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"Twas young Brennan on the
tear, Brennan on the tear, both wild and undaunting was young Brennan
on the tear." - nach einer irischen Ballade
"Der Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man
hinabsieht." - Büchner, "Woyzeck"
"Vielleicht ließ einen diese Art zu leben die eigenen
Grenzen erfahren. Fest steht, daß man dieses Leben nicht überleben,
sondern nur verlassen kann." - Nuala O'Faolain.
Ich kenn sie, die Trinker, Denker und Dichter, o ja,
und wie. "In der Liebe bin ich Wiederholungstäter, weißt
du, so ist das nämlich", sagte ich zu Kurt abends am 23.
November, als Kurt sich wegen Grippe schon früh von unserer
fröhlichen Saufrunde verabschiedet hatte und nun in seiner
Kolchose hockte und Tee trank und Kamillendampf einatmete. Georg
war auch schon gegangen, weil er grundsätzlich nichts trinkt;
und ich und Franz waren aus "An einem Sonntag im August",
so hieß die Pinte, wo wir mindestens jeder drei Guinness runtergeschüttet
hatten, umgezogen ins Café Schliemann. Da gabs nun Absinth.
Doppelten. Ich war schon ziemlich betrunken, als ich Franz kurz
verließ, um meine Taschen, die ich den ganzen Tag mit mir
rumgeschleppt hatte, bei Kurt abzuladen, wo wir beide, Franz und
ich, im Moment logierten. Kurts Kolchose lag um die Ecke vom Schliemann,
also torkelte ich rüber, durchquerte den Durchgang vom Vorderhaus,
stapfte die maroden Treppen vom Seitenflügelgebäude hoch
und ließ mich, mit Mantel und Schal und allem, weil Kurt keinerlei
Heizung besaß, drinnen in Kurts Katzensessel fallen. Da sprachen
wir dann über mich, über Franz, über den Fusel und
die unglückliche Liebe, die uns drei zusammenkettete. Und ich
fing an zu heulen.
"Schäfjen", sagte Kurt und kam rüber und streichelte
mich, "wat haste denn? Nu wein doch nicht, meine Süße.
Wir sind doch alle Wiederholungstäter in der Liebe!"
Ich schluchzte. "Wir machen immer denselben Scheiß in
der Liebe. Wir fallen immer wieder auf dieselben Löcher rein!
Und dann hangeln wir uns da mühsam wieder raus, und kaum stehn
wir aufrecht - klatsch! das nächste Loch! Mit Popov vor fünf
Jahren wars schon so, und jetzt ist es mit Franz genau dasselbe!"
"Wo steckt er eigentlich? Franz?" fragte Kurt und streichelte
mich weiter.
"Im Schliemann. Ich geh gleich wieder rüber. Ich bin nur
kurz her, weil - ich hab ihm kurz meine Geldbörse dagelassen,
um -"
"Ach du lieber Gott", sagte Kurt. "Wieviel war da
drin?"
Später zählte ich nach, daß ich und Franz an jenem
Abend fünfzig Euro versoffen und verraucht hatten, inklusive
der Bierchen, die wir Huckebein und Sperling und Mischa spendiert
hatten. Was heißt 'wir' - spendiert hatte Franz, solange er
meine Geldbörse hatte. Aber wennste diese spendierten Bierchen
abziehst, kommste immer noch auf fast vierzig Euro. Und das ging
für mich und Franz, für Guinness und Absinth und Reval
und Cabinet drauf. Man durfte Franz eigentlich nie mit Geld alleinlassen,
und wenns nur wenig und für ganz kurze Zeit war - er versoff
alles. Das wußte ich, und ich tat es auch nicht. Das hier
heute war die absolute Ausnahme: das war die große Willkommenssauferei.
Damals trank ich nicht viel weniger als Franz und lebte gern nach
der irischen Maxime "If a man cannot drink while he's living
/ how the hell should he drink when he's dead?!" Ich hatte
Franz und Berlin und Kurt und den Schliemann lange nicht gesehen,
da mußte nun ne Willkommenssauferei her! Und erstens liebte
ich Absinth, und den gabs zu dieser Zeit in Konstanz nicht. Nur
in Berlin. Im Schliemann kostete ein Doppelter drei Euro - in Freiburg,
zum Vergleich, kostet ein Einfacher sechs sechzig. Und im Schliemann
war ich, wenn ich vor Ort war, Stammgast. Und zweitens, fuckinell,
liebte ich Franz! Und Berlin. Ich hatte die Tage gezählt, bis
ich wieder nach Berlin fahren konnte. Krefeld kotzte mich an. Ich
betrank mich dort mit Billigweißwein ausm Minimal-Markt, Bon
Soir Blanc, ein Liter à eins neunundvierzig, ein Liter pro
Tag. Montags wanderte ich zum Altglascontainer und entsorgte sieben
grüne Flaschen; manchmal legte ich auch einen fuselfreien Tag
ein und pflegte meinen Kater, aber wenn der weg war, zückte
ich schon wieder den Korkenzieher, schüttete den Wein in Mineralwassergläser
und kippte ihn runter. Dachte an Franz, mit dem ich im September
in Pankow getrunken und gevögelt hatte, bis ich die Englein
singen hörte. Und als Kurt mir schrieb, am 22. 11. lese Georg
in der Versuchsstation und lüde uns alle anschließend
ein zum Spätstück im Sonntag im August, und Georg wolle
mich sowieso mal endlich kennenlernen, und wat hältsse davon,
komm her! Da kam ich.
Ich war fickrig, als ich kam, und vergleichsweise relativ nüchtern.
Ich hatte einen tierischen Jieper auf Absinth, ja, und auch einen
tierischen Jieper auf Franz. Diesbezüglich war ich allerdings
auch verunsichert: denn Franz hatte mir in den zwei Monaten seit
Ende September nie geschrieben, nie auf meine Kärtchen oder
Briefe geantwortet. Wir hatten uns zwar im September im gegenseitigen
Einvernehmen darauf verständigt, daß wir "Freunde"
bleiben wollten, weil die Liebe zwischen uns zwar feurige Leidenschaft
war (wir hatten uns im Bett gegenseitig fast aufgefressen, waren
sexuell ausgehungert übereinander hergefallen), aber für
eine Beziehung war sie nicht die richtige Art von Liebe. Aber trotzdem
schrieb ich ihm Briefe, und er hätte mir auch mal zurückschreiben
können. Gut, er ging zu der Zeit quasi auf der Gingiva, hatte
in Pankow kein Geld und kein nichts, kein Kuvert und keine Briefmarken,
Telefon gabs da nicht, und Franz mußte sich täglich mit
Klein-Hitler, dem Vermieter, zoffen, weil er halt wie üblich
pleite war. Klein-Hitler war Mitte Dreißig, Student und Ausbeuter,
und er hatte auch mir Streß bereitet, als ich einen Monat
lang bei Franz auf dessen Matratz gepennt hatte und mir Klein-Hitler
dafür dann fünfzig Euro Mietbeteiligung abknapsen wollte.
Wofür?, fragte ich. Fürs Wohnen!, blaffte er. Was glaubst
du, wie teuer mir Heizungs- und Stromrechnung zu stehen kommen!
Ich hab weder Heizung noch Strom benutzt, sagte ich, es ist Sommer,
Licht haben wir keins gebraucht, tagsüber wars hell, und nachts
waren wir entweder nicht da oder besoffen, also zündeten wir
Kerzen an; und gebadet hab ich zweimal in vier Wochen. Trotzdem!,
kläffte er, was glaubst du, wieviels in Jugendherbergen kostet!
Da zahlst du fünfzehn Euro für eine Nacht! Das ist hier
aber keine Jugendherberge, sagte ich, und du hast mir gar nichts
zu befehlen. Klein-Hitler brüllte und schickte sich an, meinen
Koffer vom Balkon runterzuwerfen, wenn ich nicht sofort vor ihm
katzbuckelte. Die fünfzig Euro gab ich dann später Franz
mit der Begründung: ich war ja nicht Klein-Hitlers Untermieter,
sondern Franzens Gast, also trag ich bei zu Franzens Miete und nicht
zu Klein-Hitlers Ausbeutungsmanövern. Was klappte. Franz gab
Klein-Hitler zehn Euro, log ihm den Putz von der Decke runter und
versoff dann vergnügt die restlichen vierzig. Was ich ihm ja
auch eingeschärft hatte. Bevor Klein-Hitler mich wieder zu
Gesicht bekommen und zur Rede gestellt hätte, war ich mit meinem
Trolley schon über alle Berge. Im Regionalexpress in Richtung
Krefeld feixte ich mir eins und knackte die Dose Bier, die ich noch
von Klein-Hitler aus seinem Kühlschrankfach in Pankow geklaut
hatte.
