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Franz Schandl: Was ersparen wir uns, wenn es kein Geld mehr gibt
Der Großteil der wirtschaftlichen Tätigkeit
hat mit Produktion und Dienstleistung nichts zu tun, er folgt ausschließlich
geschäftlichen = monetären Erfordernissen. Der Großteil
der Arbeit gehorcht nicht nur der Geldreligion, er gehört selbst
dem Religionsdienst an. Rechnungen sind Gebetszettel und Bilanzen
sind Gebetsbücher dieser seltsamen aber militanten Kommunikationsform.
Denn um Brot oder Kuchen zu produzieren, brauchen
wir kein Geld, wir brauchen Mehl, Wasser, Zucker, Milch Butter,
Nüsse, vielleicht Safran. Nicht so im Kapitalismus. Da ist
die Kostenfrage unumgänglich, auch wenn kein Gramm des Geldes
in den Stoff einzudringen versteht. Kurzum: Wirklich wird nicht,
was möglich ist, real wird erst das, was bezahlbar ist. Der
Kosmos der Wirtschaft sind nicht Menschen und deren Bedürfnisse,
sondern folgt der Logik von Geld und Ware.
Was wir beobachten ist die Dichte, ja zunehmenden
Verdichtung der Matrix diverser Beschäftigungen, die ausschließlich
oder größtenteils nur um des Geldes Willen verrichtet
werden müssen. Sie machen nur Sinn im Sinne der permanenten
Kostenrechnung und haben sich aufgebläht wie eine Blase, der
wir Muskel, Nerv und Hirn zuführen, obwohl alle diese Leistungen
weder gegessen, getrunken, geschmeckt, gefahren, gesorgt werden
können.
Zahlenkolonnen und Daten, Tabellen und Statistiken,
Kurven und Kurse, das erscheint als objektiviertes Material ökonomischer
Sachverhaltes. Dies alles türmt sich vor uns auf. Mit dem leben
wir, tagtäglich verfolgt es uns, wenngleich wir es als gegeben
hinnehmen. Wir, die Geldsubjekte haben nichts anderes gelernt. Fast
alles, was wir tun, endet in einer Rechnung, entweder sollen wir
zahlen oder wollen bezahlt werden.
In der Wirtschaft geht es nicht um das Brot und den
Pudding, um Tomaten und Schuhe, um Kühlschränke und Badeausflüge,
es geht um das Geschäft: jedes Vorhaben muss nach seinen Kosten
fragen, es geht um Geld, um Löhne und Preise, um Renten und
Profite. Zwischen Wie komme ich durch? bis Wie zocke ich ab? - vor
dem Hintergrund dieser beiden Extrembeispiele gibt es eine bereite
Palette geschäftlichen Lebens. Unser aller Leben ist durch
das Geschäft okkupiert. Die Frage ist also nicht: wie kommt
jemanden etwas zu, sondern stets was kann sich jemand leisten? Welcher
Kauf geht sich aus, welcher Verkauf kann sich rechnen? Wie Dienstboten
des Geldes laufen wir durch die Gegend.
Geldverrichtung meint Zeitvernichtung. Der Unnötigkeiten
sind viele: Zahlung, Rechnung, Kontrolle, Kontoführung, Buchhaltung,
Besteuerung, Bezuschussung, Bewerbung - wir stecken im Geldverkehr,
er ist der eigentliche Stoffwechsel, obwohl er diesem doch nur dienen
soll.
Rechnungen der Zukunft haben Rechnungen über
Materialien und Dienste zu sein, nicht über Kosten derselben.
„Denken wir uns die Gesellschaft nicht kapitalistisch, sondern
kommunistisch, so fällt zunächst das Geldkapital ganz
fort, also auch die Verkleidungen der Transaktionen, die durch es
hineinkommen. Die Sache reduziert sich einfach darauf, dass die
Gesellschaft im voraus berechnen muss, wie viel Arbeit, Produktionsmittel
und Lebensmittel sie ohne irgendwelchen Abbruch auf Geschäftszweige
verwenden kann, die, wie Bau von Eisenbahnen z.B. für längere
Zeit, ein Jahr oder mehr, weder Produktionsmittel noch Lebensmittel,
noch irgendeinen Nutzeffekt liefern, aber wohl Arbeit, Produktionsmittel
und Lebensmittel der jährlichen Gesamtproduktion entziehn.
In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen, wo der gesellschaftliche
Verstand sich immer erst post festum geltend macht, können
und müssen so beständig große Schwierigkeiten eintreten.“
(Karl Marx. MEW 24:316-317)
Die Liste fulminanter Abschaffungen und Reduzierungen
wäre jedenfalls eine lange. Das hätte weitreichende Folgen:
Exemplarisch würde der Energieverbrauch (Erdöl/Erdgas/Strom)
sinken, ebenso der Konsum an Pharmazeutika. Und wenn der Mobilitätszwang
fiele, gingen die Verkehrsunfälle sukzessive zurück, das
hieße wiederum weniger Chirurgen und weniger Rehabilitationen.
Weniger Flugkilometer bedeuten weniger Lärm, weniger Abgase,
weniger Klimaerwärmung. Und so weiter und so fort.
