XXVII. Jahrgang, Heft 147
Jan - Apr 2008/1
 
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Letzte Änderung:
24.2.2008

 
 

 

 
 

 

 

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Don Quijote in Deutschland
Wie ein Spanier die Deutsche Einheit erlebt
Von Heleno Saña

   
 
 


Die Ostdeutschen haben nach ihren jahrzehntelangen negativen Erfahrungen mit dem DDR-Staat eine zweite Enttäuschung mit dem westdeutschen Staat erlebt. Dies ist, vereinfacht ausgedrückt und auf einen Nenner gebracht, die Grundsituation gut fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer. Im Mittelpunkt dieser doppelten Enttäuschung steht der Begriff Freiheit. In den langen Jahren der SED-Diktatur wurde sie sehnsuchtsvoll erwartet, ihre Abwesenheit schmerzlich empfunden. Als sie endlich da war, brachte sie nicht, was man sich von ihr versprochen hatte. Oder nur einen Teil davon. Welches sind die Gründe für diese Desillusionierung? Der erste war, daß der Prozeß der Wiedervereinigung von Anfang an im wesentlichen von dem westdeutschen Staat, den westdeutschen Parteien und den westdeutschen Konzernen bestimmt wurde. Dieselben ostdeutschen mündigen Bürger und Bürgerinnen, die es gescharrt hatten, aus eigener Kraft der SED-Herrschaft ein Ende zu setzen, wurden bald von Westdeutschland weniger als gleichwertige Partner denn als unmündige Untergebene behandelt. Sie waren gewiß frei, die Neubundesbürger, und dennoch gerieten sie sofort in eine neue Abhängigkeit. Man hatte es in Westdeutschland eilig, klar zu stellen, wer Herr im Hause war, wer das Sagen hatte. Deshalb zögerte man nicht, die Vereinigung durch Machtpolitik zu beschleunigen, eine Machtpolitik, die diesmal nicht gegen einen äußeren Feind, sondern gegen die eigenen Landsleute gerichtet wurde. De jure verlief freilich alles in korrekten Bahnen, de facto war es im Grunde ein Diktat. So empfand es auf jeden Fall ein beträchtlicher oder gar mehrheitlicher Teil der 17 Millionen Ostdeutschen. Ähnlich fühlte ich als außenstehender, aber keineswegs gleichgültiger Beobachter. Die Überwindung der geopolitischen Spaltung kam nicht durch einen Dialog unter Gleichen zustande, sondern ähnelte mehr einer Okkupation und einer Machtdemonstration gegenüber dem schwächeren Partner. Daß in diesem Zusammenhang der Einigungsvertrag gelegentlich mit dem Ermächtigungsgesetz verglichen wurde, war bezeichnend genug, auch wenn der Vergleich überzogen und rein sachlich inakzeptabel war. Aber genauso unzutreffend war es, die DDR-Diktatur mit der Naziherrschaft in einen Topf zu werfen, wie es nicht wenige Deutsche aus West und Ost taten. Dazu wäre mit Friedrich Schorlemmer zu sagen: „Ich fühlte mich von meinem 17. bis 45. Lebensjahr in der DDR eingemauert, und ich schämte mich für das Land, aus dem ich kam. Aber ich war und bin froh, daß ich nicht im Dritten Reich habe leben müssen, auch wenn es schwer war, in Ulbrichts Mauerstaat ein eigenständiges und würdiges Leben zu führen“ (Absturz in die Freiheit). Kritik am Verhalten Westdeutschlands wurde böswillig und selbstgefällig als Mangel an demokratischer Gesinnung oder als Nostalgie nach dem DDR-Staat, bestenfalls als Undankbarkeit gegenüber der vom westdeutschen Staat erhaltenen Hilfe ausgelegt. Und natürlich war es hoch unwillkommen, auf die positiven Aspekten des SED-Regimes hinzuweisen. Überhaupt galt das Wort Sozialismus als Unwort, auch dann, wenn die Rede ausdrücklich von einem demokratischen und humanen Sozialismus war. Einzig legitim war die in der Bundesrepublik und in der westlichen Welt herrschende bürgerlich-kapitalistische Ordnung. Die Beseitigung des Mauerstaats schloß stillschweigend und wie selbstverständlich die Verbannung jeden Gedankens ein, der das Dogma der freien Marktwirtschaft in Frage stellte. Auch und gerade in dieser Hinsicht Bevormundung und Belehrung, Dogmatik und Einheitsdenken.