Aber so sozial, wie der Name suggeriert, ist das Sozialamt nicht,
und Franz hatte, als er den Erlös von den Büchern, die
er kurz davor an einen Antiquar verkauft hatte, und die vierzig
Euro Mietbeteiligung versoffen hatte, wieder nichts. Also flog er
aus dem Bau in Pankow raus. Und kam mit Sack und Pack und Katz zu
Kurt. Kurt räumte die Küche frei, und Franz wohnte nun
in der Küche auf dem Sofa, eingeklemmt zwischen Kühlschrank,
Spüle und Katzenklo. Zwei- bis dreimal die Woche stürzte
er im Schliemann oder im Torpedokäfer ab, dann kam er irgendwann
gegen vier oder fünf Uhr morgens angewankt, so sturzvoll, daß
er fast eine halbe Stunde an der Tür rumstand und mit dem Schlüssel
in der Nähe des Schlüssellochs rumkratzte und die Tür
nicht aufkriegte. Und Kurt, der war ja ohnehin ne Nachteule, saß
um diese Zeit meist noch dichtend oder lesend im Katzensessel, hörte
das Kratzen und öffnete die Tür von innen. Und Franz stolperte
in den Flur und schlug sich den Schädel an seinem Altwiener
Gänsebräter an. Dann bog er nach rechts ab, da war die
Küche, und fiel längelang auf sein Sofabett drauf. Und
Scully, die Katz, mauzte ihn vorwurfsvoll an.
Und da saß er auch jetzt, auf dem Küchensofa zwischen
überquellender Spüle, schmutzigem Fenster, noch schmutzigerem
Boden, Katzenklo und Kühlschrank, als ich kam. Kurt hatte mir
das nicht mitgeteilt, er wollte mir dadurch eine freudige Überraschung
bereiten, weil er wußte, daß es zwischen mir und Franz
im September hoch hergegangen war. Ich hatte in Krefeld durch Kurts
vage Andeutungen zwar mitbekommen, daß es mit der Kolchose
in Pankow nun wirklich endgültig finito war, aber daß
Franz nun bei Kurt wohnte, das wußte ich nicht. Und kam nun
an und war von den Socken! Viereinhalb Mann hoch - Franz, Kurt,
ich, die Katz, das ist die halbe Portion, und Alexegorow, das war
zu der Zeit Kurts Untermieter, Spitzname "der Hausaffe",
ein verrückter Russe, der sich sein Geld durch Fiedeln verdiente
und es anschließend verkiffte - wohnten wir dann in der Subkolchose
ohne Badezimmer und ohne Heizung, und das im Dezember.
Mir ging es keineswegs um "Subkultur-Bohème-Romantik",
das warf mir Xanthippe, Kurts Möchtegern-Frau, später
vor, als sie am 7. 12. ihren Chéri besuchte, in unseren chaotischen
Bau hereingerauscht kam und ihr Pelzhütchen auf dem Gänsebräter
ablegen mußte, da alle Garderobenhaken schon restlos überbevölkert
waren. Mit ihrem vorstehenden Bauch, unter dem die schwarze Levi's
grade noch zuging, kam sie kaum durch die Küche, und wenn sie
die Ellbogen bewegte, hätte sie fast die Töpfe und Teller
vom Bord gefegt. Die Küche war halt nach Franzens Maßen
eingerichtet, einer Einsachtzig-Bohnenstange, die vom vielen Suff
und von zuwenig Essen noch hagerer und knochiger geworden war, als
ich sie aus Pankow kannte. Franz konnte ohne Probleme am Herd hantieren,
neben sich das lebensgefährliche Küchenregal, das ununterbrochen
leise schwankte, und hinter sich den Tisch voller Zutaten - wenn
man Xanthippe nun dort stehen sah, sah das aus, als wäre sie
in einer Bauschuttritze steckengeblieben. Ich mußte grinsen.
Sie fixierte mich bitterböse. Manövrierte sich dann vorsichtig
zum Sofa durch, das Franz sogar aufgeräumt hatte, ließ
sich dort nieder, putzte sich die Brille und fing an, uns Kolchosianern
Vorträge übers Zusammenleben zu halten. Sie war gerade
zur Tür reingekommen, wir kredenzten ihr Kaffee, Franz trank
natürlich seinen Zweigelt aus der Flasche, sie fraß ganz
selbstverständlich mein Gebäck und die Zopfbrotnikoläuse,
die ich bekommen hatte, fraß meine Schokolade und meine Schnapspralinen
und schiß mich dann von ihrer Sofaecke aus zusammen: daß
ich eine Zecke sei, daß ich hier allen das Leben schwermachen
würde, daß ich allen Streß bereiten würde
und daß es unmöglich sei, daß sich jemand wie ich,
der keine Ahnung von nichts hätte (?) und nur ein bißchen
auf Bohème-Romantik machen wollte (??) , dermaßen raumfüllend
(??!) in einer Wohnung niederlasse, die sowieso schon zu eng sei,
und dann dort allen Bewohnern, die ja im Gegensatz zu mir echte
Probleme hätten, das Blut aussaugen würde (???). Wir waren
sprachlos. Franz kriegte kaum was mit, er war schon zu besoffen;
aber Kurt saß da, hatte die Brauen zusammengezogen und starrte
stumm auf Xanthippe. Ich konnte es nicht fassen. Wovon sprach diese
Frau? "Sie hat eine fixe Idee, die Frau", sagte Franz
später, "nimms net schwer, die tickt net richtig."
Aber ich nahm es schwer. Xanthippe hatte mich dermaßen ins
Herz getreten, daß ich mich ein halbes Jahr nicht davon erholen
konnte. Xanthippe saß in ihrer Sofaecke und starrte mich haßerfüllt
an, sie sah aus wie ein Rollmops in Levi's, Franz gurgelte, Kurt
war wie gelähmt, und ich natürlich auch, und ich stand
auf, zeigte ihr den Finger, verzog mich in meinen Schlafsack und
heulte.
"Romantik" heißt "wie im Roman". Ein Romantiker
will ein literarisches Leben nachleben. Nun, hier gings auch teilweise
zu wie im Roman, nämlich wie in McCourts "Angela's Ashes",
aber das zum Nachahmen lädt das nicht ein. Ich war nicht wegen
der Romantik in die Kolchose gekommen, sondern weil ich meine Freunde
dort, allen voran natürlich Kurt, besuchen wollte. Ich hatte
im Sommer mein Studium abgeschlossen und befand mich nun in zweierlei
Hinsicht vor einer Tabula Rasa: ein Lebensabschnitt war beendet,
ich hatte den M.A. in der Tasche – aber vor mir gähnte
die Zukunft wie ein Abgrund. Orientierungslosigkeit, Burnout, schwarzes
Loch. Ich war über ein Jahr lang permanent unter Streß
gestanden und war nun fix und fertig, wußte nicht, was ich
tun und wo ich hingehen sollte oder ob vielleicht alles, mein ganzes
Studium, für die Katz waren. Kurt war mir, seit ich ihn kannte,
in Krisenzeiten immer ein treuer Freund gewesen, wir munterten uns
gegenseitig auf die Distanz brieflich und telefonisch und mit Büchersendungen
auf, und so hoffte ich, nun von ihm in Berlin wieder eine kleine
Antriebshilfe zu erfahren, genauso wie ich auch ihm die Kohlen unterm
Arsch wieder anzündete, wenn sie ausgegangen waren und er desillusioniert
war. Und das hielt Xanthippe für Romantik!
Am Abend gingen sie essen, Xanthippe an Kurts Arm, Franz vorneweg.
Ich blieb zuhause. Gegen Mitternacht kamen sie zurück. Franz
torkelte an, er war wohl von Xanthippe mit reichlich Bierchen versorgt
worden. Er kam rein, starrte mich mit glasigen Augen an, fiel auf
sein Sofabett und schnarchte. Eine halbe Stunde später erschienen
auch Kurt und Xanthippe, klirrend vor Kälte. Franz wachte auf
und kriegte den Heuler. Ich kannte das schon. War auch in Pankow
so gewesen. Da war er mal sternhagelvoll auf dem Klo eingeschlafen,
und ich hatte ihn dann vom Klo runter in die Küche gezerrt,
und da war er am Küchentisch zusammengeklappt und hatte geheult,
und das Hühnchen, das er vom Türken nebenan gekauft hatte,
ertrank in Rotz und Wasser, und Klein-Hitler machte die Tür
von seinem Zimmer auf und schnauzte raus, wir sollten verdammt noch
mal endlich ruhig sein. Jetzt rotzte er also auf dem Sofabett in
seinen verdreckten Mantel hinein. Xanthippe stand wie vom Donner
gerührt und starrte mitleidig zu ihm hin. Ich beobachtete sie.