Wir wollen also die Leute um ihre Jobs bringen? Genau
das!! Durch ein Transformationsprogramm eminenter Abschaffungen
oder großer Freisetzungen könnten in einigen Durchgängen
wahrscheinlich mehr als drei Viertel der Arbeiten einfach eingespart
und entsorgt werden, ohne dass wir etwas verlieren. Einerseits würde
viel Kraft und Energie für die Individuen frei werden, andererseits
würden die Belastungen von Mensch und Umwelt abnehmen. Der
von diversen Schwachsinnigkeiten befreite Alltag wäre dann
tatsächlich ein anderer.
Die große Freisetzung wäre eine Befreiung
der Menschen eine Entlastung der Natur. Sie würde die soziale
und die ökologische Misere lösen. Vor allem wäre
sie aber auch der große Schritt vom Disponiert-Werden zum
Disponieren, vom Passiv zum Aktiv. Unser Möglichkeiten sind
aus zwei Gründen heute immens eingeschränkt, erstens weil
jedes Anliegen der Zahlung bedarf und zweitens dafür jede Unmenge
von Arbeit und Zeit in Anspruch genommen wird. Weniger übrigens
was die Herstellung und Verteilung betrifft als der Aufwand, den
der Fetischdienst erfordert. Wir leben in einer finsteren Periode
der vom Geld- und Warenfetisch beschlagnahmten Zeit.
Die gemeinsamen Verbindlichkeiten hätten ein
viel geringeres Pensum. Unser Leben wäre nicht mehr von Pflicht
geprägt und umstellt, wenngleich einigen Aufgaben schon nachgekommen
werden sollte. Unserer Möglichkeiten wären aber gänzlich
andere, denn sie würden nicht mehr schlicht an der beschlagnahmten
Zeit scheitern. Man müsste nicht mehr Geld verdienen, also
(und die Sprache verrät es) dem Geld dienen. Auch dieses Hetzen
und Stressen, dieses geschäftige Getue, dieses ständige
von Termin zu Termin eilen wäre over.
Die letzte These lautet nun, dass wir, die bürgerlichen
Subjekte, aufgrund unserer gesellschaftlichen Situation, den Großteil
des Lebens eigentlich versäumen, dass das Leben, vor allem
das gute Leben sich gegenwärtig nur in Nischen entfalten kann.
Die große Freisetzung könnte nun das versäumte Leben
in das gute Leben überführen. Wir ersparen uns das Leben
zu versäumen. Es gäbe endlich die Möglichkeit, sich
zu seinem Leben emotional und geistig reflektiert und nicht bloß
reflexartig und affektiert zu verhalten. Vor allem müssten
wir dann nicht dauernd ans Geld denken und in seinem Sinne, also
für das Geld zu handeln. Die Zwangsanbeterei des Fetischs („Wir
wollen weil müssen dich haben“) wäre Geschichte.
***
Karl Feldkamp: Unerkennbare Rechtsabbieger
Als Teilnehmer des öffentlichen Straßenverkehrs
fällt nicht nur mir in den letzten Jahren immer häufiger
auf, dass viele Autofahrer es nicht mehr für nötig erachten,
beim Abbiegen jenes Signal zu geben, das zumeist aufwendig designte
Blinkleuchten rund um ihr Fahrzeug ermöglichen. Einfach ausgedrückt:
Jene blinken nicht, wenn Sie abbiegen wollen.
Selbst Fahrer von Nobelkarossen, die sich dadurch
als Person und mit ihrem überteuren Auto fahrlässig in
Unfallgefahr begeben, verzichten darauf. Sie gefährden durch
diese Unterlassung nicht nur sich, sondern natürlich auch andere
Verkehrsteilnehmer, die raten müssen, wohin die Fahrt wohl
gehen könnte.
Die schwer auszumachende politische Richtung
Auch in Politik und Gesellschaft wird es offenbar
schwieriger, die weltanschaulich-politische Richtung gewisser deutscher
Bundesbürger eindeutig auszumachen.
Waren einst Glatzen, Bomberjacken, Springerstiefel
und Heil-Gebrüll unverwechselbares Richtungszeichen, neigen
Rechte und Rechtsradikale heute zu wesentlich leiseren Tönen
und tarnen sich mit unauffällig legerer Freizeitkleidung, mit
Nadelstreifenanzügen oder gar mit Accessoires der Linken.
Nun verkleiden sich allerdings nicht unbedingt jene,
die einst uniformiert und mit eindeutigen Kurz- oder Nichthaarfrisuren
auftraten. Nein, es gibt offenbar inzwischen eine intellektuellere
Abart rechter Denkweise, die in gehobeneren Gesellschaftskreisen
um sich zu greifen scheint.
Gerade vor und nach den letzten Kommunal- und Europa-Wahlen
beeinflusst, so lässt sich vermuten, die Angst vor Fremden,
aber besonders vor Geld- und Besitzverlust nachhaltig ehemals vermeintlich
differenziertere Denker.
Das einstige Problem eher bildungsferner europäischer
Bürger macht sich mit vordergründig einsehbaren finanziellen
und wirtschaftlichen Erklärungen immer häufiger auf den
Weg ins verlustangstbesetzte Bildungs- und Besitzbürgertum.
Blicke durch den Angsttunnel, so erscheint es mir,
verringern den Horizont sowie die Umsichtigkeit und beschränken
damit die Vielfalt der denkbaren weniger von Angst gelenkten Möglichkeiten.
