XXXIII. Jahrgang, Heft 167
Sep- Dez 2014/3

 
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  Frederic W. Nielsen  
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Letzte Änderung:
12.10.2014

 
 

 

 
 

 

 

MEINUNGEN-KARAWANSEREI

   
 
 


Franz Schandl: Was ersparen wir uns, wenn es kein Geld mehr gibt

Der Großteil der wirtschaftlichen Tätigkeit hat mit Produktion und Dienstleistung nichts zu tun, er folgt ausschließlich geschäftlichen = monetären Erfordernissen. Der Großteil der Arbeit gehorcht nicht nur der Geldreligion, er gehört selbst dem Religionsdienst an. Rechnungen sind Gebetszettel und Bilanzen sind Gebetsbücher dieser seltsamen aber militanten Kommunikationsform.

Denn um Brot oder Kuchen zu produzieren, brauchen wir kein Geld, wir brauchen Mehl, Wasser, Zucker, Milch Butter, Nüsse, vielleicht Safran. Nicht so im Kapitalismus. Da ist die Kostenfrage unumgänglich, auch wenn kein Gramm des Geldes in den Stoff einzudringen versteht. Kurzum: Wirklich wird nicht, was möglich ist, real wird erst das, was bezahlbar ist. Der Kosmos der Wirtschaft sind nicht Menschen und deren Bedürfnisse, sondern folgt der Logik von Geld und Ware.

Was wir beobachten ist die Dichte, ja zunehmenden Verdichtung der Matrix diverser Beschäftigungen, die ausschließlich oder größtenteils nur um des Geldes Willen verrichtet werden müssen. Sie machen nur Sinn im Sinne der permanenten Kostenrechnung und haben sich aufgebläht wie eine Blase, der wir Muskel, Nerv und Hirn zuführen, obwohl alle diese Leistungen weder gegessen, getrunken, geschmeckt, gefahren, gesorgt werden können.

Zahlenkolonnen und Daten, Tabellen und Statistiken, Kurven und Kurse, das erscheint als objektiviertes Material ökonomischer Sachverhaltes. Dies alles türmt sich vor uns auf. Mit dem leben wir, tagtäglich verfolgt es uns, wenngleich wir es als gegeben hinnehmen. Wir, die Geldsubjekte haben nichts anderes gelernt. Fast alles, was wir tun, endet in einer Rechnung, entweder sollen wir zahlen oder wollen bezahlt werden.

In der Wirtschaft geht es nicht um das Brot und den Pudding, um Tomaten und Schuhe, um Kühlschränke und Badeausflüge, es geht um das Geschäft: jedes Vorhaben muss nach seinen Kosten fragen, es geht um Geld, um Löhne und Preise, um Renten und Profite. Zwischen Wie komme ich durch? bis Wie zocke ich ab? - vor dem Hintergrund dieser beiden Extrembeispiele gibt es eine bereite Palette geschäftlichen Lebens. Unser aller Leben ist durch das Geschäft okkupiert. Die Frage ist also nicht: wie kommt jemanden etwas zu, sondern stets was kann sich jemand leisten? Welcher Kauf geht sich aus, welcher Verkauf kann sich rechnen? Wie Dienstboten des Geldes laufen wir durch die Gegend.

Geldverrichtung meint Zeitvernichtung. Der Unnötigkeiten sind viele: Zahlung, Rechnung, Kontrolle, Kontoführung, Buchhaltung, Besteuerung, Bezuschussung, Bewerbung - wir stecken im Geldverkehr, er ist der eigentliche Stoffwechsel, obwohl er diesem doch nur dienen soll.

Rechnungen der Zukunft haben Rechnungen über Materialien und Dienste zu sein, nicht über Kosten derselben. „Denken wir uns die Gesellschaft nicht kapitalistisch, sondern kommunistisch, so fällt zunächst das Geldkapital ganz fort, also auch die Verkleidungen der Transaktionen, die durch es hineinkommen. Die Sache reduziert sich einfach darauf, dass die Gesellschaft im voraus berechnen muss, wie viel Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel sie ohne irgendwelchen Abbruch auf Geschäftszweige verwenden kann, die, wie Bau von Eisenbahnen z.B. für längere Zeit, ein Jahr oder mehr, weder Produktionsmittel noch Lebensmittel, noch irgendeinen Nutzeffekt liefern, aber wohl Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel der jährlichen Gesamtproduktion entziehn. In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen, wo der gesellschaftliche Verstand sich immer erst post festum geltend macht, können und müssen so beständig große Schwierigkeiten eintreten.“ (Karl Marx. MEW 24:316-317)

Die Liste fulminanter Abschaffungen und Reduzierungen wäre jedenfalls eine lange. Das hätte weitreichende Folgen: Exemplarisch würde der Energieverbrauch (Erdöl/Erdgas/Strom) sinken, ebenso der Konsum an Pharmazeutika. Und wenn der Mobilitätszwang fiele, gingen die Verkehrsunfälle sukzessive zurück, das hieße wiederum weniger Chirurgen und weniger Rehabilitationen. Weniger Flugkilometer bedeuten weniger Lärm, weniger Abgase, weniger Klimaerwärmung. Und so weiter und so fort.