Franz war zu der Zeit Xanthippes Liebling. Sie hielt ihn für
einen gefallenen Engel, für einen armen Alkoholiker, der nur
Liebe brauchte, um sein umwerfendes Genie wieder erstrahlen lassen
zu können, der in der Vergangenheit so viel Ärger gehabt
hatte, soviel Frust, erst hatte ihn Sally, seine Ex, aus der gemeinsam
betriebenen Kleinkunstbühne rausgeschmissen, dann war die Sache
mit Klein-Hitler gewesen, und jetzt machte angeblich ich ihm das
Leben zur Hölle, und der aaarme Mann! Sie umgurrte und umschnurrte
ihn, sooft sie ihn traf, steckte ihm Geld zu, spendierte ihm ein
Bierchen nach dem anderen und lauschte verzückt seinen Karl-Kraus-
und Thomas-Bernhard-Imitationen und -Rezitationen. Franz ließ
sich das alles natürlich gefallen, solange es dauerte - keine
drei Wochen später hatte sich das Blatt um hundertachtzig Grad
gewendet, und plötzlich sah Xanthippe in Franz den Teufel,
den Parasiten, den Sozialschmarotzer, den Halunken, der ihr das
Geld aus der Tasche geöst hatte und es versoff und nie zurückzahlen
würde. Franz verstand sie nicht, aber zuckte dann, zwar verletzt,
aber gefaßt, mit den Schultern. "Soll sie bleiben, wo
der Pfeffer wächst. Ich habs ja immer schon gesagt, daß
sie net richtig tickt!"
"Siehst du nicht, daß es Franz schlechtgeht?" blaffte
sie mich an. "Wieso gehst du da nicht rüber und tröstest
ihn? Wo fehlts dir denn eigentlich?" Ihre Stimme klang schlurig
und unartikuliert.
Wo fehlts denn dir eigentlich, dachte ich. "Dem gehts nicht
schlechter als sonst. Das ist ein alkoholinduzierter Melancholieanfall,
das geht vorbei."
Xanthippe glotzte mich an. Mein Gott, dachte ich, diese Frau ist
sechzig Jahre alt und sieht zum ersten Mal im Leben einen betrunkenen
Trinker. Und fällt natürlich prompt auf ihn rein, denn
Franz war ja nicht nur Trinker, sondern Wiener und Schauspieler
dazu.
Franz blubberte was von "alles so deprimierend, nichts ändert
sich, alles geht weiter wie immer, keiner liebt mich".
"Jaja, Süßer, das ist nichts neues", höhnte
ich. Wenn er seine besoffenen Heuler hatte, kam man ihm immer am
besten mit Sarkasmus. Das hatte ich von Kurt und auch von Dieter
gelernt, einem von Franzens alten Sauf- und Drogenkumpels.
Kurt kam vom Hinterzimmer zurück. Er hatte Xanthippe ein Lager
bereitet. Sie würde heute hier übernachten, weil ihr Zug
schon weg war und sie sich für ein Hotel zu geizig war. "Was
ist hier los? Na, Franzeken, wieder großer Weltschmerz, wie?"
Kurt grinste und sah dann zu mir hin. "Schäfjen, kommst
du mal, du mußt mir was helfen."
Ich folgte ihm, froh, nicht mehr neben Xanthippe stehen zu müssen.
"Ihr wart wohl noch im Schliemann", flüsterte ich
hinten zu Kurt. "So, wie Franz abgefüllt ist. Und Xanthippe
klingt auch nicht mehr ganz nüchtern."
"Xanthippe hat zwei Glas Wein und einen Absinth intus, Franz
mindestens das Fünffache. Aber gib ihr nicht zu erkennen, daß
du merkst, daß sie betrunken ist. Sie glaubt nämlich,
man sehe es ihr nicht an." Kurt grinste. Ich grinste zurück.
Xanthippe saß inzwischen auf dem Sofa und hätschelte
Franz. Mir warf sie gallige Blicke zu. Ich kümmerte mich nicht
darum. "Xan... äh, Wanda, dein Lager ist bereitet."
Ich zog mir meinen Mantel an und suchte in Franzens Mantel nach
den Türschlüsseln, fand sie aber nicht. Kurt kam in die
Küche, gab mir die Schlüssel und einen Kuß. Ich
verpfiff mich ins Irish Pub. Als ich gegen eins zurückkam,
hörte ich, wie sich Xanthippe auf ihrer Isomatte wälzte
und auf Kurt einredete. Es ging um mich. Es war wieder dieselbe
Leier wie am Nachmittag. Ich lauschte, dann sagte ich laut: "Na,
ihr Täubchen, schlaft gut!" Dann hielt sie die Schnauze.
Ich verkroch mich in meinen Schlafsack hinten in Alexegorows Zimmer.
Ich war verletzt. Am nächsten Tag rauschte Xanthippe wieder
ab. Alle waren erleichtert. Franz hatte einen Kater so groß
wie der Stefansdom. Er ächzte und wankte davon, um erstmal
ein Bierchen zu trinken.
Ich war mit Kurt und der Katz allein. "Verdammt nochmal",
sagte ich zu Kurt, "weißt du eigentlich, daß Xanthippe
mich getötet hat?"
Kurt seufzte. Er war seit dreizehn Jahren mit dieser Frau zusammen,
erst enger, jetzt nicht mehr so eng, weil er ihre ständige
Anwesenheit nicht mehr ertragen konnte. Sie hatte sich in Berlin
nur Feinde gemacht (was mich, nach ihrem Auftritt, nicht mehr wunderte)
und war zurück nach Bremerhaven gezogen. Kurt blieb in Berlin;
es ging ihm dreckig, und bald würde die Kolchose zwangssaniert
werden, dann mußte er raus und wußte nicht wohin - "aber",
sagte er zu mir, "glaub mir, ich nehm alles, was ich kriegen
kann, mein' Schwester hat n Dachboden, bei Pinsel in Stuttgart könnte
ich wohnen oder bei dir in Krefeld - aber keine zehn Pferde kriegen
mich nach Bremerhaven zu ihr, nee, wirklich!" Er telefonierte
täglich mit ihr, er hörte sich ihre Monologe an und versuchte
sie von ihren fixen Ideen abzubringen, was nicht gelang, und dann,
wenn er nach diesen Telefonaten wieder in die Küche kam, wo
ich saß (Franz war nicht da, entweder saß er vor einem
Sozialamtsfuzzi oder vor einem Bier), dann sah Kurt ganz weiß
aus, aschfahl, ich streichelte ihn und kochte ihm Kaffee.
"Die macht mich fertig", stöhnte er, "die kann
einfach nicht verstehen, daß sie Unrecht hat!"
"Wer macht hier nun Streß, sie oder ich?", fragte
ich.
"Du hast mir noch nie Streß gemacht, Schäfjen, das
ist alles nur ne Spinnerei von Xanthippe! Die erzählt mir jetzt
ständig am Telefon, sie wolle nur das Beste für mich,
und Alexegorow muß raus, und du mußt raus, ansonsten
würd ich durchdrehen - aber daß ich eher bei ihr und
diesem blöden Geschwätz durchdrehe, das merkt sie gar
nicht. Wer mich fertigmacht, das merk ich ja wohl selbst, oder?
Die war hier zehn Minuten, und dann glaubte sie zu wissen, wer mir
Streß bereitet. Lachhaft ist das! Das ist, als wenn ein Sehender
kurz die Augen zukneift und dann zum Blinden sagt: ich versteh vollkommen,
wie du dich fühlst, du mußt das alles so und so machen!"
"Du bist nicht blind", sagte ich.
"Nein, aber sie tut so, als wär ichs! Sie sieht sich als
die einzige Sehende! Sie glaubt mich ständig an der Hand führen
zu müssen! Sie ist keine Kolchosenfrau, war sie noch nie, aber
glaubt, daß sie als einzige weiß, was gut ist für
uns. Verdammt nochmal! Ich ticke nun mal anders wie sie, und das
will sie partout nicht kapieren!" Er war blaß, sah vor
sich hin. Ich schenkte ihm Kaffee ein. Langsam kam die Farbe wieder
in sein Gesicht zurück. Ich beschmierte ihm eine Schnitte von
dem steinharten Brot mit Marmelade.
"Was hab ich ihr eigentlich getan?" fragte ich. "Ich
hab ihr Gebäck und Schnapspralinen angeboten, und zum Dank
dafür kotzt sie mich so voll?"
"Nichts hast du getan, überhaupt nichts", seufzte
Kurt. "Du hast nur einen Fehler: du bist eine Frau. Und ich
bin ein Mann. Und du hast zwei Sachen falsch gemacht: du bist hier,
und du bist mit mir befreundet. Das ist schon zuviel für Xanthippe.
Das geht schon über ihren Horizont drüber."
"Was?" sagte ich. "Soll das heißen, sie ist
eifersüchtig?"
"Genau das", sagte Kurt.
"Aber ich bin mit dir befreundet, nicht mehr!"
"Aber auch nicht weniger", grinste Kurt. "Und außerdem
ist bekannt, daß Frauen und Männer nicht befreundet sein
können. Das ist ihr Credo."
"Mein Gott, ist die ausm Mittelalter? Das ist doch allerspießigster
Frauenzeitschriftenscheiß, dieser Spruch! Das kann die doch
nicht ernst nehmen!"
"Tut sie aber", seufzte er. "Sie ist intelligent,
klug, weltgewandt, erfahren - aber in dieser Beziehung ist sie einfach
irgendwo in ihren Teenagerjahren steckengeblieben. Der Spruch ist
Mist, das wissen wir alle, aber ihr kannste bei dem Thema nicht
mit Vernunft kommen. Da is sie taub."
"Hast du es schon versucht? Ich mein, hast du ihr erzählt,
was zwischen uns ist?"