Das Herz des spanischen Ritters schlug für die Entrechteten und Unterdrückten, für die Besiegten und Gedemütigten

Ich verspüre wenig Lust, mich eingehend mit dem strittigen und traurigen Kapitel der Abrechnung mit den ehemaligen politischen Kadern des DDR-Regimes zu befassen. Andere haben es mit mehr Kenntnissen und mit einem besseren Überblick als ich selber ausführlich getan. Ich habe mich darüber hier und da mündlich und schriftlich geäußert. Ich habe es wieder getan im Zusammenhang mit einem langen Kapitel, das ich Ostdeutschland in meinem Buch „Don Quijote in Deutschland“ widme. Dort sage ich über den Ritter: „Er war auch gegen die Bestrafung der DDR-Kadern. In seiner eigenen Heimat Spanien wurde nach dem Tod Francos kein einziger Mensch wegen seines Verhaltens während der Diktatur verfolgt oder vor ein Tribunal gestellt. Auch wurde keine Behörde errichtet, um in den Akten zu wühlen und sie öffentlich bekannt zu machen. Würden die siegreichen Westdeutschen dem Beispiel Spaniens folgen oder würden sie den Weg der Vergeltung und der Bestrafung wählen?“ Damit will ich nicht sagen, daß wir Spanier es besser machten als die Deutschen, aber vielleicht mit der Klugheit, die schon Aristoteles für eine der wichtigsten persönlichen und gesellschaftlichen Tugenden hielt. Klugheit oder Einsicht in die Notwendigkeit hieß hier, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen und ohne Ressentiments und Rachegefühle einen Neuanfang zu wagen. Vielleicht war dabei auch ein bißchen von der Grandezza im Spiel, die man uns Spanier zuschreibt. Die Deutschen, oder viele von ihnen, zogen die Option der Gesinnungskontrolle, der gegenseitigen Verdächtigungen, der Denunziation und der Angst vor, eine Reaktion, die mich manchmal an die Romane von Kafka und Orwell oder an der McCarthy-Ära in den USA erinnerte. Zurecht oder unrecht denke ich, daß es eines großen Kulturvolkes unwürdig ist, sich für eine solche Art von Vergangenheitsbewältigung zu entscheiden, zumal es sich hier um ein Land handelt, in dem im Namen der Staatsraison oder einer Ideologie so viele Verbrechen begangen worden sind. Meine donquijotische Seele vermißte hier jene Generosität, die Spinoza als die für edle Seelen einzig in Frage kommende Haltung betrachtete. Was mir aber am meisten mißfiel, war die Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der sich Westdeutschland über Ostdeutschland erhob und Gericht hielt, ohne je auf die naheliegende Idee zu kommen, sich auf die eigenen Versäumnisse und Schandflecken zu besinnen. Ein bißchen Demut wäre gerade in dieser Hinsicht höchst angebracht.