Wir wollen also die Leute um ihre Jobs bringen? Genau das!! Durch ein Transformationsprogramm eminenter Abschaffungen oder großer Freisetzungen könnten in einigen Durchgängen wahrscheinlich mehr als drei Viertel der Arbeiten einfach eingespart und entsorgt werden, ohne dass wir etwas verlieren. Einerseits würde viel Kraft und Energie für die Individuen frei werden, andererseits würden die Belastungen von Mensch und Umwelt abnehmen. Der von diversen Schwachsinnigkeiten befreite Alltag wäre dann tatsächlich ein anderer.

Die große Freisetzung wäre eine Befreiung der Menschen eine Entlastung der Natur. Sie würde die soziale und die ökologische Misere lösen. Vor allem wäre sie aber auch der große Schritt vom Disponiert-Werden zum Disponieren, vom Passiv zum Aktiv. Unser Möglichkeiten sind aus zwei Gründen heute immens eingeschränkt, erstens weil jedes Anliegen der Zahlung bedarf und zweitens dafür jede Unmenge von Arbeit und Zeit in Anspruch genommen wird. Weniger übrigens was die Herstellung und Verteilung betrifft als der Aufwand, den der Fetischdienst erfordert. Wir leben in einer finsteren Periode der vom Geld- und Warenfetisch beschlagnahmten Zeit.

Die gemeinsamen Verbindlichkeiten hätten ein viel geringeres Pensum. Unser Leben wäre nicht mehr von Pflicht geprägt und umstellt, wenngleich einigen Aufgaben schon nachgekommen werden sollte. Unserer Möglichkeiten wären aber gänzlich andere, denn sie würden nicht mehr schlicht an der beschlagnahmten Zeit scheitern. Man müsste nicht mehr Geld verdienen, also (und die Sprache verrät es) dem Geld dienen. Auch dieses Hetzen und Stressen, dieses geschäftige Getue, dieses ständige von Termin zu Termin eilen wäre over.

Die letzte These lautet nun, dass wir, die bürgerlichen Subjekte, aufgrund unserer gesellschaftlichen Situation, den Großteil des Lebens eigentlich versäumen, dass das Leben, vor allem das gute Leben sich gegenwärtig nur in Nischen entfalten kann. Die große Freisetzung könnte nun das versäumte Leben in das gute Leben überführen. Wir ersparen uns das Leben zu versäumen. Es gäbe endlich die Möglichkeit, sich zu seinem Leben emotional und geistig reflektiert und nicht bloß reflexartig und affektiert zu verhalten. Vor allem müssten wir dann nicht dauernd ans Geld denken und in seinem Sinne, also für das Geld zu handeln. Die Zwangsanbeterei des Fetischs („Wir wollen weil müssen dich haben“) wäre Geschichte.


***


Karl Feldkamp: Unerkennbare Rechtsabbieger

Als Teilnehmer des öffentlichen Straßenverkehrs fällt nicht nur mir in den letzten Jahren immer häufiger auf, dass viele Autofahrer es nicht mehr für nötig erachten, beim Abbiegen jenes Signal zu geben, das zumeist aufwendig designte Blinkleuchten rund um ihr Fahrzeug ermöglichen. Einfach ausgedrückt: Jene blinken nicht, wenn Sie abbiegen wollen.

Selbst Fahrer von Nobelkarossen, die sich dadurch als Person und mit ihrem überteuren Auto fahrlässig in Unfallgefahr begeben, verzichten darauf. Sie gefährden durch diese Unterlassung nicht nur sich, sondern natürlich auch andere Verkehrsteilnehmer, die raten müssen, wohin die Fahrt wohl gehen könnte.

Die schwer auszumachende politische Richtung

Auch in Politik und Gesellschaft wird es offenbar schwieriger, die weltanschaulich-politische Richtung gewisser deutscher Bundesbürger eindeutig auszumachen.

Waren einst Glatzen, Bomberjacken, Springerstiefel und Heil-Gebrüll unverwechselbares Richtungszeichen, neigen Rechte und Rechtsradikale heute zu wesentlich leiseren Tönen und tarnen sich mit unauffällig legerer Freizeitkleidung, mit Nadelstreifenanzügen oder gar mit Accessoires der Linken.

Nun verkleiden sich allerdings nicht unbedingt jene, die einst uniformiert und mit eindeutigen Kurz- oder Nichthaarfrisuren auftraten. Nein, es gibt offenbar inzwischen eine intellektuellere Abart rechter Denkweise, die in gehobeneren Gesellschaftskreisen um sich zu greifen scheint.

Gerade vor und nach den letzten Kommunal- und Europa-Wahlen beeinflusst, so lässt sich vermuten, die Angst vor Fremden, aber besonders vor Geld- und Besitzverlust nachhaltig ehemals vermeintlich differenziertere Denker.

Das einstige Problem eher bildungsferner europäischer Bürger macht sich mit vordergründig einsehbaren finanziellen und wirtschaftlichen Erklärungen immer häufiger auf den Weg ins verlustangstbesetzte Bildungs- und Besitzbürgertum.

Blicke durch den Angsttunnel, so erscheint es mir, verringern den Horizont sowie die Umsichtigkeit und beschränken damit die Vielfalt der denkbaren weniger von Angst gelenkten Möglichkeiten.