"Klar", sagte Kurt, "zigmal. Aber sie hört das
gar nicht. Alles, was in ihren Schädel reinpaßt diesbezüglich,
ist: 'da ist Kurt, und bei Kurt ist ne Frau. Und ich bin nicht bei
Kurt. Ich kann ihm zwar anrufen, aber die Frau muß nur ihre
Hand kurz aus der Matratz rausstrecken. Die is viel näher dran
an Kurt als ich.' So."
Wir tranken unseren Kaffee.
"Und jetzt?" fragte ich. "Schmeißt du mich
raus?"
"Ach Quatsch", sagte er. "Du bleibst hier. Ihr erzähl
ich, du wärst weg, dann gibt sie mal Ruhe mit ihrem Gedöns.
Und du bist leise, wenn ich Xanthippe am Telefon hab. Dann sehn
wir weiter."
Soweit sogut. Ein fauler Kompromiß war das, aber im Moment
die einzige Friedensmöglichkeit (de Valera läßt
grüßen). Eins war aber klar geworden: daß irgendein
Stachel, und zwar ein tiefergehender Stachel, in einem von denen
saß, die ich bis dato als "Freunde" bezeichnet hatte.
Aber wo lag der Stachel? Eine Spitze war natürlich in mir,
klar. Aber wo war die andere? Warum hatte ich heulen müssen,
als ich Kurt gestanden hatte, in der Liebe Wiederholungstäter
zu sein? Warum hatte ich heulen müssen, als Xanthippe mir ihre
ungerechtfertigte Predigt hielt? Alles, was sie mir vorgeworfen
hatte, galt nicht für mich, sondern für sie: sie war die,
die uns Streß bereitete, sie war die, die Kurt das Blut aussaugte,
die nicht zuhören konnte, die Kurt mit Monologen zulaberte
und ihn weder zu Wort kommen ließ noch registrierte, daß
sie ihn vehement nervte, sie war die, die so egozentrisch war, daß
es wehtat, und die keine Ahnung hatte von nichts und keinerlei Gespür
dafür, wann jemand fix und fertig war. Sie war diejenige, die
nicht in einer Kolchose leben konnte und die Probleme mit den Menschen
und mit simplen Freundschaften hatte. Sie war Xanthippe, nicht ich.
Aber wo lag der Stachel? Der Stachel lag bei Franz. Franz war ein
Wrack. Und Franz war verliebt. Aber nicht in mich, sondern in Deborah,
eine schwedische Tänzerin, die seit einigen Jahren in Berlin
lebte und zur Zeit auch im Schliemann kellnerte. Ich kannte Deborah.
Ich mochte sie. Aber an Franz hing mein Herz, obwohl wir uns verstandesmäßig
ja schon im September zu Freunden ernannt hatten, immer noch sehr.
Mein Verstand konnte sagen: sieh dir Deborah und Franz an, würden
die nicht ein wunderbares Pärchen abgeben? - doch mein Herz
konnte das nicht, es war ein Loch, ein schreiendes Loch. Und er
mochte mich auch. Aber begehren tat er Deborah. Doch an sie kam
er nicht ran. Wann immer er sie sah, wars um ihn geschehen, dann
wollte er sie haben, küssen, streicheln, lieben. Sie lächelte,
sie kniff ihn in die Wange, sie schlug die Beine übereinander
und zog an ihrem Joint. Aber sie ließ ihn nicht ran. Franz
hätte schreien mögen. Aber er tat es natürlich nicht.
Er war ein Wiener alten Schlags, mit Charme und Eleganz, Schmäh
und Kratzfuß. Eine Frau "schleppte" man nicht einfach
"ab", einer Frau machte man den Hof! Und das tat er. Er
schmiß sich in Samt und Spitze (die Anzüge stammten noch
aus seiner Bühnenzeit mit Sally), er putzte sich die Zähne,
er kaufte sich Billighaaröl und ölte sich die Haare zurück
und tanzte mit allem, was er hatte, um Deborah herum. Aber sie ließ
ihn nicht ran. Sie lächelte und küßte ihn zum Abschied
auf die Wange. Und Franz hätte aufjaulen mögen. Aber er
tat es nicht. Er soff sich die Hucke voll, um über dieses ganze
Gefühlschaos nicht auch noch nachdenken zu müssen, und
kam dann singend zurück in die Stargarder getorkelt, mit heraushängenden
Hemdzipfeln und dem vom Bier durchnäßten Schlips in der
Hosentasche.
Und ich? Ich litt. Ich litt vehement. Ich litt so, daß ich
völlig gelähmt war. Obendrein war ich auch physisch krank.
Ich saß in der Kolchose in der Küche auf dem Stuhl vor
dem Herd, wärmte mir Hände und Füße an den
blauen Flämmchen vom Gasherd, hustete und schnupfte und fieberte,
trank Tee und schluckte Tabletten und starrte zu Franz hinüber,
der auf seinem Sofabett saß und völlig apathisch die
Katz streichelte oder mit Dieter Koks zog, und ob die Tränen
in meinen Augen nun vom japanischen Eukalyptusöl kamen, das
ich inhalierte, oder von dem stechenden Schmerz in der Herzgegend,
das wußte ich nicht. Gegen Mittag stand ich von der Isomatte,
auf der ich mit meinem Schlafsack lag, auf, klapperte mit den Zähnen,
zog mir was an, ging in die Küche, trank eine Tasse Kaffee,
stapfte dann in fiebrigem Trance durch den Schnee und den eisigen
Wind um die Ecke zum Pennymarkt, kaufte Tee mit Rum und Zitronen,
und am Abend war die Flasche Rum leer, und Franz lag sternhagelvoll
auf dem Sofa. Die Teekanne lag zerbrochen auf dem Boden, der Tee
schwamm drum rum. Als Franz wieder zu sich kam, wollte er mich zusammenscheißen,
weil die Teekanne ihm gehört hatte, die hatte er durch drei
Umzüge hindurchgerettet. Daß ich den Tee zwar gekocht,
aber er im Vollrausch die Teekanne selber zerdeppert hatte, als
er mal wieder mit dem Kopf an den Gänsebräter donnerte
und aus dem Gleichgewicht geriet und zurücktaumelte, das mußte
ich ihm erst erzählen.
Alexegorow zog mit Matratz, Fiedel, Hasch und einem Schwung esoterischer
Bücher in ein besetztes Haus in der Lychener, und so war das
große Hinterzimmer frei, und ich schlief nun dort, unter der
Kleiderstange, auf der Franzens Samtsakkos hingen. Die Lage entspannte
sich. Für viereinhalb Bewohner, die alle - außer Scully
- im Moment nicht mit sich im reinen waren, in deren Seele oder
Herz oder Existenz im allgemeinen sich ein großer klaffender
Abgrund auftat, ein Riß, ein tear, mit dem sie irgendwie fertigwerden
mußten - für vier kaputte, gerissene, angeschlagene Typen
und eine Katz war diese Wohnung eigentlich zu klein, klar. Wir waren
Freunde, es hatte heitere Zeiten gegeben zwischen uns vieren, lachende,
betrunkene, bekiffte, inspirierende, wunderbare Zeiten, Alexegorow
brachte Gras an und zitierte altrussische Balladen, ich zitierte
irische, Franz österreichische und Kurt jiddische (das war
seine neuste Leidenschaft), und dann sangen ich und Kurt im Duett
schottische Lästerlieder von Robert Burns, und Franz rannte
davon und kam mit zwei Litern Kadarka zurück. Aber jetzt wurden
diese Momente weniger und weniger. Jetzt waren wir vier Löcher,
die sich angähnten. Jeder starrte in die Schwärze des
anderen und nahm sich in acht, da nicht reinzupurzeln. Wir schwiegen
uns an oder waren gereizt. Daß Alexegorow nun weg war, gab
uns etwas Luft. Ich konnte nicht weg, obwohl es mir mein Verstand
wieder und wieder klarzumachen versuchte, aber ich saß wie
gelähmt auf dem Stuhl in der Küche fest. Wenn ich mit
Franz und Kurt nur eine lose Bekanntschaft laufen hätte, wäre
das was anderes gewesen - warum soll ich in einem kalten Dreckloch
mit maroden Typen zusammenleben? Aber mich kettete mehr an diese
Leute. Ich bekam einen Brief von zuhause, in dem meine Mutter schrieb:
"Liebe Camille, komm nach Hause! Warum bleibst du in dieser
fürchterlichen Umgebung? Deine Gesundheit steht auf dem Spiel!
Papa und ich konnten nicht schlafen nach deinem Anruf gestern. Ich
merke schon, daß dir dieser Franz nicht ganz egal ist; aber
glaub mir: Distanz schafft Nähe! Komm zurück, mein Schatz,
sonst wirst du noch depressiv!" Ich weinte. Ich weinte darüber,
daß ich meinen Eltern schlaflose Nächte bereitete, und
ich weinte, weil ich mich in diesem Brief wirklich und komplett
verstanden fühlte. Ich wollte zurück nach Krefeld, in
meine Wohnung; aber ich konnte nicht. Ich war geklebt an die Stargarder
und an den Prenzlberg.