Sie wissen, verehrte Anwesende, für wen das Herz des spanischen Ritters schlug: für die Entrechteten und Unterdrückten, für die Besiegten und Gedemütigten. Genauso empfand ich von dem Augenblick an, an dem ich ostdeutschen Boden betrat und anfing, Ostdeutschen zu begegnen. Die Verbundenheit, die ich spontan mit ihnen fühlte, hatte nichts mit meiner politischen Einstellung zur DDR und sonstigen Spielarten des Sowjetkommunismus zu tun, zu dem ich seit Beginn meiner politischen Lehrjahre eine sehr kritische Einstellung hatte, wie meine Bücher in spanischer und deutscher Sprache bezeugen. Ich lasse hier wieder Don Quijote zu Wort kommen: „Nach dem Fall der Mauer machte sich Don Quijote auf den Weg zu der ostdeutschen Hälfte der Nation. Oder genauer: er wurde von einigen der dortigen Bewohner dazu aufgefordert, das Land zu besuchen. Denn obwohl die ewigen Feinde und Widersacher des Ritters dafür gesorgt hatten, seinen Namen in den Schmutz zu ziehen und ihn als einen verschworenen Feind Deutschlands zu brandmarken, fehlten nicht die ostdeutschen Stimmen, die von ihm Beistand und Orientierung für ihre Sorgen und Kümmernisse erwarteten. Er stieg auf seine Rocinante und suchte den Weg dorthin mit gemischten Gefühlen. Wohl wußte er, was sich seit der Errichtung der DDR durch die sowjetische Besatzungsmacht abgespielt hatte. Andererseits empfand er Mitleid mit den Millionen Menschen, die durch den plötzlichen Zusammenbruch des Regimes um die Grundlagen ihrer Existenz bangten und vor einer Ungewissen Zukunft standen. Die meisten von ihnen freuten sich gewiß auf die Freiheit, die ihnen plötzlich zugefallen war, aber nichtsdestoweniger mußten sie jetzt um ihre Arbeitsplätze, ihr Einkommen und ihre Renten fürchten. Sie zu belehren über das System, das sie jahrzehntelang hautnah erlebt hatten, schien ihm unangebracht und auch überflüssig, zumal sie seine Bücher kannten. Der Ritter sah sie vor allem als Besiegte, und das war schon Grund genug, um nicht über sie herzufallen und sie dadurch noch unglücklicher zu machen, wie es nicht wenige Westdeutsche taten. Kritisch reagierte der Ritter nur, wenn er auf stramme Parteigenossen stieß, die sich weiterhin mit dem System identifizierten und ihm nachtrauerten, sei es aus Überzeugung oder weil sie von ihm profitiert hatten“. Bis hier Don Quijote. Ich frage mich in diesem Zusammenhang und frage darüber hinaus alle hier Versammelten: Ist es nicht Strafe genug, irgendwann feststellen zu müssen, daß man im Dienste einer falschen Sache stand? Hier wäre es naheliegend, sich auf das christliche Gebot der Barmherzigkeit oder des Erbarmens zu beziehen, und ich tue es auch ausdrücklich, zumal die erste Phase der Wiedervereinigung unter der Ägide einer sich christlich nennenden Partei erfolgte. Aber ich möchte in diesem Kontext in Erinnerung bringen, was zwei atheistische Humanisten wie Albert Camus und Jean-Paul Sartre über Sieg und Niederlage dachten. In seinem autobiographischen, „post mortem“ veröffentlichten Buch „Le premier homme“ schrieb Camus: „...puisque vencre un homme est aussi amer que d’ etre vaincu“, „denn einen Menschen zu besiegen ist genauso bitter wie besiegt zu werden“. Und nichts anderes meinte der junge Jean-Paul Sartre, als er in „La Nausee“ sagte: „Seul les salauds croient gagner“, „Nur die Lumpen glauben zu gewinnen“. Wie schön, wohltuend und fruchtbar für beide Teile Deutschlands wäre es gewesen, wenn die Demiurgen der Einheit dem Beispiel einer solchen Seelengröße gefolgt wären, anstatt auf die schäbige Karte der Bestrafung und der Vergeltung zu setzen.