Europa den Europäern – aber nicht den Armen

So lautet das neue Credo jener vermeintlich gebildeten Angstbesetzten: Europa den Europäern, aber bitte nicht denen der ärmeren europäischen Nachbarstaaten. Und selbstverständlich schon gar nicht den armen und damit extrem habgierigen potentiellen Migranten.

Habgierig sind wir schließlich selbst. Allerdings wollen wir besseren Deutschen - zum Beispiel - ganz und gar rechtmäßig nur das behalten, was ohnehin in unserem Besitz ist, selbst wenn wir es nicht immer mit moralisch zu rechtfertigenden Mitteln erworben haben.

Wer - wie wir - tatsächlich etwas von Wachstum, Wirtschaft und Konjunktur versteht, der kann Europa doch nicht gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verlieren überlassen.

Lieber die ungetarnten Neonazis

Sollten sich die heimlichen Rechtsabbieger weiterhin, ohne den Richtungsanzeiger zu bedienen, durch Gesellschaft und Politik schlängeln, werden sich Zusammenstöße mit jenen kaum vermeiden lassen, die immer noch an die moralische Gradlinigkeit gewisser Eliten glauben. Manche werden ihnen, da sie derart seriös daherkommen, sogar blind folgen.

Da sind mir die ungetarnten neonazistischen Marschierer fast lieber als jene aus der Mitte nach rechts außen schleichenden vermeintlichen Bildungsbürger…

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Peter Paul Wiplinger: HASLACH – auf den Spuren der Erinnerung

Heute, am 15. März 1999, kommt mir beim Aufwachen der Gedanke: Ich sollte an den Bürgermeister einen Brief schreiben. Ich sollte ihn ersuchen, mir die Chronik von Haslach zu schicken, jenes Buch, das eine mir unbekannte Historikerin, schon vor einiger Zeit, wahrscheinlich über Auftrag und auf Beschluß des Gemeinderates, über meinen Geburts- und Heimatort Haslach an der Mühl verfaßt hat. Dieser Gedanke hat einen konkreten Anlaß: Ich soll am 24. Juli im Rahmen des diesjährigen Symposiums „Textile Kultur Haslach„ eine Autorenlesung abhalten. Ich habe im Programm diesem Abend die Bezeichnung „Lebenszeichen„, den Titel eines Gedichtbandes von mir, gegeben. Es wird meine erste Lesung in meinem Heimatort (Frage: Entspricht dieses Wort noch der Wahrheit oder ist es nur eine ungenaue, floskelhafte Benennung?) sein; knapp nach meinem sechzigsten Geburtstag. Der Verein und die Organisatoren haben mich zu dieser Lesung eingeladen; und ich bin dankbar dafür. Lebenszeichen/Autorenlesung - steht im Programm. Welchen Inhalt soll ich diesen Wörtern geben, damit sie stimmen; damit mein Tun und Reden dem gerecht wird, vielleicht auch den Erwartungen aufgrund dieser Bezeichnungen entspricht? Meine Lebenszeichen sind meine Gedanken, meine Gedichte, nicht nur, aber doch auch; oder vor allem. Sie sind Spuren, die zu mir hinführen; oder aus mir heraus; die ich hinterlassen werde, noch für eine Weile; nachher.

Aber was haben diese Lebenszeichen, diese Spuren mit Haslach zu tun? Oder anders gefragt: Welche Zeichen aus Haslach sind noch in mir; eingeritzt in meine Haut, in mein Gedächtnis, in meine Erinnerung? Welche Spuren sind mir geblieben, sind noch da in meinem Innern, in meinem Bewußtsein, in meinem Unterbewußtsein? Irgendwo. Noch erkennbar, lesbar, begehbar; noch sichtbar und spürbar - auch als Stigmatisierungen, als Verwundungen; ja, vorallem als solche. Das weiß ich. So sind sie in mir. An manche erinnere ich mich; und manche schmerzen bis heute; auch als offene, nie beantwortete Fragen.

Woran denke ich, wenn ich an Haslach denke; zurückdenke, muß ich richtigerweise sagen. Wohin führt mich dieser Weg, zurück in die Vergangenheit? Die Antwort ist schnell gegeben: in meine Kindheit. Bilder tauchen auf, meist ohne Sprache, sekundenschnell, bruchstückhaft; wie in einem alten Schwarzweißfilm; wie in einer Wochenschau von damals; meist ohne Ton. Mit seinen Beschädigungen aus dem Lauf der Zeit, seinen Kratzern und Flecken, mit stellenweise ausgebrochener Perforierung, so daß die Bilder plötzlich schneller zu laufen beginnen, sich ihr Ablauf zu rasantem Tempo steigert, bis man nichts mehr genau erkennen kann, kein einzelnes Bild; bis alles nur mehr eine Stakkatoabfolge von Hell und Dunkel ist. Und dann wird es licht im Saal. Und man ist wieder in der Erlebniswirklichkeit, in der realen Welt. Ist so die Wiederbegegnung mit der Vergangenheit, mit seiner eigenen, die verknüpft ist mit so vielem im Umfeld - mit Gesichtern, Personen, Ereignissen der Zeit? Vergangenheit, die einmal Gegenwart war, die noch immer irgendwie gegenwärtig ist, bruchstückhaft, bildhaft; als Lebenszeichen.