Dieter stöberte dann mit seinen zahllosen Unterwelt-Connections
einige leerstehende Büroräume in der Wichert auf, und
Franz, der es nicht mehr ertrug, in der Küche der Stargarder
zu schlafen, wo es zwar mich und Kurt, aber keine Deborah gab, zog
mit seinem blutenden Herzen, mit seiner Matratz, seinen Bierdosen
und seinem Aschenbecher dorthin um. Nun waren noch ich und Kurt
übrig. Das Leben wurde wieder schön. Die Spannungen waren
weg. Die Chemie zwischen mir und Franz war zuletzt so tödlich
gewesen, daß nicht mehr viel gefehlt hätte, und wir hätten
uns zum Fenster rausgeschmissen. Daß Franz allein sein wollte,
war verständlich; aber erstens wohnte er in der Küche,
also in einem öffentlichem Raum, und zweitens war die Küche
durch den Gasherd der einzige warme Raum in der Wohnung. Ich mußte
in der Küche sitzen, weil ich mir, da ich ohnehin schon vergrippt
war, im Hinterzimmer eine Lungenentzündung geholt hätte,
und Franz konnte es nicht ertragen, daß ich in der Küche
saß, wo er ohne jede Aussicht auf Heilung an seinem Suff,
seinem Herzschmerz und seinem maroden Selbst rumlaborierte. Kurt
verkrümelte sich meist schnell auf den Katzensessel, wo er
telefonierte (und ich hielt mich an die Vereinbarung und muckte
nicht, damit Xanthippe nicht wieder mit ihrem Scheiß anfing),
und dort dachte er über seine Probleme mit Xanthippe nach,
und Franz und ich schwiegen uns verbiestert in der Küche an.
Eines Mittwochs knallte es. Ich saß wie üblich auf meinem
Stuhl und trank Tee mit Medizin, Kurt erzählte Franz seine
Geschichte mit Xanthippe. Ich wollte etwas dazu sagen. Franz unterbrach
mich und tat so, als ob es mich gar nicht gäbe. Ich versuchte
es erneut. Franz sah Kurt an und fragte ihn was, und beide plauschten
sie einfach weiter. Ich sprang auf und warf eine Zwiebel auf den
Boden.
"Verdammt nochmal!" brüllte ich. "Was ist denn
los, Franz? Bin ich Luft oder was? Hab ich dir was getan? Was soll
denn dieser Scheiß?!"
Franz starrte mich an. Kurt stand auf und umarmte mich. Es gab eine
große tränenreiche Aussprache zwischen uns dreien, bei
der sämtliche Eisschichten gebrochen wurden und wir uns dann
wieder in den Armen lagen, ewige Freundschaft schwörend.
"Ist doch lächerlich", sagte Kurt. "Wir haben
alle unsere Probleme, aber wär doch gelacht, wenn wir das nicht
zusammen hinkriegen!"
Franz knurrte was von Egoismus und Rücksichtnahme.
"Ach hör auf!" sagte Kurt. "Du bist im Moment
hier der größte Egoist, mit Borah hier und Borah da -
du führst dich auf wien Teenager vor seinem ersten Rendezvous!"
"Aber ich liebe diese Frau!" jammerte Franz und rang die
Hände.
"Ich weiß. Und Camille liebt dich, oder nicht?"
sagte Kurt.
Ich nickte.
"Siehste. Wenn wir hier schon das große Credo beherzigen,
daß man Rücksicht nehmen muß auf unglücklich
und eindimensional verliebte Menschen, dann gilt das für euch
beide."
Franz grunzte. Daß das zwischen ihm und Deborah "unglücklich
und eindimensional" sein bzw. enden sollte, das wollte er noch
nicht durchgehen lassen. "Und du und Xanthippe?", fragte
er dann. "Besonders zweidimensional seids ihr beidn ja auch
ned grad, oder irr ich da?"
"Das zwischen mir und Xanthippe ist nicht eindimensional",
sagte Kurt etwas schnell. "Ich hätte diese Frau vielleicht
mal fast geheiratet! Ich -"
"Fast", grinste Franz. "Sehr entlarvende Dialektik!"
Zu dem Zeitpunkt war er noch ihr Spezerl.
"Im Moment ist es etwas schwierig, das geb ich zu", sagte
Kurt. "Zumal sie Camille nicht leiden kann und jetzt wegen
ihr diesen ganzen miesen Fez veranstaltet - ich hätte es wissen
müssen, eigentlich ist der ganze Streß hier im Stall
meine Schuld."
"Nein", sagte ich, "ist es nicht. Was das betrifft,
ist nur Xanthippe schuld. Aber solang sie in Bremerhaven hockt,
kriegt sie ja nix mit. Und was die Kolchosenchemie betrifft -",
ich sah Franz an, "tut mir leid, Franz. Ich hätt mich
schon längst am Riemen reißen können. Ich will dir
nicht auf der Pelle hocken, das weißt du. Aber du hast gesagt,
wir seien Freunde. Und ich versteh unter Freundschaft was anderes
als sich gegenseitig die Wunden aufkratzen!"
"Was?" Franz starrte mich an. "Wieso Wunden aufkratzen?
Wer tut das?"
"Du", sagte ich, "hast Xanthippe im Suff vorgejammert,
daß ich ein Nagel sei zu deinem Sarg. Oder zumindest zu dem
höllenähnlichen Zustand, in dem du jetzt bist."
"Jooo...", murmelte Franz.
"Du hättest das nicht breitzutreten brauchen. Wir können
die Probleme zwischen uns alleine regeln! Da brauchst du nicht das
Vertrauen zu brechen und vor Xanthippe im Dreck liegen!"
"Jooo!" rief Franz verzweifelt. "Tut mir leid, Camille,
echt. I war bsoffn."
"Trotzdem", knurrte ich.
"Reißt euch zusammen, Leute", sagte Kurt. "Ich
mach jetzt was zu essen. Heut abend macht Georg n Poetry Slam oben
an der Schönhauser, wolln wir da hin?"
"Nee, heut kommt Huckebein noch vorbei", sagte Franz.
"Schön, dann haste ja jemanden, dem de von Borah vorschmachten
kannst", sagte Kurt und grinste zynisch. "Und du kommst
mit mir zur Schönhauser, Schäfjen, okay?"
Nach dem Poetry Slam betrank ich mich mit Guinness im Irish Pub
um die Ecke. Dann zog ich ins Hinterzimmer um und Franz in die Wichert,
und die Wochen vor Weihnachten waren kalt, aber meine Seele schien
zu heilen. Im Hinterzimmer wohnte zwar ein Floh, der mich nun biß,
und wegen dem völlig verschimmelten Klo hatte ich Pilze an
der Möse, die verdammt juckten, und was von der Erkältung
noch übrigblieb, war ein zäher Husten, aber abgesehen
davon gings mir gut. Kurt und ich tranken zusammen Kaffee, plauderten
und hatten einen so wunderbaren Draht zueinander wie lange nicht
mehr. Wir besuchten Lüders, einen alten vergrätzten Sonettisten,
gingen ins Kino, stöberten in Buchantiquariaten, fuhren zum
Frankfurter Tor raus, wo Georg in einem versifften Hippieladen eine
Lesung hatte, und liefen dann von dort zu Fuß zusammen durchs
klirrendkalte Ostberlin nach Hause, streichelten die Katz und dichteten
gemeinsam im Katzensessel. Franz kam täglich kurz rein, mal
mehr, mal weniger angeschickert, lachte, rauchte, kochte was, schwätzte
mit uns und verpfiff sich wieder.
Am 16. Dezember hatte Franz Geburtstag. Sally hatte für ihn
am Abend zuvor auf der kleinen Bühne ein Happening veranstaltet,
das dann natürlich in eine riesenhafte Sauferei ausartete,
und gegen Morgen zog die ganze Karawane, sofern sie noch gehen konnte,
ins Schliemann und soff dort weiter. Ich erfuhr das von Kurt; ich
war schon gegen Mitternacht gegangen, weil ich ständig auf
Borah und Franz starren mußte, die da saßen und ineinanderzufließen
schienen, und das war einfach zuviel für mich. Am Morgen des
16. ging ich in die Stadt, um bei einer Zeitungsredaktion vorzusprechen,
dann kam ich zurück, buk Brötchen (Alexegorow, der das
Blech geklaut hatte, um in seinem besetzten Haus damit Haschkekse
backen zu können, rannte durch den Schnee und brachte mir das
Blech zurück), dann brachte ich Franz einige Brötchen
als Geburtstagsgeschenk an die Wichert - er war nicht da, er war
on the tear, stieß irgendwo auf seinen Geburtstag an -, und
dann machte ich es mir auf dem Sofa gemütlich mit Bier und
Buch. Kurt saß im Hinterzimmer und dichtete. Es kratzte an
der Tür, und Franz kam singend reingeschüsselt, breit
grinsend und mit einer Bierfahne bis runter zur Prenzlauer Allee.
Er nahm mein Gesicht in beide Hände und drückte mir einen
Schmatz auf den Mund, dann setzte er sich auf den Stuhl, was erst
beim zweiten Versuch glückte - fast hätte er sich daneben
und in den Katzenfreßnapf gesetzt. Sein Kopf eierte auf seinem
Hals herum, in seinen Augen glitzerte es. Es ging ihm gut. Er fühlte
sich blendend. Er hatte Geburtstag, und jeder wußte das, und
jeder mußte ihm dafür mindestens ein Bierchen spendieren.
