XXXIII. Jahrgang, Heft 167
Sep- Dez 2014/3

 
  Inhalt  
  Editorial  
  Frederic W. Nielsen  
  Meinungen - Karawanserei  
  In den Kulissen der Teutozentrale  
  Weitläufige Weltbilder  
  Gegenwart der Geschichte  
  Kultur-Atelier  
  Die Brücke an der Spree  
  Medien-Kultur-Schau  
  Lyrik  
     
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  Der Verein  
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Letzte Änderung:
12.10.2014

 
 

 

 
 

 

 

LYRIK

   
 
 


einwanderung ist eine strafe

einwanderer sind willkommen
wenn sie zur verbesserung der wirtschaft beitragen
nicht so wie sie sind die unangepaßten
schon gar nicht arm und groß an zahl

schleudert man ihnen das mißtrauen entgegen
stellt ihnen die politische verfolgung in abrede
geduldet läßt man sie in unsicherheit
mit der bewährungsauflage eines strafgefangenen

die bibel verspricht himmliche worte
kain warum hast du deinen bruder abel erschlagen
die nächstenliebe wird hingehalten wie die andere backe
die christlichen sind das auserwählte volk

Manfred Pricha

***


(K)eine Wahl

es hat nicht gereicht
es wird niemals reichen
denn es reicht nicht
nur dagegen zu sein

nur wenige waren wir
wir waren wieder zu wenig
nur wenige eben
die dafür waren

es reicht auch nicht dafür zu sein
es darf nicht reichen
niemals
nur dafür zu sein

wenige waren wir nur
die es sagten
und es riefen
weil es nur zu sagen nicht reicht

man muss es immer sagen
es noch lauter brüllen
und man muss es wagen
es tun

man muss es tun
für einander jeder jedem
alleine trägt es sich schwer
es kann alleine nicht reichen

jeder muss seinen mut tragen
ohne herz sagt sich kein Wort
ohne worte bleibt schon alles gesagt
so kann es nicht reichen

die Wege lang
schatten rauschen
immer dagegen
jeder für sich allein

so kann es nicht reichen
doch Es muss

Danyal Nacarli

***


der alte Mann

am Jahresende taxiert er
den Nußbaum 1m Hof legt an
die Säge zählt zitternd
im Holz die Lebensringe
*
Kinderwunsch

im Schlaf bin ich
der große Hund der
meine Angst fängt

Norbert Büttner

***


Im Ukraingazsyr

Der Sommer brennt
im Knistern
Kiefernspringen
Zapfen stürzen
Raketen steigen
Treibsätze
Bersten Blitzen
Zertrümmern.

Der Gegenschlag
gepanzert
fauchend röhrend
Feuern aus der Luft
nur aufs Böse zielend
und trifft doch nur Menschen
Träume zerstoben sind.

Das tägliche Brot essen
Beat goes on
days oh days
im Kriegen
Tage ohnmächtigen Zorns
brennender Sommer
endlos
im metzelnden Ukraingazsyr.

Willi Volka

***


Jeder Ort ist ein Gezi Park!

Von meiner Heimat dreitausend Kilometer entfernt liegt Köln
Heute schlagen in Köln hunderttausend Herzen gemeinsam im Takt.
Sie schreien auf
"Jeder Ort ist ein Gezi Park!
Jeder Ort ist ein Schuldfeld"
Hunderttausende Seelen der Provinz Manisa
Sind verbunden mit den Herzen der Arbeiter in den Kohlebergwerken Somas.
Dort schreien die Seelen hunderttausender Menschen.
"Fahr zur Hölle!", sagen
Hunderttausend Menschen zu einem Diktator.
Sie grüßen die hunderttausend Menschen auf den Plätzen Kölns.
Sie grüßen die Arbeiter meiner Heimat,
Die Heimatliebenden,
Die Revolutionäre begleitet mit Volksliedern
Und ein jeder trägt die Herzen Deniz Gezmi?,
Sinan Cemgils,
Mahir Çayans
Und ihrer Freunde.
Hunderttausend Heimatliebende tragen die
Hunderttausend Friedensverteidiger vom Geziplatz
und die auf dem Schussfeld gejagten Friedenstauben
In ihren Herzen.
Das Herz jeder Taube, welche die Friedenliebenden fliegen lassen, ist mein Herz.
Fahr zur Hölle Diktator, der Du meine Heimat in Blut tränkst!
Gegrüßt seien die hunderttausend Friedenstauben,
die sich in Köln zusammengefunden haben!