Europa den Europäern – aber nicht den Armen
So lautet das neue Credo jener vermeintlich gebildeten
Angstbesetzten: Europa den Europäern, aber bitte nicht denen
der ärmeren europäischen Nachbarstaaten. Und selbstverständlich
schon gar nicht den armen und damit extrem habgierigen potentiellen
Migranten.
Habgierig sind wir schließlich selbst. Allerdings
wollen wir besseren Deutschen - zum Beispiel - ganz und gar rechtmäßig
nur das behalten, was ohnehin in unserem Besitz ist, selbst wenn
wir es nicht immer mit moralisch zu rechtfertigenden Mitteln erworben
haben.
Wer - wie wir - tatsächlich etwas von Wachstum,
Wirtschaft und Konjunktur versteht, der kann Europa doch nicht gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Verlieren überlassen.
Lieber die ungetarnten Neonazis
Sollten sich die heimlichen Rechtsabbieger weiterhin,
ohne den Richtungsanzeiger zu bedienen, durch Gesellschaft und Politik
schlängeln, werden sich Zusammenstöße mit jenen
kaum vermeiden lassen, die immer noch an die moralische Gradlinigkeit
gewisser Eliten glauben. Manche werden ihnen, da sie derart seriös
daherkommen, sogar blind folgen.
Da sind mir die ungetarnten neonazistischen Marschierer
fast lieber als jene aus der Mitte nach rechts außen schleichenden
vermeintlichen Bildungsbürger…
***
Peter Paul Wiplinger: HASLACH – auf
den Spuren der Erinnerung
Heute, am 15. März 1999, kommt mir beim Aufwachen
der Gedanke: Ich sollte an den Bürgermeister einen Brief schreiben.
Ich sollte ihn ersuchen, mir die Chronik von Haslach zu schicken,
jenes Buch, das eine mir unbekannte Historikerin, schon vor einiger
Zeit, wahrscheinlich über Auftrag und auf Beschluß des
Gemeinderates, über meinen Geburts- und Heimatort Haslach an
der Mühl verfaßt hat. Dieser Gedanke hat einen konkreten
Anlaß: Ich soll am 24. Juli im Rahmen des diesjährigen
Symposiums „Textile Kultur Haslach„ eine Autorenlesung
abhalten. Ich habe im Programm diesem Abend die Bezeichnung „Lebenszeichen„,
den Titel eines Gedichtbandes von mir, gegeben. Es wird meine erste
Lesung in meinem Heimatort (Frage: Entspricht dieses Wort noch der
Wahrheit oder ist es nur eine ungenaue, floskelhafte Benennung?)
sein; knapp nach meinem sechzigsten Geburtstag. Der Verein und die
Organisatoren haben mich zu dieser Lesung eingeladen; und ich bin
dankbar dafür. Lebenszeichen/Autorenlesung - steht im Programm.
Welchen Inhalt soll ich diesen Wörtern geben, damit sie stimmen;
damit mein Tun und Reden dem gerecht wird, vielleicht auch den Erwartungen
aufgrund dieser Bezeichnungen entspricht? Meine Lebenszeichen sind
meine Gedanken, meine Gedichte, nicht nur, aber doch auch; oder
vor allem. Sie sind Spuren, die zu mir hinführen; oder aus
mir heraus; die ich hinterlassen werde, noch für eine Weile;
nachher.
Aber was haben diese Lebenszeichen, diese Spuren mit
Haslach zu tun? Oder anders gefragt: Welche Zeichen aus Haslach
sind noch in mir; eingeritzt in meine Haut, in mein Gedächtnis,
in meine Erinnerung? Welche Spuren sind mir geblieben, sind noch
da in meinem Innern, in meinem Bewußtsein, in meinem Unterbewußtsein?
Irgendwo. Noch erkennbar, lesbar, begehbar; noch sichtbar und spürbar
- auch als Stigmatisierungen, als Verwundungen; ja, vorallem als
solche. Das weiß ich. So sind sie in mir. An manche erinnere
ich mich; und manche schmerzen bis heute; auch als offene, nie beantwortete
Fragen.
Woran denke ich, wenn ich an Haslach denke; zurückdenke,
muß ich richtigerweise sagen. Wohin führt mich dieser
Weg, zurück in die Vergangenheit? Die Antwort ist schnell gegeben:
in meine Kindheit. Bilder tauchen auf, meist ohne Sprache, sekundenschnell,
bruchstückhaft; wie in einem alten Schwarzweißfilm; wie
in einer Wochenschau von damals; meist ohne Ton. Mit seinen Beschädigungen
aus dem Lauf der Zeit, seinen Kratzern und Flecken, mit stellenweise
ausgebrochener Perforierung, so daß die Bilder plötzlich
schneller zu laufen beginnen, sich ihr Ablauf zu rasantem Tempo
steigert, bis man nichts mehr genau erkennen kann, kein einzelnes
Bild; bis alles nur mehr eine Stakkatoabfolge von Hell und Dunkel
ist. Und dann wird es licht im Saal. Und man ist wieder in der Erlebniswirklichkeit,
in der realen Welt. Ist so die Wiederbegegnung mit der Vergangenheit,
mit seiner eigenen, die verknüpft ist mit so vielem im Umfeld
- mit Gesichtern, Personen, Ereignissen der Zeit? Vergangenheit,
die einmal Gegenwart war, die noch immer irgendwie gegenwärtig
ist, bruchstückhaft, bildhaft; als Lebenszeichen.