"Camille", zirpte er und grinste, "Camiiiiiiille,
gemmer noch ins Schliemann, hm? Auf meinen Geburtstag anstoßen?
Du hast gsagt, du lädst mich aufn Absinth ins Schliemann ein!"
Stimmt, das hatte ich mal gesagt. War aber schon lange her. Komisch,
daß Alkoholiker immer alles vergessen oder überhören,
aber sowas nie! Ich grinste.
Plötzlich ging die Tür zum Hinterzimmer auf, und Kurt
taumelte in die Küche. Er hielt sich die Stirn. Er starrte
leichenblaß geradeaus, uns an und durch uns hindurch. Franz
wurde mit einem Schlag nüchtern. "Kurt! Was is los?"
"Scheiße", stöhnte Kurt, "die läßt
einen nicht in Ruhe. Xanthippe. Die kocht ihre Giftwässerchen
weiter und weiter. Jetzt hab ich gedacht, die Sache mit Camille
wär gegessen - ich wollt sie doch über Weihnachten und
Neujahr in Bremerhaven besuchen - und jetzt sagt sie mir, wenn ich
nicht sofort mit Camille breche, dann macht sie mit mir Schluß."
Franz starrte mich an, ich starrte Kurt an. Die Katz gähnte.
"Was ist da bloß in sie gefahren? Verdammt nochmal. Das
muß ich jetzt erstmal verkraften. Ich mein, sie will mir die
Beziehung kündigen wegen ner fixen Idee!" Kurt setzte
sich wie im Trance auf einen Stuhl. Hinten schrillte das Telefon.
Kurt sah zu Franz hin. "Das ist für dich. Xanthippe will
dir zum Geburtstag gratulieren."
Franz stürzte zur Küche raus und verschwand im Hinterzimmer.
Kurt kam zu mir gewankt, setzte sich auf die Sofalehne und schmiegte
den Kopf wie ne Katz an meine Schulter. Eine Träne kullerte
seine Backe runter.
"Die hat gesehen, was zwischen uns für ein guter Draht
ist, und das verträgt sie nicht. Zwischen mir und dir ist n
besserer Draht als zwischen mir und Xanthippe im Moment, weißt
du, mit Burns und den Iren und Rajzel Zychlinski und Graßhoff
- ich hab zwar immer noch nicht ganz raus, wie du tickst, aber ich
hab das Gefühl, ich und du, wir ticken ähnlicher als ich
und Xanthippe je getickt haben und je ticken werden." Er schluckte.
"Aber ich mag euch beide! Verdammt, warum ist denn das so schwer
zu verstehen?! Ich will euch beide nicht verlieren!"
"Ich kann auch gehen", sagte ich.
"Nein, Schäfjen, geh nicht. Bitte. Geh noch nicht. Ich
- ich meine, nicht so. Du wirst hier nicht rausgeschmissen, und
du wirst auch nicht verbannt, und - ich krieg das hin mit Xanthippe."
Franz kam wieder in die Küche geschliddert. "Die Situation
ist entschärft", verkündete er. "Ich hab ihr
gsagt, daß sie eine fixe Idee hat und -"
"Und sie hat dir zugehört?" Kurt starrte Franz entgeistert
an.
"Ha jo!" sagte Franz. "Und -"
"Was der Junge mit sein' Charme nich alles fertigbringt!"
sagte Kurt. "Mensch Franz! Besoffen biste, abgefuckt biste,
aber in'n entscheidenden Momenten funktionierste goldrichtig!"
Franz grinste. "'s is net meine Schuld, daß ich bsoffn
bin - aber wer is am Geburtstag net bsoffn?" Ich gab ihm einen
Kuß. "Also folgendes. Camille is hier drin geduldet bis
zweiten Januar, weil jemand aufs Katz aufpassen muß."
"Wieso bis zweiten Januar?" fragte Kurt.
"Am zweiten Januar kommen ich und du aus Bremerhaven zrück."
"Was machst du in Bremerhaven?"
"Ich komm mit Xanthippe bsuchen. Über Sylvester."
"Davon weiß ich ja gar nichts!"
"Ich au net, bis jetzt", lachte Franz. "Sie hat mich
eing'laden."
"Und ich bleib hier?" fragte ich.
"Klar!" sagte Franz.
"Toll", sagte ich. "Wirklich famos. Tolle Freunde,
ihr zwei. Ich bin hier drin geduldet, um auf die Katz aufzupassen
- sehr gnädig. Ich bin ja nicht über die Feiertage nach
Berlin gekommen, um dann von meinen sogenannten Freunden in ner
kalten und dreckigen Wohnung alleingelassen zu werden!" Kurt
kriegte wieder sein kummervolles Gesicht und fing an, mich zu streicheln.
Hinten klingelte das Telefon wieder.
"Blöde Kuh", knurrte Kurt. "Psychoterroristin!"
Das Telefon klingelte. Kurt blieb sitzen. Dann hörte es auf.
Nach fünf Sekunden fing es wieder an. Kurt erhob sich und tapste
raus, und in diesem Augenblick, den ich nie vergessen werde, sah
er aus wie siebzig: Strickjacke, Filzpantoffeln, dieser traurige
Blick, als ob die ganze Last der Menschheit auf seinem armen Buckel
läge. Die Tür zum Hinterzimmer schloß sich. Wir
hörten Kurt den Hörer abnehnen. Er sagte "Ja?"
und in einem furchtbar müden Tonfall "jaaa, hat er ausgerichtet"
und "hör jetzt bitte auf mit dem Scheiß". Dann
war wieder Stille. Er lauschte einem von Xanthippes Monologen. Armer
Kurt, dachte ich.
"Los jetzt!" rief Franz. "Auf zum Schliemann!"
Ich zog mich an. Mischa, Sperling und Huckebein waren auch im Schliemann.
Es gab ein großes Hallo. Ich bestellte für mich und Franz
zwei doppelte Absinth. Deborah war nirgends zu sehen; hatte wohl
heute Pause. Na, sie hatte ja gestern mit Franz gesoffen, bis die
Sternlein sangen. Joe, ein schwarzer Tramp, tauchte auf und schenkte
Franz eine Packung Katzenfutter, die dieser gleich an mich weiterreichte.
Wir verkrochen uns mit unseren Absinthgläsern nach hinten,
und Mischa holte sein Gras aus der Tasche, und es wurden einige
dicke Joints gezwirbelt. Huckebein, der schon ziemlich voll war,
hatte plötzlich Lust auf Gesellschaftsspiele und nervte den
jungen Punk hinterm Tresen so lang, bis dieser nach hinten verschwand
und nach einer Weile mit einem Schachspiel wiederkam. Huckebein
haute sich mit dem Schachspiel an einen Tisch, Sperling und andere
Säufer saßen gleich drumrum, und Huckebein kloppte einen
nach dem anderen schachmatt und lachte dann sein meckerndes Lachen.
Sperling versuchte ein Gespräch mit mir, aber ich konnte mich
nicht konzentrieren, meine Gedanken kreisten stets um Kurt. Das
sagte ich Sperling dann. Er holte sich bei dem Punk hinterm Tresen
einen Stift und kritzelte mir seine Adresse auf einen Bierdeckel.
"Falls du da wirklich rausfliegst, kannst du jederzeit bei
mir unterschlüpfen." Ich war ihm sehr dankbar.
Franz hing sturzvoll auf einem Stuhl. Ich kitzelte ihn.
"Trink' mer noch n Bier?" lallte er und hob erwartungsvoll
den Kopf.
"Na", sagte ich, "meinst du nicht, du hast genug?"
"Aber nie!" rief Franz und sprang auf die Beine. "Her
damit!"
Ich ging nach einem weiteren Absinth. Franz hatte zwei Prenzlauer-Berg-Touristen
in seinen Bann gesponnen, führte ihnen seine Harlekinaden vor
und kriegte von ihnen wohl noch einiges spendiert. Na denn.
Der Vorderhausdurchgang von der Stargarder stand immer noch knöcheltief
unter Wasser. Gestern nacht hatte es von oben runtergeregnet, irgendwas
war undicht, die Feuerwehr war dagewesen, aber sie würde nochmal
kommen müssen. Ich watete durch das eiskalte Wasser und kam
mir vor wie McCourt. Und das war ja gar nicht so falsch. Es herrschten
zu diesem Zeitpunkt in Berlin -20°, und wir hatten in unserer
Kolchose oben im Seitenflügel keine Heizung. Wir saßen
in Mänteln in der Küche, bis der Herd etwas Wärme
entwikkelt hatte. Gäste, die uns zum erstenmal besuchten, wie
ein Kiffkollege von Alexegorow oder auch Xanthippe, waren sprachlos,
wie wir es in dieser Kälte aushielten, und fingen nach einer
Weile an zu bibbern. Auf dem Boden lag Schmutz und Staub, das Klo
war verschimmelt, die Fensterscheiben grau. Scully hatte sich neuerdings
auf den Kühlschrank zurückgezogen; erstens war es dort
oben mollig warm, weil das Gebläse vom Kühlschrank unter
ihr war und die Wärme von den Herdplatten zu ihr nach oben
stieg, und zweitens konnte sie von da oben gemütlich das ganze
chaotische Treiben der rätselhaften Spezies Mensch beobachten,
ohne selbst hineingezogen zu werden. Ich beneidete sie. Kurt hatte
sich schon an die Kälte gewöhnt, er stand morgens splitterfasernackt
vor der Spüle und wusch sich, dann zog er ein Hemd über
und ein dünnes Strickjäckchen, während ich zu der
Zeit mit zwei Pullovern und Strumpfhosen unter den Jeans rumlief.