Der Glaube, daß mit dem Abbau der Mauer ein verheißungsvolles Kapitel gesamtdeutscher Geschichte beginnen würde, erwies sich sehr bald als Wunschdenken

Es gab nicht einmal einen Dialog, gerade das Urelement jener Demokratie, auf die sich die westdeutschen Machtträger beriefen, um ihre Handlungsweise zu legitimieren. Die Ostdeutschen wurden von vornherein als die Schuldigen betrachtet, die Verantwortlichen des SED-Regimes. Und man weiß ja, daß der Umgang, den man mit Schuldigen pflegt, nicht das Gespräch, sondern einzig und allein die Anklage und der Befehl ist. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen: waren alle Schuldige und böse Menschen, die 2,3 Millionen SED-Mitglieder, alle vulgäre Opportunisten und Karrieremacher, die nur aus niedrigen Beweggründen und instrumentellen Überlegungen mitmachten? Gab es unter ihnen keine bona fide, keinen selbstlosen Idealismus, kein uneigennütziges Engagement? Niemand kann diese Frage beantworten, auch nicht diejenigen, die meinen, eine Antwort darauf zu haben. Ich habe in den letzten fünfzehn Jahren Gelegenheit gehabt, viele damalige Parteigenossen und Aktivisten kennen zu lernen, und ich hatte in der Regel nicht unbedingt den Eindruck, daß sie schlechtere Menschen waren, als die, die im Westen sich rühmten, „saubere Hände“ zu haben. Es ist es ein Delikt, anders zu denken als es die hegemoniale Ideologie zuläßt oder vorschreibt? Ich halte mich in dieser Beziehung an Rosa Luxemburg: „Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“, auch dann, wenn der Andersdenkende das Gegenteil von mir denkt. Gerechte Menschen in reinem Zustand gibt es nicht, hat es nie gegeben. Nicht nur in der Brust von Goethes „Faust“ wohnten zwei Seelen. Auch der beste Mensch hat einen Teil Negatives, schleppt viele Deformationen und Widersprüche mit sich herum. Gerade auf Grund unserer Unvollkommenheit müssen wir auf der Hut vor Selbstgerechtigkeit und Selbstüberhebung sein. Das trifft für alle Menschen zu, auch für Ost- und Westdeutsche. Gutes und Böses, Edles und Niederträchtiges gab und gibt es auf beiden Seiten. Nur die Umstände waren anders. Die Westdeutschen lebten gewiß in einem freieren System als die Ostdeutschen, aber dies war nicht unbedingt ihr eigener Verdienst; sie verdankten es vielmehr dem Glück, unter dem Kommando einer anderen Besatzungsmacht gestanden zu haben.

Der Glaube, daß mit dem Abbau der Mauer ein verheißungsvolles Kapitel gesamtdeutscher Geschichte beginnen würde, hat sich nicht erfüllt, erwies sich sehr bald als Wunschdenken. Was jetzt herrscht, sind Verdruß und Ratlosigkeit auf beiden Seiten. In gewissem Sinn war man sich näher in der Zeit der Trennung als nach der Wiederherstellung der politischen Einheit. Aus den einstigen Brüdern und Schwestern sind entfremdete, ja fast verfeindete Verwandte geworden, während sich die ungelösten Probleme in beängstigendem Ausmaß stapeln. Wieder einmal sind die Deutschen Opfer jenes Übels, unter dem schon Hölderlin litt: „Ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen“, wie er in seinem „Hyperion“ schrieb.

Die Entwicklung der neu formierten Nation ist bisher ganz anders verlaufen, als es sich die Vollender der Wiedervereinigung vorgestellt hatten. Die westdeutschen Machtträger, die von Beginn an alles besser wußten und den neuen Bundesländern Lektionen auf praktisch allen Ebenen erteilten, schafften es nicht, ihre Versprechungen von „blühenden Landschaften“ und ähnlich flotten Sprüchen in die Tat umzusetzen. Nicht zuletzt deshalb mußten sie die Regierungsmacht aufgeben. Aber auch ihre Nachfolger haben es versäumt, die miserable Lage zu beheben, in der sich der Osten befindet. Es sind nicht nur der unterschiedliche Lebensstandard, die Massenarbeitslosigkeit und andere materielle Nachteile, die die Ostdeutschen schmerzen. Fast noch schwerer für sie zu ertragen ist das Gefühl, daß sie nicht Subjekt ihres eigenen Schicksals, sondern bloß Objekt westdeutscher Politik sind.