Bilder, Gesichter, Geräusche, Stimmen, Worte,
Personen, Namen - plötzlich wieder da in meinem Gedächtnis;
ausgegraben aus dem Schutt der Vergangenheit; weggezogen die Decke
des Vergessens. Nachgedacht und nachgefragt auch immer wieder bis
unter die Schichten des gewollten Verschweigens, des zielbewußten
Verdrängens, des Sichherausnehmens aus dem Zusammenhang, aus
dem vielleicht eigenen, persönlichen Verstricktsein, aus der
anderen Zeit. Hell und Dunkel wechseln sich ab, vermischen sich,
so wie im Film. „Die dunkle Zeit„ hieß jenes Symposium
in Wien, an dem ich teilnahm. Gemeint war die Nazizeit. Jene Zeit,
die mit dem Umbruch hereingebrochen war und mit dem Zusammenbruch
geendet hatte; aber nicht für alle, nicht für jeden; nicht
überall in diesem Staat, in diesem Land, in diesem Österreich;
und auch nicht in diesem Haslach. Etwas war da oder dort, bei dem
oder jenem noch lebendig geblieben; überdauerte diesen Zusammenbruch,
der in dieser Hinsicht nicht vollständig und endgültig
genug war; diesen Zusammenbruch, der sich in einem Europa der Ruinen
von Städten und Menschen manifestierte. In der Zahl von mehr
als 55 Millionen Toten, von Millionen Ermordeten auch; diese nicht
in Folge des Krieges, sondern durch eine industrielle Tötungsmaschinerie
im Holocaust. Rassengesetze, Rassenvernichtung. Genozid. Nicht Krieg!
Darüber sprach man nicht. Das überging man.
Davon war nicht die Rede. Nicht in der Schule, nicht in der Kirche,
nicht in der Politik; in keiner Öffentlichkeit; nirgendwo.
Man tat, als hätte man nichts getan, nirgendwo mitgetan; als
sei man nicht Täter, sondern selber nur Opfer. Von den wirklichen
Opfern, von jenen, die überlebt hatten, irgendwo im Exil oder
anderswo, sprach man nicht. Ich weiß nicht mehr, wann ich
zum ersten Mal jenes Wort hörte, das nur aus dem Kürzel
zweier Buchstaben besteht, aber der Inbegriff dessen war und ist,
was an Grauenhaftigkeit der Mensch je hervorgebracht hat, bezeichnet
mit dem Wort „KZ„. Aber ich kann mich erinnern, daß
mit dem Auftauchen dieses Wortes da oder dort sogleich die Beteuerung,
die als Entschuldigung gelten sollte, verbunden war und die da lautete:
„Davon haben wir nichts gewußt! Niemand hat etwas davon
gewußt.„ - Also auch nicht die, dachte ich damals schon
bitter, welche jene Hunderttausende, ja Millionen Verfolgter eingesammelt,
registriert, in Züge gestopft, quer durch Europa verschleppt,
an berüchtigten Laderampen selektiert und dann vergast haben.
Oder sie in Mauthausen, einem Ort des Schreckens und des Todes,
hier im Mühlviertel, in die Steinbrüche getrieben, dort
durch Zwangsarbeit und unmenschliche Lagerbedingungen ermordet haben.
Und auch jene Wehrmachtsangehörigen und solche von Eliteeinheiten
wie der Waffen-SS haben nichts gewußt von der Erschießung
Tausender hinter der Front bei sogenannten Säuberungsaktionen.
Nur die Fotos - Soldaten neben den Erhängten - fand man später
da oder dort; und Dokumentarfilme. Und heute gibt es anstatt Scham
und Schuldeingeständnis den Protest der Wehrmachtsverbände,
des Kameradschaftsbundes, gegen die Ausstellung „Die Verbrechen
der Wehrmacht„. Und ein österreichischer Politiker, Parteivorsitzender,
Führer wieder einer so genannten Bewegung, sprach im Kärntner
Landtag von der „Ordentlichen Beschäftigungspolitik im
Dritten Reich„ und bezeichnete in einer Rede in Krumpendorf
die beim Nürnberger Prozesse als Nazi-Verbrecherbande eingestufte
Waffen-SS als vorbildhafte „Wertegemeinschaft„. Und
die 1938 an Adolf Hitler verliehene Ehrenbürgerschaft von Haslach
wurde bis heute nicht wie verlangt durch einen Formalakt eines Gemeinderatsbeschlusses
gelöscht. „Wir haben andere Sorgen,„ sagte der
damalige Bürgermeister.
Auch die Opfer sprachen nicht gleich; manche erst
beim Nürnberger Prozeß oder beim Eichmann-Prozeß;
oder bei einem anderen. In Haslach gab es jemanden, ein Opfer, das
nicht und nie mehr sprach, weder darüber noch überhaupt.
Die Frau hatte die Sprache verloren. In einem KZ, sagte man. Genaueres
wußte man nicht, wollte man auch gar nicht wissen; und hätte
man es gewußt, so hätte man nicht darüber geredet.
