Gedanken
Peitschten ihn näher zur Eiszeit.

Wenn ich, so dachte er grimmig,
Ähnliches einmal beim Häuptling versuche,
Muss seine Rübe ebenso reagieren
Und bluten und dröhnen.
Er ist alt und führt nicht mehr sicher die Horde.
Wenn er blutet, kann er das Wild nicht mehr sehen.
Er ist blamiert und mich wählt der Haufen zum, Führer.

Auch Affen tun wie wir Menschen.
Der homo neanderthalnensis, zog los,
Bewaffnet mit einem eckigen Felsen.
Ihn führten Erfahrung und Machtgier.
Er trat ans Feuer, schlich sich in die Nähe des Führers
Und trümmerte grinsend den Stein
Auf des Nebenbuhlers Schopf.
Und die Wirkung war wunderlich genug.
Es floss kein Blut, aber der Beneidete lag tot.
Der Mörder wurde zum Leithammel ernannt.
Und wenn dem neuen Chef
Ein andere Biped nicht passte
Oder er war anderer Ansicht als er selbst,
Schlug er ihn einfach aus dem Leben.
Wir sehen, er war fast schon ein Neumensch.

So hatte bei Saccopastore,
Dreihundertsiebzigtausendsechshundertachtundvierzig vor Nero,
Ein homo neanderthalnensis
Der politischen Mord sauer genug erfunden
Und als Mode und Methode in die Gesellschaft eingeführt.


Geburt der Götzen

Dryopithecus,
Der unübertreffliche Weltaffe,
Er war verbreitet über drei Kontinente,
Hatte eines Montags am linken Ufer des Ganges
Ein folgenschweres Erlebnis.

Aus seinem Körper kroch unverhofft
Ein langatmiger Darmwind,
Bei uns in Deutschland Furz genannt.
Das verwunderte sehr den Weltaffen.
Er hatte dergleichen nie wissend erlebt.
Und es ergriff ihn unsagbares Staunen
Vor dem Wunderbaren,
Vor dem noch Unerforschten.
Er ahnte plötzlich über sich mächtige Kräfte,
Bewunderte die Vielfalt des natürlichen Ausdruckes,
Fühlte sich berufen,
Diesen metaphysischen Gewalten zu dienen.
Der erste Götze war wundersam geboren.

Wir Heutigen und Allwissenden
Ersetzen Darmwinde
Der unterschiedlichsten Lautstärke und Düfte
Durch Fahnen und Trommeln,
Nicht zu tötendem Aberglauben
Und Bilder, Bilder, Bilder.
So vereinfachte und belebte Dryoptihecus, der Weltaffe,
Unser Leben und bewahrte uns
Vor schmerzlicher Wahrheit,
Anstrengendem Denken und Grübeln
Und einer und langweiligen Moral und Politik.


Affige Neurose

Proconsul, adliger Affe aus Afrika,
Saß eines Mittags während der Siesta
Im wilden Walde in Tanjganika
Und dachte angestrengt nach über sein Vermächtnis.
Denn er war der letzte seiner Gattung
Und hatte die dumpfe Ahnung,
Er müsse vor dem Aussterben
Ein bleibendes Erbe hinterlassen.

Und die Sonne schien heiß.
Und Durst dörrte sein Hirn
Zügig zu zehn Falten mehr.
Und er gebar seinen letzten Gedanken.
Halb im Todeswahn beschloss er,
Eine einmalige Tat zu begehen.
Doch der Tod war sehr nah.
Die Erfindung eines Weltgedankens
Dauert lange und gelingt nur seltenen Köpfen.
Darum musste ein Zufall rasch helfen.

Verzweifelt riss der aussterbende geschwächte Affe
Blätter und Äste von den Bäumen
Und warf sie in den unter ihm strömenden Fluss,
Nahm Steine und Kot
Und Knochen und ausgerupfte Haare
Und tat ein gleiches mit diesen Dingen.
Und stereotyp fraß sich diese Tat
In sein nach Ruhm schreiendes Hirn,
Bohrte sich tief und krebsartig in seine Psyche.
Und als der Todgeweihte
Mit letzter Lendenkraft
Seinen Erben, den Limnopithecus zeugte,
Vererbte er ihm den Hang zum Beschmutzen.
Herr Proconsul starb aus,
Doch diese affige Neurose
Pflanzte sich fort bis auf uns,
Den herrlichen Übermenschen.


Großgedanke

Eisig wehte der Wind aus der Tundra:
Ein Kostionkiaffe hockte zitternd hinter einem wolfshohen Stein.
Er fror und ihm knurrte das nimmersatte Gedärm.
Doch war an Beute wohl kaum zu denken.
Ausgestoßen hatte ihn das egoistische Rudel,
Weil er einer Kiikkobaäffin beigeschlafen,
Einem Wesen, das lang schon ausgestorben sein musste.
Denn die Halbrassen unterschieden sich
Wie heute ein Rivieradeutscher von einem Neuguineaeingeborenen.
Der Ausgestoßene besaß keine Waffe und weinig Kleidung.
Unweit aber saß hinter Schneewehen auf Bärenfellen
Sein Clan um ein schützendes Feuer,
Sprach saftigem Mammutfleisch zu,
Vergnügte sich mit wechselnden Weibern
Und höhnte wohl gar den vertrieben Bruder.
Eine Bitte um Nachsicht war für den Kostionkiaffen lebensbedrohend.
Doch ohne Speise und Trank und Wärme
Verreckt einmal jedes Wesen.
Was also tun und was nicht?
Der Kostionkimensch war sprachlos vor Einsamkeit.
Er erkannte erschauernd die harten Gesetze des Lebens.
Und der Suizid war noch nicht erfunden.

Doch was war dieses und jenes?
Ein nie gedachter Gedanke
Erleuchtet blitzschnell sein Hirn.
Stehle das Feuer, raube das Essen.
Das sei nun dein Gesetz als die natürliche Antwort
Auf das brutale Leben und die unmenschliche Moral
Der Brüder, Freunde und Verwandten.
Nie war ein Affenmensch oder Menschenaffe
In einer ähnlich mutanten Lage.
Ein Großgedanke war ihm geglückt und geschenkt.

Drei Tage und fünf Minuten
Kämpfte der homo kostionkinensis
Zwischen Tradition und dem Neuen.
Dann hatte der Fortschritt gewonnen.
Der Affe ging und stahl Feuer und Speisen und Weiber.
Und er tat hinfort nur auf diese Weise.
Und besser als seine sich mühenden Gespielen
Führte er nun ein sorgloses und angesehenes Dasein.
Ein pfiffiges Kerlchen und sehr zeugungsfähig,
Denn seine Nachkommen sind heute Million.

   

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