„Wir sind nicht in guter Verfassung, obwohl wir eine gute Verfassung haben“, stellte Daniela Dahn 1999 in einem ihrer Bücher über das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland fest. Drei Jahre später präzisierte sie: „Die politische Vereinigung Deutschlands hat die ökonomische Spaltung vertieft. Die neuen Bundesländer sind heute viel weniger in der Lage, sich selbst zu versorgen, viel verschuldeter und bankrotter, als es die DDR je war“. Daran hat sich nichts geändert, und wenn, dann eher in negativem Sinn. Die Bundesrepublik ist selbstverständlich nicht das einzige Land, das sich in keiner guten Verfassung befindet, sondern nur eines unter vielen, angefangen bei den USA, der Führungsmacht der Welt, die den Anspruch erhebt, die Schlüssel für alle Weltprobleme zu haben, und nicht einmal in der Lage ist, einen beträchtlichen Teil ihrer eigenen Bevölkerung zu ernähren und ihm ein halbwegs würdiges Dasein zu gewährleisten, von anderen Mißständen und Schweinereien wie den Aggressionskriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak ganz zu schweigen. Die Entfremdung zwischen beiden Teilen Deutschlands ist innerdeutscher Natur, die Probleme Gesamtdeutschlands sind aber nicht von dem beklagenswerten Zustand zu trennen, in dem sich die Welt als Ganzes befindet. In gewissem Sinn ist die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland ein kleines Symbol der tiefabgründigen Kluft, die weltweit zwischen dem mächtigen Imperium Nord und den wehrlosen Parias der Erde besteht. Vergessen wir nicht, daß die fünfzehn Jahre Wiedervereinigung auch die Jahre des deregulierten und wilden Kapitalismus in voller Blüte, die wirtschaftliche Krise in Permanenz, die neue Armut, die Massenarbeitslosigkeit, der Sozialabbau, die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, das immer brutaler und unverschämter werdende Diktat des Weltkapitals bei gleichzeitiger Schwächung der Gewerkschaften und der emanzipatorischen und anti-systemischen Kräfte im allgemeinen gewesen sind. Nur ein statistischer Hinweis: Anfang der 90er Jahre hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund fast 12 Millionen Mitglieder, heute sind es nur noch sieben Millionen. Und anderswo ist es nicht besser, eher im Gegenteil. In den USA, der führenden Industrienation der Welt, sind nur rund 13 Prozent der Beschäftigen gewerkschaftlich organisiert.

Die Bundesrepublik sieht sich mit Problemen konfrontiert, die exogenen, d.h. außenbedingten Ursprungs, aber auch mit solchen, die endogener bzw. eigenspezifischer Natur sind. Zu erwähnen wäre hierfür der Zustand der politischen Kultur, der nicht weniger beklagenswert ist als der Zustand der Wirtschaft. Was sowohl die regierenden Parteien wie die staatstragende Opposition dem Volk anbieten und zumuten, wird immer deprimierender und erbärmlicher, als hätten sie unisono den Beschluß gefaßt, sich gegenseitig an Inkompetenz, Doppelzüngigkeit, Verantwortungslosigkeit und Zynismus zu übertreffen. Tatsache ist: Unter der rot-grünen Bundesregierung verringerte sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht etwa, wie von Parteien zu erwarten gewesen wäre, die sich als volksnah, fortschrittlich und sozialgerecht aufspielen, sondern vergrößert. Nach Erhebungen des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung lebten 2003 rund 15,3 Prozent der Bevölkerung in Armut. 1998 waren es 13 Prozent. Dagegen stieg der Anteil der Haushalte mit höherem und gehobenem Einkommen im gleichen Zeitraum von 17,9 auf 19,4 Prozent. Und seit dem Regierungswechsel zugunsten der Großen Koalition unter Frau Merkel sind die Armen auch nicht reicher und die Reichen nicht gerade ärmer geworden. Die politische Kaste ist allerdings nicht die einzige Führungsschicht, die das Volk, statt für sein Wohl zu sorgen, zunehmend im Stich läßt. Ähnlich verhält sich die Wirtschaftsoligarchie, unter anderem deshalb, weil sie ein Gebot der gesellschafüichen Verantwortung nicht kennt, nur nach dem Prinzip der Profitmaximierung handelt, die Arbeiternehmer mit immer mehr Forderungen unter Druck setzt, ihnen mit Entlassungen droht oder sie mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland erpreßt. An die von der UNO und anderen Instanzen empfohlene „Corporate Social Responsability“ (CSR) halten sich Konzerne und Unternehmen immer weniger; was die meisten praktizieren ist das, was vor einigen Jahren Viviane Forrester „la terreur economique“ nannte. Josef Ackermann von der Deutschen Bank ist ein Paradebeispiel dieser Haltung.