„Aus Rücksichtnahme auf sie„, wie manche voll unüberbietbarem
Zynismus und voller Perfidie meinten und sagten. Ich habe auch nicht
mit ihr gesprochen; habe mich nicht getraut. Ich kann mich aber
noch gut an sie erinnern: wie sie dastand, in einer Männerkluft,
mit derben Hosen und Stiefeln und einer alten Jacke; wie sie dastand
auf der Baustelle bei der Mischmaschine, beim Löschkalktrog,
vollgespritzt, mit dem ätzenden Weiß im Gesicht, und
wie sie schweigend Schaufel um Schaufel Sand und Kalk oder Zement
in die Mischmaschine hineinschaufelte, den fertigen Mörtel
in einen Kübel leerte, diesen am Seil eines kleinen Rollenaufzuges
befestigte und hinaufzog bis zu den Händen, die sich dem Kübel
aus einem Gerüst entgegenstreckten. Immer haben sich diese
Menschenhände ihren Kübeln entgegengestreckt, ihrer Arbeit,
ihr selber aber nie. Wie hieß doch gleich jene Frau, jenes
„Mannweib„, wie sie sagten, wie hieß sie nur?
Und wo haben sich ihre Spuren verloren? In meinem Gedächtnis
ist sie noch. Dort habe ich ihr ein Denkmal gesetzt; ganz bewußt.
Aber geredet habe auch ich nicht mit ihr; warum nicht? Aus Scheu
oder aus Scham? Ich weiß es nicht. Ich empfinde es aber heute
als ein Versäumnis.
Einer anderen Person aus Haslach habe ich ebenfalls
ein kleines Denkmal gesetzt; nicht nur in meiner Erinnerung, sondern
in einem Text einer Collage mit dem Titel „Handzeichen„.
„Hände von damals (NS-Zeit), dem Schopper-Loisl gewidmet;
Karfreitag, 5. April 1996„ steht auf dem Titelblatt dieser
Graphikserie. Und innen drinnen auf den weißen Papierblättern
stehen mit schwarzer Schrift die Worte: „Behinderte, Unwertes
Leben, Euthanasieprogramm, Hartheim.„ Das war der Schopper-Loisl,
ein geistig Behinderter, der aber so viel Geisteskraft und Vorstellungsvermögen
besaß, mehr als viele andere damalige Zeitgenossen, daß
er damals in einem unerwarteten Augenblick mit seiner ausgestreckten
rechten Hand ruckartig einen Strich wie einen Schnitt durch seinen
Hals andeutete, die Augen verdrehte und triumphierend „Hitler
hin!„ rief und dann schnell verschwand; sie haben ihn nie
gefunden, eine Frau hat ihn lange Zeit in einer Gartenhütte
versteckt. Nie werde ich sein Gesicht, nie werde ich diese Gestik,
nie dieses „Hitler hin!„ vergessen. Ich habe ihn deshalb
sehr gemocht und sehr geschätzt; und ihn als ein positives
Zeichen und Beispiel, nämlich das des Widerstandes, angesehen.
Und so ist er mir im Gedächtnis geblieben. Zuletzt als ein
etwas älterer Mann, in einem dunkelbraunen Popelinemantel,
mit einem Fotoapparat in der Hand; wie er jedes Jahr die Fronleichnamsprozession
in Haslach fotografierte; irgendwann in den Siebzigerjahren. Menschliche
Zuneigung und Wärme spüre ich, wenn ich an ihn denke.
Erinnere mich an seine Hand auf meinem Kopf, als ich ein Kind war.
Und an seine ungelenke Schrift auf der Rückseite einer Ansichtkarte
vom Bezirksaltersheim in Kleinzell, die jedesmal kurz vor seinem
Geburtstag bei uns eintraf und auf der immer das gleiche geschrieben
stand: „Schopper-Loisl hat Geburtstag - wünscht sich
dicke warme weiße Socken.„ - Nein, nicht ich habe ihm
ein Denkmal gesetzt; er, der Schopper-Loisl hat eines in mir aufgebaut:
eines von einem gutmütigen, sanften, klugen, hellwachen Menschen;
in jener Zeit und jener danach. Nie habe ich eine Äußerung
des Hasses oder den Wunsch nach Rache von ihm gehört. Immer
lag nur eine gewisse Trauer über ihm, als hätten ihn Bedrohung
und Ausgeliefertsein Zeit seines Lebens nie mehr verlassen. Etwas
schien zwischen ihm und den Menschen zu liegen, wenn er so auf dem
Haslacher Marktplatz stand, mit seinem Fotoapparat; irgendwie verloren.
Aber zugleich wie ein Mahnmal. Nur hat es niemand verstanden. Man
hat nur gelacht.
Noch immer erinnere ich mich an den Rollstuhl, der
eigentlich keiner war; an dieses komische Ding, halb Bett halb Schaukelstuhl,
nur mit Rädern daran, aus braunem Holz und hellem Geflecht.
Darin lag eine vermummte Gestalt. Manchmal hörte man irgendwelche
Laute oder eine Art Stöhnen, vielleicht Versuche von Sprechmitteilung,
aus dem Bündel, das in Decken eingewickelt war. Manchmal stand
dieses Ding vor einem Eingang, einem Geschäft. Es war die Tochter
der Apothekerin. Die hatte irgendwie überlebt. Man sagte: durch
den Apotheker; der war - wenngleich Morphinist (wie Hermann Göring)
- bei der Partei; schon früh, gleich vom Anfang an, schon als
Illegaler. Genaues weiß man nicht.