Bilder, Gesichter, Geräusche, Stimmen, Worte, Personen, Namen - plötzlich wieder da in meinem Gedächtnis; ausgegraben aus dem Schutt der Vergangenheit; weggezogen die Decke des Vergessens. Nachgedacht und nachgefragt auch immer wieder bis unter die Schichten des gewollten Verschweigens, des zielbewußten Verdrängens, des Sichherausnehmens aus dem Zusammenhang, aus dem vielleicht eigenen, persönlichen Verstricktsein, aus der anderen Zeit. Hell und Dunkel wechseln sich ab, vermischen sich, so wie im Film. „Die dunkle Zeit„ hieß jenes Symposium in Wien, an dem ich teilnahm. Gemeint war die Nazizeit. Jene Zeit, die mit dem Umbruch hereingebrochen war und mit dem Zusammenbruch geendet hatte; aber nicht für alle, nicht für jeden; nicht überall in diesem Staat, in diesem Land, in diesem Österreich; und auch nicht in diesem Haslach. Etwas war da oder dort, bei dem oder jenem noch lebendig geblieben; überdauerte diesen Zusammenbruch, der in dieser Hinsicht nicht vollständig und endgültig genug war; diesen Zusammenbruch, der sich in einem Europa der Ruinen von Städten und Menschen manifestierte. In der Zahl von mehr als 55 Millionen Toten, von Millionen Ermordeten auch; diese nicht in Folge des Krieges, sondern durch eine industrielle Tötungsmaschinerie im Holocaust. Rassengesetze, Rassenvernichtung. Genozid. Nicht Krieg!

Darüber sprach man nicht. Das überging man. Davon war nicht die Rede. Nicht in der Schule, nicht in der Kirche, nicht in der Politik; in keiner Öffentlichkeit; nirgendwo. Man tat, als hätte man nichts getan, nirgendwo mitgetan; als sei man nicht Täter, sondern selber nur Opfer. Von den wirklichen Opfern, von jenen, die überlebt hatten, irgendwo im Exil oder anderswo, sprach man nicht. Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal jenes Wort hörte, das nur aus dem Kürzel zweier Buchstaben besteht, aber der Inbegriff dessen war und ist, was an Grauenhaftigkeit der Mensch je hervorgebracht hat, bezeichnet mit dem Wort „KZ„. Aber ich kann mich erinnern, daß mit dem Auftauchen dieses Wortes da oder dort sogleich die Beteuerung, die als Entschuldigung gelten sollte, verbunden war und die da lautete: „Davon haben wir nichts gewußt! Niemand hat etwas davon gewußt.„ - Also auch nicht die, dachte ich damals schon bitter, welche jene Hunderttausende, ja Millionen Verfolgter eingesammelt, registriert, in Züge gestopft, quer durch Europa verschleppt, an berüchtigten Laderampen selektiert und dann vergast haben. Oder sie in Mauthausen, einem Ort des Schreckens und des Todes, hier im Mühlviertel, in die Steinbrüche getrieben, dort durch Zwangsarbeit und unmenschliche Lagerbedingungen ermordet haben. Und auch jene Wehrmachtsangehörigen und solche von Eliteeinheiten wie der Waffen-SS haben nichts gewußt von der Erschießung Tausender hinter der Front bei sogenannten Säuberungsaktionen. Nur die Fotos - Soldaten neben den Erhängten - fand man später da oder dort; und Dokumentarfilme. Und heute gibt es anstatt Scham und Schuldeingeständnis den Protest der Wehrmachtsverbände, des Kameradschaftsbundes, gegen die Ausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht„. Und ein österreichischer Politiker, Parteivorsitzender, Führer wieder einer so genannten Bewegung, sprach im Kärntner Landtag von der „Ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich„ und bezeichnete in einer Rede in Krumpendorf die beim Nürnberger Prozesse als Nazi-Verbrecherbande eingestufte Waffen-SS als vorbildhafte „Wertegemeinschaft„. Und die 1938 an Adolf Hitler verliehene Ehrenbürgerschaft von Haslach wurde bis heute nicht wie verlangt durch einen Formalakt eines Gemeinderatsbeschlusses gelöscht. „Wir haben andere Sorgen,„ sagte der damalige Bürgermeister.