Was besonders lästig war, weil ich mich wegen meiner Flohbisse
an den Beinen und dem Pilzbefall an der Möse ständig kratzen
mußte. Ich hatte keine Anti-Pilz-Salbe oder so, also rieb
ich mir Möse und Schenkel mit Rasierwasser oder Eukalyptusöl
ein, was beides tierisch brannte; aber nach einer Weile waren die
Pilze ausgetrocknet, und der Floh hatte wohl den Appetit an mir
verloren. Alexegorow schenkte mir einen Schafpulli aus Kerry, der
ihm zu klein geworden war; er hatte Mottenlöcher und roch nach
Hasch, aber ich trug ihn die ganze Zeit bis zu meiner Abreise, weil
es, was ich aus meiner Zeit in Irland weiß, nichts Wärmeres
gibt als einen echt irischen Schafwollpulli. Medizin gab es bei
uns nicht, und Handtücher auch nicht. Beides hatte ich meine
Eltern mir zu schicken gebeten. Sie schickten mir Cellophantüten
voller Antibiotika, Hustensaft, Nasensprays und Aspirin - als ich
im April wieder in Berlin war und ein Aspirin brauchte, war nicht
einmal das mehr da. Die Handtücher, die wir um Weihnachten
herum benutzten, hängen heute noch da. Nachdem Kurt nach Bremerhaven
gefahren war und ich die ganze Kolchose für mich hatte, machte
ich mich erstmal mit Feuereifer ans Saubermachen. Ich spülte,
wischte den Boden, schrubbte die Handtücher in der Spüle
in Seifenlauge und hängte sie im Hinterzimmer auf Schnüre
zum Trocknen, saugte Staub im Flur und im Klo, räumte die leeren
Bier- und Weinpullen von den Tischen vor die Wohnungstür, kratzte
die Essensreste vom Wachstischtuch und legte Weihnachtsservietten
drauf; sogar Scully kriegte ihre Näpfe gesäubert und mit
Servietten unterlegt. Ich hängte Tannenbaumzweige an die Nägel
in der Wand und machte mir ein Feuerchen. In diesen Weihnachtstagen
fühlte ich mich sehr gebettet. Die letzten zwei Wochen, nach
Xanthippes Abreise, unserer großen Versöhnungsaussprache
und Franzens Auszug, als ich mit Kurt allein war, hatten meiner
Seele gut getan. Ich fühlte mich psychisch wie physisch wieder
wohl. Auf klassische Weihnachten hatte ich ohnehin keine Lust; und
meine alternative Weihnachten sollte nun so aussehen, daß
ich meine Ruhe hatte und diese einfach von vorn bis hinten genießen
wollte, kein Trallala, keine Party, keine Myriaden von Leuten. Meine
Familie schickte mir ein Päckchen mit Weihnachtsgeschenken
und Eßwaren drin, und meine Mutter schrieb: "Mach es
dir an Heiligabend gemütlich, mein Schatz." Das machte
ich. Das Café Schliemann hatte ohnehin geschlossen über
die Feiertage, also hatte ich mich beim Netto zuvor noch mit Wein
und Absinth eingedeckt. Und ich hatte nicht vor, davon etwas an
Franz abzugeben - er hätte es, wenn ich damit angefangen hätte,
gleich ausgetrunken. Ich zündete ein paar Kerzchen an, machte
Kaffee, aß etwas Toastbrot und schmauchte eine Reval. Dann
schnukkelte ich mich, die Katze im Schoß, aufs Sofa und las
und dichtete und aß und fühlte mich wohl. Wo Franz war,
war mir egal; ich hatte kein Bedürfnis nach ihm, die zärtlichen
Gefühle für ihn waren zu dieser Zeit komplett abgestorben.
Er wohnte nun in der Wichert, war nach wie vor komplett abgewrackt
und eierte nach wie vor um Borah herum, der Affentanz war immer
lächerlicher, was alle sahen bis auf ihn, und seine Sauferei
war natürlich nach wie vor gravierend. Meine auch, klar, noch
war ich von einem diesbezüglichen Schnitt weit entfernt. Am
24. machte ich Besorgungen, dann sah ich kurz in die Wichert rein,
wo Franz mit Huckebein saß und soff. Später ging Franz,
aufgebrezelt, zu jemandem, der ihn eingeladen hatte (es war nicht
Deborah), und ich trank mit Huckebein in der Stargarder einen guten
Rotwein und ging anschließend mit Scully ins Bett. Am 25.
waren ich und Franz bei Norbert eingeladen zum Essen. Morgens hatte
ich Franz besucht, Borah war da, sie begrüßte mich freudig,
ihr Hund leckte mir die Hand ab, Borah zelebrierte ihr gewöhnliches
Lächeln und ihren Smalltalk, und Franz lag auf der Matratz
und grinste gequält. Bevor wir dann zu Norbert gingen, schnauzte
er mich an, ich hätte ein Rendezvous gestört, von dem
er sich weißgottwas versprochen hatte. "Was für
ein Rendezvous?" – "Na, Borah! Ich hab sie eing'laden
zum Frühstück! Ich wollt mit ihr holde Zweisamkeit feiern!
Und denn kommst du! Wieso gehst du net wieder?!" – "Nach
holder Zweisamkeit sah mir das aber nicht aus, Franz. Borah stand
da im Mantel, leckte an vertrockneter Nutella und langweilte sich.
Hast du das denn nicht gemerkt? Und du lagst doch wie immer nur
besoffen herum!" Ich war sauer. Franz besoff sich und wiederholte
den gravierenden Fehler von Vertrauensbruch, den er auch damals
schon begangen hatte: er telefonierte mit Xanthippe. Damit war er
für mich gestorben. Freunde sind was anderes, dachte ich. Ich
war ihm beigestanden, als er Probleme gehabt hatte, Geldprobleme
und die mit Klein-Hitler, doch jetzt dachte er nur noch an sich.
Als ich ihn im Schliemann am Tresen hängen sah, besoffen und
pleite, wie er gerade versuchte, den bedienenden Punk zu überreden,
ihm Kredit zu geben, spazierte ich ohne Regung an ihm vorbei. Sein
Charme hatte ausgedient, seine Hülle war geplatzt. Ich sah
ihn jetzt als das, was er war: ein Wrack. Der auch andere mitwrackt.
Er war für mich, anders als für Xanthippe, nie der Engel,
der jetzt plötzlich zum Teufel mutierte, er war nur ein Alkoholiker
und ein Wrack. Und von Wracks und Alkoholikern hatte ich nun genug.
Er war nicht gewollt böse oder parasitär; er war nur feige
und unglaublich gedankenlos. Er taumelte von einer Situation in
die nächste, und wenn er dort angelangt war, hatte er die erste
schon vergessen, und daß er vielleicht bei diesem unkontrollierten
Durchs-Leben-Schusseln Menschen verletzte und Freunde verriet, das
drang selten durch seine fuselgetränkten grauen Zellen bis
zu seiner Hirnzentrale durch. Und wenn es hart auf hart ging, dann
ließ er die anderen den Dreck machen und beschwerte sich noch
wegen zuwenig Rücksichtnahme. Jedenfalls kam es mir so vor.
Und ganz falsch war es nicht.
Xanthippe indes hieß nicht umsonst so. Sie braute in Bremerhaven
ihre Giftwässerchen, und Sokrates, also Kurt, kriegte sie eingeflößt
und wurde von ihr vergiftet, wurde einer gründlichen Gehirnwäsche
unterzogen. Am 28. Dezember kriegte ich einen Brief aus Bremerhaven,
der mir das Blut gefrieren ließ. Er enthielt den ganzen von
Xanthippe damals geäußerten asozialen Schwachsinn, unterschrieben
von Kurt. "Kolchose will gelernt sein. Du rudelvampirierst.
Ich hab dich eingeladen, nun schaff bitte deinen Arsch aus der Zone."