Molla Demirel

***


auferstehung

die zeichen stehen auf pflege;
die männer der stadt
klettern ins astwerk
der straßenbäume
mit motorsägen,
aber ohne zerstörungswut.

die männer der stadt
wollen pflegen
auf der suche nach dem,
was sie schon lange
verloren haben: zeit.

die männer der stadt,
gerüstet
mit derben handschuhen
und roten helmen,
arbeiten wie in gedanken.

auf dem bordstein wippt
einer von ihnen auf zuruf,
als erlebe er
mitten am tag
auferstehung,
wenn er nach oben schielt.

Michael Starcke

***


Wie wir die Traurigkeit erfinden

am Anfang war die Welt
noch ohne Traurigkeit
alles glühte
in der Leidenschaft des Entstehens
ohne Rücksicht
auf den Augenblick
brach jede Kraft
die Bahn der Geradlinigkeit
in ein Gesetz
des Zufalls
unkontrolliert
wird der Mensch
und entwickelt Gefühle
auch gierig
nach Leben
verliebt
in sich selbst
wurde die Traurigkeit erfunden
aus Mitleid
weitergeführt
in die Selbstversessenheit

Olaf Kurtz

***


deine brust
ist ein (wort)gehäuse
ein ort des bewahrens
befüllt mit erinnerungsfäden
gewebt im dunkeln
gegen schattenstunden

weißen vögeln gleich
ziehen diese
mit dem mistral
vom weit aufgespannten meer
über kammfelsen

nur dort
werden sie frei wurzeln
getränkt
von blauen seen
wachsen unterm filigranen netz
im nebelhauch
einer herbstmelodie
***
wandeln werde ich
in den Worten wenn du nicht
bei mir weilen wirst

seidenes sehen
verschenkt sich im tagschlafe
sinkt in die seelen

wenn wir verwandelt
wird in weiten des Weltalls
unser wort verwehn

karg ist das kosen
aus erkalteten blicken
kühl deine lippen

worte verwandeln
einzig deine gedanken
leben dich weiter

Margot Marquardt

***


wir guten
ihr bösen
bedrohnen euch
retten schützen
unschuldige
kinder
wollen leben
gute
bomben treffen böse
kinder

Herwig Haupt

***


Dante

Dante wäre nicht Dante
hätte er nicht
"La divina comedia"
geschrieben.

Dante wäre Petrarca
hätte er "Il canzoniere"
geschrieben.

Dante wäre Boccaccio
hätte er "Il decamerone"
geschrieben.

Aber Dante
ist Dante
und bleibt Dante.

Mircea M. POP

***


Schattenmenschen

Menschen
im Schatten
zeigt
das Leben
die dunklen Seiten.

Hinter dem Licht
der von Glück
verwöhnten
auf ihren
Eiländern.

Menschen
im Schatten –
sind Träumer nur.

Betti Fichtl

***


Blütenbaum

Es ist etwas anders geworden
in der Welt,
Schneemassen tauen,
Eiswasser fließt.

Pedanten schauen auf
den Kalender:
Zu früh, sagen die einen.
Na endlich, die Ungeduldigen.

Wurzeln saugen,
Saft steigt in die Knospen,
das Blatt verwandelt
Sonnenlicht in Wachstum.

Schaum bricht
aus Ästen und Zweigen,
ein Rausch,
überfließende Lust.

Blätter werden
zu Farben und Düften,
Bienen sammeln
für ihr Volk,

bestäuben, befruchten,
legen Keime für die Kinder.
Wir wissen das schon,
sagen die Kundigen,

im Juli ist Ende.
Die Vögel singen,
sie bauen Nester,
gefräßig schlüpft die Brut.

Es scheint ihnen
selbstverständlich,
das Wachsen, Blühen und Singen,
das Fressen auch.
Wie sollte es denn anders sein!