Wann hat jemand zum ersten Mal in Haslach das Wort
Mauthausen ausgesprochen, oder das Wort Hartheim? Oder die Bezeichnung
KZ? Wann sagte jemand zum ersten mal das Wort Mord im Zusammenhang
mit den Nazis? Wann war das - wahrscheinlich nach dem Krieg - und
wer war es? Wann haben die Schüler in der Volks- und Hauptschule
zum ersten Mal vom Konzentrationslager Mauthausen, von der Euthanasie-Tötungsstätte
Hartheim, gehört? Der eine Ort ist diesseits der Donau, der
andere jenseits; beide Orte sind in Luftlinie nicht einmal hundert
Kilometer von Haslach entfernt. Haben die Schülerinnen und
Schüler davon im Fach Landeskunde oder Geschichte etwas von
ihren Lehrern, von ihren Wissens- und Ausbildungsvermittlern erfahren?
Und wenn ja, wenn überhaupt, wann und wie und in welchem Ausmaß?
Waren Schulklassen, Schülergruppen mit ihren Lehrerinnen und
Lehrern einmal in Mauthausen, etwa bei der jährlichen Befreiungsfeier
im Mai? Hat man ihnen dieses Vernichtungslager - Töten durch
Zwangsarbeit im Steinbruch und durch Verhungern (in den Russenbaracken)
- gezeigt? Hat man ihnen gesagt, was der Nationalsozialismus wirklich
war und wie er mit seinem Rassenvernichtungsprogramm, mit der planmäßigen
Ermordung von Millionen Menschen und der konsequenten, brutalen
Unterdrückung und Ausschaltung jedes Widerstandes, mit der
alles umfassenden, verlogenen Propaganda funktioniert hat, nur aufgrund
von hunderttausenden Mittätern und Mithelfern funktionieren
konnte? Was wurde hier in Haslach an den Schulen an Informationsvermittlung
und Aufklärungsarbeit geleistet? Wurde sie überhaupt geleistet,
im notwendigen Ausmaß? Oder wurde auch hier alles nur übergangen?
Mit Ausreden und mit anderem zugedeckt? Mit ähnlichen Aussprüchen
wie dem des Herrn Bürgermeisters, des Herrn Lehrers und Schuldirektors,
im Zusammenhang mit der nicht gelöschten Ehrenbürgerschaft
Adolf Hitlers in Haslach? Damals erhielt ich einen Brief des Haslacher
Bürgermeisters, eines ehemaligen Schuldirektors, mit dem Hinweis,
daß man wichtigeres zu tun habe. Was bitte war und ist das
Wichtigere? Was ist wichtiger als die Aufklärung der Jugend
über das größte Menschheitsverbrechen, bei dem Österreicher
nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren. Und dem Ehrenbürger
von Haslach, Adolf Hitler, hat man zugejubelt, ihn gefeiert wie
einen Volkstribunen, einen Messias, sein Bild geschmückt und
verehrt wie das eines Heiligen in der Kirche. Auf dem Heldenplatz
in Wien, auf dem Adolf-Hitler-Platz in Linz, auf dem Marktplatz
in Haslach - überall Propaganda. Ja, die hat viel manipuliert,
viel zugedeckt, auch das eigene Sehen und Denken und sich Rechenschaft-geben.
Ist selbstverschuldete Blindheit - blinde Begeisterung, blinder
Glaube, das Nicht-Hinsehen, das Nicht-hinsehen-Wollen - nicht doch
auch etwas, das mit der eigenen Verantwortung zu tun hat; auf jeden
Fall dann, wenn man die Augen wieder öffnen konnte, sie einem
geöffnet wurden, man sie aber trotzdem lieber geschlossen hielt?
Was gibt es Wichtigeres als dieses Augenaufmachen, als dieses neue
Sehen, Herr Bürgermeister? Und eine Zeichensetzung dafür?!
Hat dieser Ort Haslach sich jemals mit seiner eigenen braunen Vergangenheit
auseinandergesetzt, sich daran wirklich, d.h. sich an die Wirklichkeit,
erinnert? Oder hat man wieder nur von den Hussiten und den Rosenbergern
geredet; ein Heimat-, Weberei- und Kaufmannsmuseum eröffnet;
einen Tennisplatz, ein Schwimmbad, ein Kriegerdenkmal gebaut. Wo
sind die Zeichen der Zeit und die der Auseinandersetzung damit sichtbar
im Ort? Haben die Bürger, vor allem jene, die mitgemacht haben,
dann wirklich die Augen geöffnet? Ich kann mich nicht erinnern,
jemals in meiner Kindheit und Jugend oder auch später jemals
etwas Wesentliches als Zeichen der Auseinandersetzung mit dieser
dunklen Zeit erfahren, erlebt oder davon gehört zu haben. Es
war hier wie anderswo: Das große Schweigen war wie ein Tuch
über alles gebreitet. Man hatte Wichtigeres zu tun, als dies
in einem Prozeß des zielgerichteten Erinnerns aufzuarbeiten.
Deshalb nun meine Frage: Wie steht es heute damit? In der Schule?
In den Bildungseinrichtungen? Was sagt man den Kindern heute, wenn
sie auf den Bildschirmen der Fernseher die Neonazis marschieren
sehen, bei großen Kundgebungen; wenn Asylantenheime brennen,
wenn Tote unter grauen Plastikplanen herausgetragen werden aus den
Ruinen; wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden,
wenn Roma ermordet werden; wenn die neuen Parolen der Ausländerfeindlichkeit
den Weg in die Parteien und in die österreichische Innenpolitik
und in die Gesellschaft finden? Was sagt man da den Kindern? Oder
ist auch hier nur wiederum nur das Verschweigen, wenn nicht gar
da oder dort schon wieder insgeheim Zustimmung?