Auch die Opfer sprachen nicht gleich; manche erst beim Nürnberger Prozeß oder beim Eichmann-Prozeß; oder bei einem anderen. In Haslach gab es jemanden, ein Opfer, das nicht und nie mehr sprach, weder darüber noch überhaupt. Die Frau hatte die Sprache verloren. In einem KZ, sagte man. Genaueres wußte man nicht, wollte man auch gar nicht wissen; und hätte man es gewußt, so hätte man nicht darüber geredet. „Aus Rücksichtnahme auf sie„, wie manche voll unüberbietbarem Zynismus und voller Perfidie meinten und sagten. Ich habe auch nicht mit ihr gesprochen; habe mich nicht getraut. Ich kann mich aber noch gut an sie erinnern: wie sie dastand, in einer Männerkluft, mit derben Hosen und Stiefeln und einer alten Jacke; wie sie dastand auf der Baustelle bei der Mischmaschine, beim Löschkalktrog, vollgespritzt, mit dem ätzenden Weiß im Gesicht, und wie sie schweigend Schaufel um Schaufel Sand und Kalk oder Zement in die Mischmaschine hineinschaufelte, den fertigen Mörtel in einen Kübel leerte, diesen am Seil eines kleinen Rollenaufzuges befestigte und hinaufzog bis zu den Händen, die sich dem Kübel aus einem Gerüst entgegenstreckten. Immer haben sich diese Menschenhände ihren Kübeln entgegengestreckt, ihrer Arbeit, ihr selber aber nie. Wie hieß doch gleich jene Frau, jenes „Mannweib„, wie sie sagten, wie hieß sie nur? Und wo haben sich ihre Spuren verloren? In meinem Gedächtnis ist sie noch. Dort habe ich ihr ein Denkmal gesetzt; ganz bewußt. Aber geredet habe auch ich nicht mit ihr; warum nicht? Aus Scheu oder aus Scham? Ich weiß es nicht. Ich empfinde es aber heute als ein Versäumnis.

Einer anderen Person aus Haslach habe ich ebenfalls ein kleines Denkmal gesetzt; nicht nur in meiner Erinnerung, sondern in einem Text einer Collage mit dem Titel „Handzeichen„. „Hände von damals (NS-Zeit), dem Schopper-Loisl gewidmet; Karfreitag, 5. April 1996„ steht auf dem Titelblatt dieser Graphikserie. Und innen drinnen auf den weißen Papierblättern stehen mit schwarzer Schrift die Worte: „Behinderte, Unwertes Leben, Euthanasieprogramm, Hartheim.„ Das war der Schopper-Loisl, ein geistig Behinderter, der aber so viel Geisteskraft und Vorstellungsvermögen besaß, mehr als viele andere damalige Zeitgenossen, daß er damals in einem unerwarteten Augenblick mit seiner ausgestreckten rechten Hand ruckartig einen Strich wie einen Schnitt durch seinen Hals andeutete, die Augen verdrehte und triumphierend „Hitler hin!„ rief und dann schnell verschwand; sie haben ihn nie gefunden, eine Frau hat ihn lange Zeit in einer Gartenhütte versteckt. Nie werde ich sein Gesicht, nie werde ich diese Gestik, nie dieses „Hitler hin!„ vergessen. Ich habe ihn deshalb sehr gemocht und sehr geschätzt; und ihn als ein positives Zeichen und Beispiel, nämlich das des Widerstandes, angesehen. Und so ist er mir im Gedächtnis geblieben. Zuletzt als ein etwas älterer Mann, in einem dunkelbraunen Popelinemantel, mit einem Fotoapparat in der Hand; wie er jedes Jahr die Fronleichnamsprozession in Haslach fotografierte; irgendwann in den Siebzigerjahren. Menschliche Zuneigung und Wärme spüre ich, wenn ich an ihn denke. Erinnere mich an seine Hand auf meinem Kopf, als ich ein Kind war. Und an seine ungelenke Schrift auf der Rückseite einer Ansichtkarte vom Bezirksaltersheim in Kleinzell, die jedesmal kurz vor seinem Geburtstag bei uns eintraf und auf der immer das gleiche geschrieben stand: „Schopper-Loisl hat Geburtstag - wünscht sich dicke warme weiße Socken.„ - Nein, nicht ich habe ihm ein Denkmal gesetzt; er, der Schopper-Loisl hat eines in mir aufgebaut: eines von einem gutmütigen, sanften, klugen, hellwachen Menschen; in jener Zeit und jener danach. Nie habe ich eine Äußerung des Hasses oder den Wunsch nach Rache von ihm gehört. Immer lag nur eine gewisse Trauer über ihm, als hätten ihn Bedrohung und Ausgeliefertsein Zeit seines Lebens nie mehr verlassen. Etwas schien zwischen ihm und den Menschen zu liegen, wenn er so auf dem Haslacher Marktplatz stand, mit seinem Fotoapparat; irgendwie verloren. Aber zugleich wie ein Mahnmal. Nur hat es niemand verstanden. Man hat nur gelacht.

Noch immer erinnere ich mich an den Rollstuhl, der eigentlich keiner war; an dieses komische Ding, halb Bett halb Schaukelstuhl, nur mit Rädern daran, aus braunem Holz und hellem Geflecht. Darin lag eine vermummte Gestalt. Manchmal hörte man irgendwelche Laute oder eine Art Stöhnen, vielleicht Versuche von Sprechmitteilung, aus dem Bündel, das in Decken eingewickelt war. Manchmal stand dieses Ding vor einem Eingang, einem Geschäft. Es war die Tochter der Apothekerin. Die hatte irgendwie überlebt. Man sagte: durch den Apotheker; der war - wenngleich Morphinist (wie Hermann Göring) - bei der Partei; schon früh, gleich vom Anfang an, schon als Illegaler. Genaues weiß man nicht.