Nicht das Reich des Seins, sondern das Reich des Habens in seinen verschiedenartigen Varianten hat die Oberhand gewonnen

Und wie reagiert der Bundessbürger angesichts dieser und anderer Zumutungen wie Hartz IV? Er reagiert kaum, oder nur halbherzig und für kurze Zeit. Auch sechzig Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs und der Naziherrschaft ist der Deutsche der unpolitische Mensch geblieben, den Thomas Mann in seinem Frühwerk „Betrachtungen eines Unpolitischen“ paradigmatisch beschrieb. Und erstaunlicherweise sind die Westdeutschen staatsbürgerlich noch apathischer und konformistischer als die Ostdeutschen, obwohl sie, im Gegensatz zu diesen, seit 1948 das Recht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit hatten. Der Durchschnittsdeutsche ist grundsätzlich ein Mensch der Innerlichkeit geblieben, für die Belange der respublica hat er in der Regel wenig übrig. Nicht zuletzt deshalb haben die Führungsschichten in diesem Lande ein so leichtes Spiel gehabt, und sie haben es auch heute. Das Defizit an staatsbürgerlichem Bewußtsein ist meines Erachtens weiterhin die Achillesferse dieses Volkes. Jene „Ausübung des Ungehorsams“, die mein verstorbener Freund Ulrich Sonnemann seinen Landsleuten gegen die Arroganz der Macht empfahl, hat wenig Wurzeln geschlagen. Nach wie vor ist „civil desobedience“ hierzulande die Ausnahme. Noch heute kann man die Spuren erkennen, die jahrhundertlanger Obrigkeitsstaat und Drill in der Psyche dieses Volkes hinterlassen haben. Oder wie ein russischer Offizier, der in der DDR stationiert war, dem ostdeutschen Autor Landolf Scherzer sagte: „Die Deutschen sind nur als Soldaten mutig! Als Zivilisten können sie nicht kämpfen, da ducken sie sich vor der Obrigkeit, ob vor der faschistischen, der sowjetischen oder der neuen sogenannten demokratischen“. Gerade hier haben die Deutschen viel nachzuholen. Ihnen fehlt noch weitgehend, was Montesquieu „vertu politique“ nannte, gerade jene Eigenschaft, die für eine halbwegs sinnvolle und fruchtbare Entwicklung eines demokratischen Staats- und Gemeinwesens unverzichtbar ist.

Politisches Desinteresse ist allerdings keine ausschließlich deutsche, sondern eine weit verbreitete Erscheinung, auch in Ländern, die sich ihrer nonkonformistischen, aufbegehrenden Tradition rühmen. Nicht von ungefähr heißt eines meiner deutschen Bücher „Das Elend des Politischen“. In gewissem Sinn sind spätkapitalistische Ordnung und Anpassung um jeden Preis Zwillingsschwestern geworden. Deshalb wird Widerstand gegen die täglich erlebte Negation immer seltener und schwächer. Was sich durchgesetzt hat, ist eine Demokratie ohne aktive Demokraten. Wir sind wieder in die Zeit des panem et circenses zurückgefallen, nur daß es heute mehr Zirkus als Brot gibt. In den flotten Jahren des „Wohlstand für alle“ und der „Gesellschaft im Überfluß“ verhielt man sich brav, weil man alles in allem zufrieden war, heute aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. Das abendländische Subjekt, das sich auf dem Weg neoliberaler Globalisierung vorgenommen hat, die Welt zum zweiten Mal zu kolonisieren, ist daheim selbst ein kolonisiertes Subjekt. Im Ganzen ist man ein zahmes, domestiziertes Tier geworden. Und die ersten, die das wissen, sind die großen Bosse; deshalb werden sie immer arroganter und unverschämter.