Oft bin ich unten bei der Kirche vor dem Kriegerdenkmal
gestanden und habe die vielen Namen gelesen; die Namen jener, die
im Ersten Weltkrieg für Gott, Kaiser und Vaterland gefallen
sind, und im Zweiten Weltkrieg auf dem Felde der Ehre. Für
welche und wessen Ehre oder wem zu Ehren war dieser Tod, gab es
diese vielen Toten, habe ich mich oft gefragt. Und schon sehr früh
habe ich den großen Betrug, die infame Lüge und Verlogenheit
erfaßt und begriffen, die hinter solchen Slogans, hinter solchen
pathetischen, aber inhaltsleeren Parolen sich verbirgt; von ihnen
wiederum zugedeckt wird. Patriotismus, Nationalismus, Nationalsozialismus
- wie nahe liegt das alles beisammen, nicht nur durch den gleichen
Wortstamm! Nein, auch durch einen in manchem gemeinsamen Grundkonsens.
Immer läuft es auf Propaganda hinaus, auf Manipulation, Entmündigung,
Ausschalten des eigenen Denkens, auf die Abnahme der eigenen Verantwortung
und auf den Verzicht darauf. Was ist schon geblieben vom Gottesgnadentum
absolutistischer Monarchen, von den die Menschen und die Freiheit
unterdrückenden Feudalsystemen; was von den Diktaturen und
den alles beherrschenden Machtsystemen und Machtstrukturen eines
Hitler und Stalin? Nur die Schuld bleibt - meist ungesühnt;
und da oder dort Zeugnisse des Wahnsinns, der Verblendung, der Gewalt:
Mauerreste von Gulags oder KZs, Friedhöfe, Kriegerdenkmäler;
Namen; so viele Namen, auf steinernen Tafeln oder in Büchern;
Verzeichnisse der Ermordeten. Das Totenbuch von Theresiensstadt.
Kinderzeichnungen; oder Lieder. Das „Polnische Requiem„
von Krzysztof Penderecki oder das Oratorium „Mauthausen„
von Mikis Theodorakis. Ist es nicht angesichts dessen und in Solidarität
mit den Opfern und der nicht gesühnten Schuld Pflicht eines
jeden und auch des Staates, sich und andere daran immer wieder zu
erinnern; auch anhand von Denkmälern? Welche erinnern in Haslach?
Keine. Welches Sicherinnern als Akt des Bewußtseins und der
Bewußtmachung gab und gibt es dort? Wie steht es hier mit
der Verantwortung für dieses Erinnern; für diese Erinnerungs-
und auch Trauerarbeit? Gibt es eine zeitliche Begrenzung für
diese Verpflichtung zur Erinnerung? Gibt es ein Ende dafür?
Wann und für wen? Muß man nicht immer wieder zurückkehren
zu den dunklen Punkten seiner eigenen Geschichte, seines Lebens,
solange man lebt? - Um zu begreifen, was Leben überhaupt ist,
sein kann: im Guten wie im Bösen, im Schönen wie im Schrecklichen;
um die Dimension, aber auch das Abgrundhafte menschlicher Existenz
zu erfahren, sich bewußt zu machen, für alle Zeiten,
auch für die Nachkommen; und vor allem als Warnung und Mahnung;
damit sich Gleiches nicht wiederholt. Das ist, so denke ich, die
Aufgabe, die zu erfüllen ist.
Das Grab meiner Eltern und Brüder liegt im neuen
Teil des Friedhofs von Haslach; direkt an der Hecke, die den Russenfriedhof
umschließt. Meist sind die beiden Flügelgitter des Einganges
zu diesem Soldatenfriedhof versperrt. Einmal bin ich einfach drübergestiegen.
Ich wollte schon seit langem da hinein, vor den Gräbern stehen,
mir das genauer ansehen. Nur mühsam habe ich die Namen in kyrillischer
Schrift entziffern können, einfacher war es mit den eingravierten
Geburts- und Sterbedaten. Manche Soldaten sind auch in Haslach gestorben,
als Schwerverwundete. Wo war nur gleich das Russenspital? Im Moser-Haus?
Da liegen sie also diese Männer, die in den Krieg ziehen mußten;
genauso wie unsere. Aber doch mit dem großen Unterschied,
daß sie ihre Heimat verteidigen mußten, unsere Soldaten
jedoch einen Angriffskrieg führten. Alles unvollendetes Leben,
habe ich damals gedacht; und: so jung mußten sie sterben.
Wer erinnert sich an sie? „Die Russen„ sagte man damals
geringschätzig, abwertend, verächtlich; wenn auch mit
einem Unterton der Angst. Diese Verachtung als Ergebnis rassistischer
Nazipropaganda vom slawischen Untermenschen hatte den Krieg überdauert,
manifestierte sich auf diese Weise. Nie waren die Russen die Befreier
vom Faschismus, von der Diktatur; nicht bei uns; nicht in unserer
Einordnung. Sie waren nur die Besatzungsmacht. Daß Hitlers
Armee in Österreich einmarschiert und unser Land gewaltsam,
wenngleich umjubelt, besetzt und den Staat Österreich ausgelöscht
hatte, das wurde viel leichter vergessen und verziehen als der Einmarsch
und die Besetzung durch die Russen. Wieder einmal Geschichtsschreibung
auf österreichisch: Wir waren und sind immer die Opfer; oder
unbeteiligt. Wir sind nie irgendwo dabeigewesen, sind immer unschuldig.