Wann hat jemand zum ersten Mal in Haslach das Wort Mauthausen ausgesprochen, oder das Wort Hartheim? Oder die Bezeichnung KZ? Wann sagte jemand zum ersten mal das Wort Mord im Zusammenhang mit den Nazis? Wann war das - wahrscheinlich nach dem Krieg - und wer war es? Wann haben die Schüler in der Volks- und Hauptschule zum ersten Mal vom Konzentrationslager Mauthausen, von der Euthanasie-Tötungsstätte Hartheim, gehört? Der eine Ort ist diesseits der Donau, der andere jenseits; beide Orte sind in Luftlinie nicht einmal hundert Kilometer von Haslach entfernt. Haben die Schülerinnen und Schüler davon im Fach Landeskunde oder Geschichte etwas von ihren Lehrern, von ihren Wissens- und Ausbildungsvermittlern erfahren? Und wenn ja, wenn überhaupt, wann und wie und in welchem Ausmaß? Waren Schulklassen, Schülergruppen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern einmal in Mauthausen, etwa bei der jährlichen Befreiungsfeier im Mai? Hat man ihnen dieses Vernichtungslager - Töten durch Zwangsarbeit im Steinbruch und durch Verhungern (in den Russenbaracken) - gezeigt? Hat man ihnen gesagt, was der Nationalsozialismus wirklich war und wie er mit seinem Rassenvernichtungsprogramm, mit der planmäßigen Ermordung von Millionen Menschen und der konsequenten, brutalen Unterdrückung und Ausschaltung jedes Widerstandes, mit der alles umfassenden, verlogenen Propaganda funktioniert hat, nur aufgrund von hunderttausenden Mittätern und Mithelfern funktionieren konnte? Was wurde hier in Haslach an den Schulen an Informationsvermittlung und Aufklärungsarbeit geleistet? Wurde sie überhaupt geleistet, im notwendigen Ausmaß? Oder wurde auch hier alles nur übergangen? Mit Ausreden und mit anderem zugedeckt? Mit ähnlichen Aussprüchen wie dem des Herrn Bürgermeisters, des Herrn Lehrers und Schuldirektors, im Zusammenhang mit der nicht gelöschten Ehrenbürgerschaft Adolf Hitlers in Haslach? Damals erhielt ich einen Brief des Haslacher Bürgermeisters, eines ehemaligen Schuldirektors, mit dem Hinweis, daß man wichtigeres zu tun habe. Was bitte war und ist das Wichtigere? Was ist wichtiger als die Aufklärung der Jugend über das größte Menschheitsverbrechen, bei dem Österreicher nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren. Und dem Ehrenbürger von Haslach, Adolf Hitler, hat man zugejubelt, ihn gefeiert wie einen Volkstribunen, einen Messias, sein Bild geschmückt und verehrt wie das eines Heiligen in der Kirche. Auf dem Heldenplatz in Wien, auf dem Adolf-Hitler-Platz in Linz, auf dem Marktplatz in Haslach - überall Propaganda. Ja, die hat viel manipuliert, viel zugedeckt, auch das eigene Sehen und Denken und sich Rechenschaft-geben. Ist selbstverschuldete Blindheit - blinde Begeisterung, blinder Glaube, das Nicht-Hinsehen, das Nicht-hinsehen-Wollen - nicht doch auch etwas, das mit der eigenen Verantwortung zu tun hat; auf jeden Fall dann, wenn man die Augen wieder öffnen konnte, sie einem geöffnet wurden, man sie aber trotzdem lieber geschlossen hielt? Was gibt es Wichtigeres als dieses Augenaufmachen, als dieses neue Sehen, Herr Bürgermeister? Und eine Zeichensetzung dafür?! Hat dieser Ort Haslach sich jemals mit seiner eigenen braunen Vergangenheit auseinandergesetzt, sich daran wirklich, d.h. sich an die Wirklichkeit, erinnert? Oder hat man wieder nur von den Hussiten und den Rosenbergern geredet; ein Heimat-, Weberei- und Kaufmannsmuseum eröffnet; einen Tennisplatz, ein Schwimmbad, ein Kriegerdenkmal gebaut. Wo sind die Zeichen der Zeit und die der Auseinandersetzung damit sichtbar im Ort? Haben die Bürger, vor allem jene, die mitgemacht haben, dann wirklich die Augen geöffnet? Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meiner Kindheit und Jugend oder auch später jemals etwas Wesentliches als Zeichen der Auseinandersetzung mit dieser dunklen Zeit erfahren, erlebt oder davon gehört zu haben. Es war hier wie anderswo: Das große Schweigen war wie ein Tuch über alles gebreitet. Man hatte Wichtigeres zu tun, als dies in einem Prozeß des zielgerichteten Erinnerns aufzuarbeiten. Deshalb nun meine Frage: Wie steht es heute damit? In der Schule? In den Bildungseinrichtungen? Was sagt man den Kindern heute, wenn sie auf den Bildschirmen der Fernseher die Neonazis marschieren sehen, bei großen Kundgebungen; wenn Asylantenheime brennen, wenn Tote unter grauen Plastikplanen herausgetragen werden aus den Ruinen; wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, wenn Roma ermordet werden; wenn die neuen Parolen der Ausländerfeindlichkeit den Weg in die Parteien und in die österreichische Innenpolitik und in die Gesellschaft finden? Was sagt man da den Kindern? Oder ist auch hier nur wiederum nur das Verschweigen, wenn nicht gar da oder dort schon wieder insgeheim Zustimmung?