Ich frage mich entsprechend, ob die Bundesrepublik und mit ihr die ganze westliche Welt so frei ist, wue sie sich einbildet und behauptet. Viele glauben es, ich meinerseits bin der Ansicht, daß wir einen tief unfreiheitlichen Abschnitt der Weltgeschichte erleben. Oder sind die totale Herrschaft des Kapitals und die Verabsolutierung des Profitdenkens nicht eine Modalität der Unfreiheit? Hatte Herbert Marcuse Unrecht, als er in seinem Werk „Der eindimensionale Mensch“ das im Westen herrschende System als „demokratische Unfreiheit“ bezeichnete? Der Mensch ist nur frei, wenn er es gemeinsam mit seinen Mitmenschen schafft, ein Lebens- und Gesellschaftsmodell auf die Beine zu bringen, das im Dienste des Humanen und des Gerechten steht. Eine Gesellschaft, die kein anderes Gesetz als das brutale, pietätlose Gesetz des Hobbesschen Kriegs aller gegen alle kennt, ist meines Erachtens das gerade Gegenteil einer freien Gesellschaft. Und das ist heute genau der Fall. Denn wohin wir auch die Augen richten, sehen wir denselben erbarmungslosen „Struggle for Life“, dieselbe hemmungslose Jagd nach Macht und Geld, denselben Egoismus und dieselbe Ausgrenzung und Demütigung der „Verdammten dieser Erde“. Nicht das Reich des Seins, sondern das Reich des Habens in seinen verschiedenartigen Varianten hat die Oberhand gewonnen. Freiheit ist weit mehr als das Recht, in bestimmten Abständen an die Urnen zu gehen und bei der Wahl der jeweiligen politischen Machtträger mitentscheiden zu dürfen. Sie schließt auch das Recht auf ein würdiges Dasein, auf einen sicheren Arbeitsplatz, auf ein ausreichendes Einkommen und auf ein Mindestmaß an Glück ein. Diese Ziele erfordern allerdings ein ethisches Niveau, das in der heutigen Welt nirgends existiert. Die Verfassung eines Gemeinwesens hängt immer von der inneren oder seelischen Verfassung seiner Mitglieder ab. Das ist die Grundlehre, die Platon und sein Schüler Aristoteles uns vermittelt haben. Obwohl beinahe 2.500 Jahre alt, gilt diese Lehre nach wie vor. Von einer politisch-ethischen Dimension im Zusammenhang mit dem Raubtier-Kapitalismus der Gegenwart zu sprechen, ist eine eklatante contradictio in adjecto, schon deshalb, weil die ganze gesellschaftliche Dynamik unter dem allumfassenden und alles durchdringenden Diktat der Ökonomie steht und keine andere Wahrheit zuläßt als das Kosten-Nutzen-Kalkül. Wie kann eine Gesellschaft frei sein, die die Kategorie des Nächsten eliminiert und sie durch den „Imperialismus des Ichs“ ersetzt hat? Was das System und ihm hörige Medien als Freiheit propagieren, ist Ideologie, nicht die Wahrheit. Das Bestehende ist weder das Wahre noch das Vernünftige, sondern das Unwahre und Irrationale, deshalb auch das Unfreie. Was man heute Pluralismus nennt, ist nur ein anderes Wort für die Abwesenheit allgemeingültiger und allgemeinbindender ethischer Kriterien. Nach wie vor leben wir in einer Welt, die auf der Grundlage der Herrschaft des Menschen über den Menschen aufgebaut ist. Dies zu verleugnen, wie es die Apologeten des Status quo tun, ist der erste Akt der Unfreiheit. „Frei und verantwortlich ist nur der moralische Mensch“ meinte der US-amerikanische Philosoph John Dewey in seinen „Lectures on ethics“. Er tat freilich nichts anderes, als das zu wiederholen, was die großen Denker und Erzieher der Menschheit immer gelehrt haben, unter ihnen Spinoza, der wahre Freiheit als den Willen zur geistigen und menschlichen Vervollkommnung auffaßte, ein Anliegen, das sich wiederum und an erster Stelle im Umgang mit unseren Mitmenschen bewahren muß. Das gängige Streben nach Selbstverwirklichung hat sich entsozialisiert und von jeglicher zwischenmenschlichen und kollektiven Dimension abgekoppelt. Das einzige, was zählt, ist das, was MacPherson „possessiven Individualismus“ nannte und die postmodeme Theorie als „Differenz“ oder „Singularität“ versteht, also nichts anderes als das, was Norbert Elias zutreffend als „wirloses Ich“ bezeichnete. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Einzelnen gegenseitig abkapseln und nur an ihr eigenes Wohlergehen denken. Es fehlt die Religio in ihrem ursprünglichen etymologischen Sinn, als Bindung an den anderen. Dies ist auch die wahre „Irreligiosität“, die sich nach dem von Nietzsche verkündeten Tod Gottes durchgesetzt hat: der Tod der zwischenmenschlichen Banden. Für mich steht aber fest, daß ohne die Einbeziehung der anderen in unseren Daseinsbereich keine Selbstverwirklichung möglich ist, die diesen Namen verdient. Hier stimme ich mit der Ansicht Emmanuel Levinas überein, daß unser Sein nicht „Sein zum Tode“ ist, wie Heidegger meinte, sondern „Sein zum Anderen“. Die heute weit verbreitete Gleichsetzung von Selbstverwirklichung und Ich-Expansion führt unweigerlich und ausnahmslos zur Ausweglosigkeit oder Aporie, wie dieses Wort auf griechisch heißt. Wir Abendländer prahlen ständig mit unserem materiellen Reichtum und vergessen dabei, daß wir in immaterieller Hinsicht immer ärmer werden und uns in tiefster Not befinden, wie der akute Mangel an Humanität, Güte, Solidarität, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit beweist.