Das ist die österreichische Lebenslüge, die gehört
zur österreichischen Identität.
Ich sollte an den Bürgermeister einen Brief schreiben.
Und ihn fragen, ob mittlerweile die vom vorherigen Bürgermeister
„verteidigte„ bzw. zumindest bagatellisierte Ehrenbürgerschaft
von Adolf Hitler in Haslach durch einen Formalbeschluß des
Gemeinderates gelöscht worden ist; oder ob es noch immer Wichtigeres
zu tun gibt als „eine solche Lappalie hochzuspielen„.
Ich sollte an den vorherigen Bürgermeister einen Brief schreiben
und ihn fragen, warum es über die Nazizeit in der umfangreichen
Chronik von Haslach nur ein paar unbedeutende, nichtssagende Sätze
und keinerlei Konkretes, geschweige denn Fotos mit den damaligen
Haslacher Nazi-Honoratioren oder faksimilierte Dokumente im Buch
gibt. Ich sollte an den jetzigen Bürgermeister einen Brief
schreiben und anregen, daß man den sechs Personen, die damals
vom Krankenhaus Haslach ins „Wagner-Jauregg„ nach Linz
abtransportiert und dann nach Hartheim weitertransportiert wurden
und deren Spur sich in einem Niemandsland, im Niemandsland des Todes
verliert, als Opfer des Nationalsozialismus ein Denkmal setzt, zumindest
am damaligen Krankenhaus, dem heutigen Bezirksaltenheim, eine Tafel
mit ihren Namen anbringt; und jener Frau aus Haslach, die im KZ
war und dort ihre Sprache verloren hat, wenn sie noch lebt, irgend
etwas Gutes tut; was genau das sein soll, weiß ich auch nicht.
Ich sollte dem Bürgermeister einen Brief schreiben, am besten
einen Offenen Brief, damit er ihn an der Anschlagtafel des Gemeindeamtes
in der Mitteilungsvitrine anbringen kann; aber das wird er wahrscheinlich
nicht tun, denn auch er hat Wichtigeres zu tun. Ich sollte dem Bürgermeister
einen Brief schreiben und ihn fragen, wie es ihm geht und was es
Neues im Ort gibt. Und er wird sich dann seinerseits für meinen
Brief mit ein paar netten Zeilen bedanken und vielleicht an mich
die Frage stellen, wie es mir geht - „hoffentlich gut„,
wird im Brief stehen - und er wird mir wieder einige Exemplare der
Gemeindezeitung beilegen, damit ich diesen entnehmen kann, was es
Neues im Ort gibt; daß das Gebrechen am Abwasserkanal repariert
ist, daß zwei Gemeindewohnungen an die genannten Personen
vergeben wurden, daß die Blasmusik neue Uniformen und die
Bürgergarde eine neue Fahne bekommt, daß am Sportplatz
unten beim Freibad in der Kranzling endlich die Umkleidekabinen
renoviert worden sind, daß der Besuch im Webereimuseum und
im Kaufmannsmuseum in der abgelaufenen Saison über Erwarten
gut war, daß deshalb auch in der ehemaligen Vonwiller-Fabrik
ein Museum für mechanische Musikinstrumente eingerichtet wurde,
ja daß für die Agenda 2008 überhaupt der Ausbau
der „Museumslandschaft Haslach„ beschlossen worden ist,
daß es in vielen öffentlichen Bereichen eine wirklich
gute Zusammenarbeit mit dem Hochwürdigen Herrn Pfarrer gibt,
keine Selbstverständlichkeit für einen SPÖ-Bürgermeister;
daß also alles in bester Ordnung ist. Und ich werde mich nach
Erhalt seines Briefes und nach der Lektüre dieser Exemplare
der Gemeindezeitung „Haslach aktiv„ darüber freuen,
daß es meinem Heimatort und seinen Bewohnern so gut geht.
Und daß nichts mehr an die Zeiten von früher erinnert.
Und genau deshalb werde ich dem Bürgermeister keinen Brief
schreiben, sondern wenn ich ihn bei einem meiner nächsten Besuche
in meinem Heimatort zufällig treffen sollte, nur grüßen
und fragen: „Servus! Wie geht’s Dir?„ - Und er
wird antworten: „Danke! Mir geht’s gut. Alles ist in
bester Ordnung, bei mir und überhaupt in Haslach hier.„
Und dann werde ich weitergehen, da und dort vielleicht noch stehenbleiben,
für kurze Zeit ein wenig in Sentimentalität und Nachdenklichkeit
versinken und dann wieder wegfahren aus Haslach und mich entfernen,
auch aus meinen Erinnerungen, aus meiner Kindheit, aus meiner Jugend,
aus einer Vergangenheit, die es längst nicht mehr gibt. Ich
werde also an den Bürgermeister keinen Brief schreiben. Ich
werde keine Fragen stellen, ich werde nichts fordern, ich werde
keine Anregungen geben. Ich werde alles so belassen, wie es ist.
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