Oft bin ich unten bei der Kirche vor dem Kriegerdenkmal gestanden und habe die vielen Namen gelesen; die Namen jener, die im Ersten Weltkrieg für Gott, Kaiser und Vaterland gefallen sind, und im Zweiten Weltkrieg auf dem Felde der Ehre. Für welche und wessen Ehre oder wem zu Ehren war dieser Tod, gab es diese vielen Toten, habe ich mich oft gefragt. Und schon sehr früh habe ich den großen Betrug, die infame Lüge und Verlogenheit erfaßt und begriffen, die hinter solchen Slogans, hinter solchen pathetischen, aber inhaltsleeren Parolen sich verbirgt; von ihnen wiederum zugedeckt wird. Patriotismus, Nationalismus, Nationalsozialismus - wie nahe liegt das alles beisammen, nicht nur durch den gleichen Wortstamm! Nein, auch durch einen in manchem gemeinsamen Grundkonsens. Immer läuft es auf Propaganda hinaus, auf Manipulation, Entmündigung, Ausschalten des eigenen Denkens, auf die Abnahme der eigenen Verantwortung und auf den Verzicht darauf. Was ist schon geblieben vom Gottesgnadentum absolutistischer Monarchen, von den die Menschen und die Freiheit unterdrückenden Feudalsystemen; was von den Diktaturen und den alles beherrschenden Machtsystemen und Machtstrukturen eines Hitler und Stalin? Nur die Schuld bleibt - meist ungesühnt; und da oder dort Zeugnisse des Wahnsinns, der Verblendung, der Gewalt: Mauerreste von Gulags oder KZs, Friedhöfe, Kriegerdenkmäler; Namen; so viele Namen, auf steinernen Tafeln oder in Büchern; Verzeichnisse der Ermordeten. Das Totenbuch von Theresiensstadt. Kinderzeichnungen; oder Lieder. Das „Polnische Requiem„ von Krzysztof Penderecki oder das Oratorium „Mauthausen„ von Mikis Theodorakis. Ist es nicht angesichts dessen und in Solidarität mit den Opfern und der nicht gesühnten Schuld Pflicht eines jeden und auch des Staates, sich und andere daran immer wieder zu erinnern; auch anhand von Denkmälern? Welche erinnern in Haslach? Keine. Welches Sicherinnern als Akt des Bewußtseins und der Bewußtmachung gab und gibt es dort? Wie steht es hier mit der Verantwortung für dieses Erinnern; für diese Erinnerungs- und auch Trauerarbeit? Gibt es eine zeitliche Begrenzung für diese Verpflichtung zur Erinnerung? Gibt es ein Ende dafür? Wann und für wen? Muß man nicht immer wieder zurückkehren zu den dunklen Punkten seiner eigenen Geschichte, seines Lebens, solange man lebt? - Um zu begreifen, was Leben überhaupt ist, sein kann: im Guten wie im Bösen, im Schönen wie im Schrecklichen; um die Dimension, aber auch das Abgrundhafte menschlicher Existenz zu erfahren, sich bewußt zu machen, für alle Zeiten, auch für die Nachkommen; und vor allem als Warnung und Mahnung; damit sich Gleiches nicht wiederholt. Das ist, so denke ich, die Aufgabe, die zu erfüllen ist.

Das Grab meiner Eltern und Brüder liegt im neuen Teil des Friedhofs von Haslach; direkt an der Hecke, die den Russenfriedhof umschließt. Meist sind die beiden Flügelgitter des Einganges zu diesem Soldatenfriedhof versperrt. Einmal bin ich einfach drübergestiegen. Ich wollte schon seit langem da hinein, vor den Gräbern stehen, mir das genauer ansehen. Nur mühsam habe ich die Namen in kyrillischer Schrift entziffern können, einfacher war es mit den eingravierten Geburts- und Sterbedaten. Manche Soldaten sind auch in Haslach gestorben, als Schwerverwundete. Wo war nur gleich das Russenspital? Im Moser-Haus? Da liegen sie also diese Männer, die in den Krieg ziehen mußten; genauso wie unsere. Aber doch mit dem großen Unterschied, daß sie ihre Heimat verteidigen mußten, unsere Soldaten jedoch einen Angriffskrieg führten. Alles unvollendetes Leben, habe ich damals gedacht; und: so jung mußten sie sterben. Wer erinnert sich an sie? „Die Russen„ sagte man damals geringschätzig, abwertend, verächtlich; wenn auch mit einem Unterton der Angst. Diese Verachtung als Ergebnis rassistischer Nazipropaganda vom slawischen Untermenschen hatte den Krieg überdauert, manifestierte sich auf diese Weise. Nie waren die Russen die Befreier vom Faschismus, von der Diktatur; nicht bei uns; nicht in unserer Einordnung. Sie waren nur die Besatzungsmacht. Daß Hitlers Armee in Österreich einmarschiert und unser Land gewaltsam, wenngleich umjubelt, besetzt und den Staat Österreich ausgelöscht hatte, das wurde viel leichter vergessen und verziehen als der Einmarsch und die Besetzung durch die Russen. Wieder einmal Geschichtsschreibung auf österreichisch: Wir waren und sind immer die Opfer; oder unbeteiligt. Wir sind nie irgendwo dabeigewesen, sind immer unschuldig. Das ist die österreichische Lebenslüge, die gehört zur österreichischen Identität.