Ich las den Brief zweimal, dann hatte ich einen Heulkrampf. Alles
fiel von mir ab. Ich konnte es nicht fassen. Xanthippe hatte Kurt
gehirngewaschen, dann gefesselt und geknebelt und ihn gezwungen,
den Brief zu unterschreiben - anders war das nicht vorstellbar,
dazu kannte ich Kurt zu gut (und wie er mir später gestand,
war es auch genau so gewesen); trotzdem brach in mir etwas unkittbar
entzwei. Ich hörte das kostbare Porzellan der Freundschaft
zerschellen. Später, als er aus Bremerhaven zurück war,
suchten ich und Kurt alle Scherben zusammen und taten unser Bestes,
das Porzellan zu kleben; doch der Sprung blieb, bis heute. Dank
Xanthippe und ihren maroden Intrigen. Sie beschimpfte mich als Zecke,
obwohl nur sie eine war, eine Zecke, eine Giftspinne, die überall
ihre Fangarme hineintentakelte. Franz, der am 29. über Sylvester
zu ihr und Kurt stieß, kam nun ebenfalls in den Genuß
von Xanthippes lebensecht dargebotener Lady-Macbeth- oder Lady-Marwood-Show.
Ich fühlte mich wirklich ans billigste bürgerliche Trauerspiel
erinnert: die billigste und dümmste Eifersucht ließ Xanthippe
eine derart tödliche Intrige spinnen. Sie wollte die Beziehung
mit Kurt um jeden Preis retten, und dafür ging sie über
Leichen - meine, und dann auch die von Kurt; denn eine Beziehung
war das, was sie ihm dann aufzwang, nicht mehr, war es schon vorher
nicht mehr gewesen. Und sie nahm es in Kauf, Freundschaften zu zerstören.
Daß sie selbst es war, die mit Freundschaften Probleme hatte,
war der Grund, daß sie anderen keine gönnte. Und der
Grund dafür, daß sie stets eine Show abzog, daß
sie sich als etwas präsentierte: als starke Frau, als fürsorgliche
Freundin, als sozialkritische Dichterin, als gute Kollegin, als
liebevolle Trösterin, als weltgewandte Unterhalterin - was
sie alles nicht war. Sie war Xanthippe, und wir wußten warum.
Ich verließ die Stargarder. Ich befand mich im Schockzustand,
war wie betäubt, am Boden zerstört. Ich tauchte in Wilmersdorf
unter und kam täglich einmal zurück, um Scullys Näpfe
frisch zu füllen und mich zu betrinken, damit ich über
meine Schmerzen nicht nachdenken mußte. In der Kolchose rührte
ich keinen Finger mehr. Alles war von mir abgefallen. Es war eine
marode, kalte Wohnung, ja: aber man spürte die Kälte und
den Dreck nicht, solang man Freunde dort hatte, die einen wärmten
und pflegten, sowohl im wörtlichen als auch im emotionalen
Sinn. Jetzt war in mir alles diesbezüglich zerbrochen und erkaltet
und lag zwischen dem anderen Gerümpel auf dem Boden. Ich schüttete
die Zigarettenasche auf die Dielen, warf die leeren Weinflaschen
quer durch die Küche und ging wieder nach Wilmersdorf. An Sylvester
zog ich um zu Mischa, der in einem großen hellen sauberen
warmen Zimmer wohnte. Neujahr feierte ich am Helmholtzplatz. Die
Tür der Stargarder hatte ich endgültig hinter mir geschlossen.
Am 2. Januar schnitt ich mir die Haare ab. Die Vergangenheit lag
auf dem Boden des Friseursalons in Kreuzberg. Meine Seele, getreten
und geschlagen, erhob sich wieder aus der Asche, so kitschig das
auch klingt; langsam, aber es ging. Ich lief durch Berlin, atmete
die frische eiskalte Luft ein und fühlte mich frei und gelöst.
Phönix aus der Asche. Ich wollte nicht in der Asche verrecken
wie Franz. Ich war noch jung. Ich wollte diese marode Pseudo-Bohème
endgültig verlassen. Und das tat ich.
Ich verließ Berlin nicht gleich. Ich wollte Kurt noch zur
Rede stellen. Franz schuldete mir noch Geld - aber da ich wußte,
daß er mir das nie zurückzahlen würde, nahm ich
ihm stattdessen den Pullover wieder ab, den ich ihm eigentlich geschenkt
hatte. Als ich erfuhr, daß sowohl Franz als auch Kurt mit
Xanthippe in Bremerhaven eine furchtbare Zeit hatten, machte sich
in mir so etwas wie klammheimliche Schadenfreude breit. Und ich
hatte noch gedacht, daß sich die drei da oben königlich
amüsierten und genüßlich über mich und Alexegorow
ablästerten! "Nicht die Bohne", sagte Kurt. "Ich
saß da und hab dich zu verteidigen versucht, Xanthippe hat
ihren Scheiß geblökt und mich zu überreden versucht,
daß sie recht hat, und hat immer gesagt: 'nach all dem, was
ich für dich getan habe, Kurt, nach all dem müßtest
du mich doch lieben!' - aber ich liebe sie nicht, Liebe kann man
nicht erzwingen, und genau das versucht sie. Ich war nahe dran,
mit ihr Schluß zu machen." Er seufzte. "Und Franz
- er durfte nachts nicht rauchen, er durfte nicht trinken, er mußte
sie um jeden Cent anbetteln, sie ging mit ihm um, als wär er
ihr Schoßhündchen, und als sie ihn dann umarmen wollte,
blies er ihr die Meinung und stieß sie von sich. An Neujahr
sind wir alle drei nur rumgesessen. Es war mörderisch. Jeder
nervte jeden an, und wir zählten die Minuten, bis der Zug endlich
kam." Sehr schön. Also wer zeckte nun wen? Siehste. Wir
küßten uns. "Weißt du, Schäfjen",
sagte Kurt, "du bist immer in meinem Herzen drin, so oder so,
du kannst bei mir nichts falschmachen. Es wäre ein Verlust
gewesen, wenn du jetzt verschwunden wärst."
"Für mich auch", sagte ich.
"Es geht um das Leben und nicht um Literatur."
"Es geht um das Leben und nicht um bürgerliche Trauerspiele",
korrigierte ich ihn. "Literatur und Leben ist dasselbe - wer
das nicht kapiert, hat weder das eine noch das andere begriffen.
Was bei Xanthippe der Fall ist. Sie glaubt, sie propagiert das Leben
- aber sie spielt eine Rolle in einem bürgerlichen Trauerspiel
und merkt das nicht mal."
"Stimmt", sagte Kurt und grinste. "Dann lassen wir
sie da. In Kabale und Liebe ist sie gut aufgehoben, als Lady Marwood
oder Millwood."
Bohème heißt Leben. Subkultur heißt Leben. Und
Leben ist da zu Ende, wo es von toten Hülsen gefressen wird.
Haight-Ashbury hörte da auf, ein kreativ pulsierendes Zentrum
der Gegenkultur zu sein, als es immer voller wurde von Leuten, die
sich anzogen wie Hippies, redeten wie Hippies, benahmen wie Hippies,
aber keine Ahnung hatten, was Hippies eigentlich waren, kurz: als
man nirgendwo mehr Hippies sah, sondern nur noch Leute auf der Suche
nach Hippies. Wracks, Pseudos, Drogensüchtige, Perspektivlose.
So auch hier.
Lassen wir die Toten ruhen. Lassen wir Xanthippe und ihre Spießgesellen
zwischen ihren Leichen rumwühlen - wir leben!
Ich kam im April wieder zurück nach Berlin. Nichts hatte sich
verändert. Bei Franz in der Wichert standen nach wie vor noch
Aberdutzende Bierflaschen auf dem Boden. Huckebein war in der Wichert
jetzt Dauergast, und Franz war noch knochiger geworden. Ich freute
mich zwar, ihn wiederzusehen, aber ansonsten war er mir völlig
gleichgültig geworden. Alexegorow war mit Fiedel und Gras ins
Hinterhaus der Stargarder gezogen, und in Kurtens Küche im
Seitenflügelgebäude stand das Sofa hochkant und das Hinterzimmer
sah sehr leer aus, aber sonst war alles wie gehabt: Asche, Schmutz,
Kaffeefilter, Streichhölzer, Schimmel, Flöhe, graue Fenster.
Nichts hatte sich verändert.
Nur ich. Ich war off the tear.
Ní Gudix Mai 2003
"tear" bedeutet Riß. Darüberhinaus heißt
"to be on the tear" im Dubliner Säuferjargon soviel
wie "einen Absturz haben, auf Sauftour sein, sternhagelvoll
sein". Absturz wohin - wohin wird gestürzt? Eben.
Kurt hat sich inzwischen von Xanthippe getrennt, die
Stargarder Kolchose gibts nicht mehr, die Versuchsstation auch nicht,
das Schliemann wurde kürzlich eine Zeitlang von der Polizei
wegen Drogen geschlossen, aber inzwischen hat es wieder eröffnet,
und das Getriebe läuft dort wieder wie eh und je – nur
ohne Kiff. Aber Huckebein sitzt nach wie vor ständig dort rum,
auch Joe; nur Mischa ist wie vom Erdboden verschwunden. Sperling
habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen, genauso Borah, Dieter ist
völlig auf den Hund gekommen, Sally ist in einen anderen Bezirk
gezogen, und Franz versucht, trocken zu werden und schreibt an einem
Opus über Shakespeare. Scully hat ihn verlassen; das war vielleicht
der größe Schock. Er hat jetzt zwei neue Katzen.
Berlin, März 2005
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