Ich komme zum Schluß. Es war nicht meine Absicht, Sie mit meinen kritischen und teilweise düsteren Ausführungen zu entmutigen. Das ist keineswegs der Fall, es würde auch nicht zu meiner donquijotischen Gesinnung passen. Aber sich selbst wahrzunehmen bedeutet heute an erster Stelle, sich des krassen Mißverhältnisses bewußt zu werden, das zwischen dem eigenen Selbst und dem Weltganzen besteht. Alles andere ist totale Verkennung unserer wahren Befindlichkeit. Aber ich füge hinzu: solange wir unsere prekäre Lage nicht zugeben und uns Illusionen über sie machen, wird es uns auch nicht gelingen, uns gegen die Übermacht zur Wehr zu setzen, die uns erdrückt - und darauf kommt es letztendlich an. Sich für bestimmte Werte einzusetzen, ist nie sinn- und nutzlos, auch dann nicht, wenn wir dadurch weniger erreichen, als uns lieb wäre. Wir müssen tagtäglich lernen, auch und gerade unter ungünstigen Bedingungen uns dem Kampf für eine humanere und gerechtere Welt zu stellen. Ich schließe deshalb meine Ausführungen mit den Worten, die der längst vergessene, aber große katholische Schriftsteller Reinhold Schneider in seinem Werk „Briefe an einen Freund“ schrieb: „Und so müssen wir das Bestehende einfach aufnehmen als den Schauplatz unserer Bewährung; wie groß auch die Macht des Unrechts sein mag, so ist doch immer eine Möglichkeit, für das Recht zu leben“.

Aus: »Würde und Widerstand. Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt Essays, Vorträge, Kontroversen«. PapyRossa Verlag, Köln 2007. 232 Seiten 18,– Euro

   

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