Ich sollte an den Bürgermeister einen Brief schreiben. Und ihn fragen, ob mittlerweile die vom vorherigen Bürgermeister „verteidigte„ bzw. zumindest bagatellisierte Ehrenbürgerschaft von Adolf Hitler in Haslach durch einen Formalbeschluß des Gemeinderates gelöscht worden ist; oder ob es noch immer Wichtigeres zu tun gibt als „eine solche Lappalie hochzuspielen„. Ich sollte an den vorherigen Bürgermeister einen Brief schreiben und ihn fragen, warum es über die Nazizeit in der umfangreichen Chronik von Haslach nur ein paar unbedeutende, nichtssagende Sätze und keinerlei Konkretes, geschweige denn Fotos mit den damaligen Haslacher Nazi-Honoratioren oder faksimilierte Dokumente im Buch gibt. Ich sollte an den jetzigen Bürgermeister einen Brief schreiben und anregen, daß man den sechs Personen, die damals vom Krankenhaus Haslach ins „Wagner-Jauregg„ nach Linz abtransportiert und dann nach Hartheim weitertransportiert wurden und deren Spur sich in einem Niemandsland, im Niemandsland des Todes verliert, als Opfer des Nationalsozialismus ein Denkmal setzt, zumindest am damaligen Krankenhaus, dem heutigen Bezirksaltenheim, eine Tafel mit ihren Namen anbringt; und jener Frau aus Haslach, die im KZ war und dort ihre Sprache verloren hat, wenn sie noch lebt, irgend etwas Gutes tut; was genau das sein soll, weiß ich auch nicht. Ich sollte dem Bürgermeister einen Brief schreiben, am besten einen Offenen Brief, damit er ihn an der Anschlagtafel des Gemeindeamtes in der Mitteilungsvitrine anbringen kann; aber das wird er wahrscheinlich nicht tun, denn auch er hat Wichtigeres zu tun. Ich sollte dem Bürgermeister einen Brief schreiben und ihn fragen, wie es ihm geht und was es Neues im Ort gibt. Und er wird sich dann seinerseits für meinen Brief mit ein paar netten Zeilen bedanken und vielleicht an mich die Frage stellen, wie es mir geht - „hoffentlich gut„, wird im Brief stehen - und er wird mir wieder einige Exemplare der Gemeindezeitung beilegen, damit ich diesen entnehmen kann, was es Neues im Ort gibt; daß das Gebrechen am Abwasserkanal repariert ist, daß zwei Gemeindewohnungen an die genannten Personen vergeben wurden, daß die Blasmusik neue Uniformen und die Bürgergarde eine neue Fahne bekommt, daß am Sportplatz unten beim Freibad in der Kranzling endlich die Umkleidekabinen renoviert worden sind, daß der Besuch im Webereimuseum und im Kaufmannsmuseum in der abgelaufenen Saison über Erwarten gut war, daß deshalb auch in der ehemaligen Vonwiller-Fabrik ein Museum für mechanische Musikinstrumente eingerichtet wurde, ja daß für die Agenda 2008 überhaupt der Ausbau der „Museumslandschaft Haslach„ beschlossen worden ist, daß es in vielen öffentlichen Bereichen eine wirklich gute Zusammenarbeit mit dem Hochwürdigen Herrn Pfarrer gibt, keine Selbstverständlichkeit für einen SPÖ-Bürgermeister; daß also alles in bester Ordnung ist. Und ich werde mich nach Erhalt seines Briefes und nach der Lektüre dieser Exemplare der Gemeindezeitung „Haslach aktiv„ darüber freuen, daß es meinem Heimatort und seinen Bewohnern so gut geht. Und daß nichts mehr an die Zeiten von früher erinnert. Und genau deshalb werde ich dem Bürgermeister keinen Brief schreiben, sondern wenn ich ihn bei einem meiner nächsten Besuche in meinem Heimatort zufällig treffen sollte, nur grüßen und fragen: „Servus! Wie geht’s Dir?„ - Und er wird antworten: „Danke! Mir geht’s gut. Alles ist in bester Ordnung, bei mir und überhaupt in Haslach hier.„ Und dann werde ich weitergehen, da und dort vielleicht noch stehenbleiben, für kurze Zeit ein wenig in Sentimentalität und Nachdenklichkeit versinken und dann wieder wegfahren aus Haslach und mich entfernen, auch aus meinen Erinnerungen, aus meiner Kindheit, aus meiner Jugend, aus einer Vergangenheit, die es längst nicht mehr gibt. Ich werde also an den Bürgermeister keinen Brief schreiben. Ich werde keine Fragen stellen, ich werde nichts fordern, ich werde keine Anregungen geben. Ich werde alles so belassen, wie es ist.

   

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