Wilhelm Riedel

***


Epitaph des Kosmopoliten

Das Leben
sagt das Seine

Aber es kann auch hier
nicht verschweigen
die kosmopolitischen Aufträge
gesendet an die Welt

Auf Seiten der Güte
wird das Böse schlagen
*
Die Heimat der Poesie

Im Paradies der Seele
in Gottes Heiligkeit
in den breiten Sphären
aus denen sie herwallen
alle Fluide der Emotionen
dort unter den planetaren
unendlichen Stemen-Galaxien
dort liegt mein Friede
da ist die Ruhe des Absoluten
und dort finde ich es
das Heimatland der Poesie

Savo Kostadinovski

***


OKO

Ich melde mich
mit Nichts...
weil ich keinen
Grund finde...
Unterwegs konnte ich nicht
so viel Gesagtes
versiegen lassen...
oder hat mich etwas geärgert...
nur... ich wüsste nicht
was es sein könnte...
Wäre dies nicht
...unser gesprochenes Gespräch
das einen halben Tag
kürzer gedauert hat...
Ich bin außer mir
da ich alles Liebe
bei dir gelassen habe
und du fliegst jetzt
nach Brasilien...

Pass auf
das Flugzeug auf...

...es sollte nicht vergessen
dich zurück zu bringen

Bratislav Rakic

***


Neue Realitäten

Wie schön die Zeiten waren,
als die meisten Unternehmer
soziale Verantwortung
für ihre Mitarbeiter trugen,
und auch Sonderschüler
eine faire Chance bekamen.

Es mag sie auch heute noch geben,
die Unternehmer mit sozialer Verantwortung,
gewiss, gute Menschen gibt es zu allen Zeiten,
doch sind sie heute in der Minderheit.

Wenn die Wirtschaft
eine Hausse erlebt und boomt,
stellen sie mehr Leute ein, natürlich,
das war zu allen Zeiten so,
doch sind früher weniger als heute
auf die Idee gekommen,
in der Hausse, der Gewinnmaximierung wegen,
Leute in nicht geringer Anzahl zu entlassen.

Die Vollzeitstellen abgebaut,
werden 400-Euro-Jobs inflationär,
die Arbeitsämter geben ihr Bestes,
doch das angestrebte Ziel,
alle in abhängige Beschäftigung
bringen zu können,
scheint relativ lebensfremd zu sein,
in Anbetracht dessen,
dass es Menschen gibt,
die lieber selbstständig sein wollen,
und auch Vollbeschäftigung
schließt einen geringen Prozentsatz
Arbeitslosigkeit mit ein.

Wir Menschen werden es überleben,
es gibt Dinge im Leben,
die noch wichtiger sind als Arbeit
und immer Arbeit zu haben,
am Ende wird es darauf ankommen,
wie offen unsere Herzen für andere waren,
ob wir fähig waren, zu lieben,
doch es wäre auch schön,
wenn die Arbeitswelt wieder,
und sei es nur ein wenig,
menschlicher werden würde.

Gerd Egelhof

***


Fest geschlossen

Du bist es nicht, du, hast sie gesehen,
Städte brannten,
unter dem Pflaster, tief, hinter Steinen, lebten sie,
Männer, Kinder, du,
sie waren so laut, sie kannten, keine Spiele,
du hast die Fahnen gehört, dich und den Sturm, dich,
du schläfst nicht fest,
du siehst ihre Trommeln, noch immer, die Stimme,
sie schrie.

Du lebst doch wohl, du, bleibst stets fest in dir,
Fahnen brannten,
unter der Haut, du, deine Augen, gehören Brände,
Trümmer, nur dir,
sie waren aus Stahl, sie packen dich noch am Strang,
du hast diese Bilder, sie greifen, Bomben, dich,
du liegst nicht gut,
du hörst ihre Gesänge, immer, die Stimme,
sie schrie.

Du bist es nicht, dich, krallt ganz fest dein Blick,
Menschen brannten,
unter der Decke, dich, im Genick, stets, greifen sie,
Fotos, die Bilder,
sie waren in dir, sie drehten das Rad für dich,
du hast deine Würfel gefunden, Helden, dich,
du ruhst nicht aus,
du würgst deinen Galgen, auf immer, die Stimme,
sie schrie.

Horst Bingel

***


In jenem Ort würde ich leben wollen

Würde ich leben wollen;
in dem zwischen den Bergen versteckten Haus
Aus Vogelgesängen Sinfonie
Die Grünen unter den Wetterdächern
vor der Tür Garten in Blüten
In einem Ort im Bergdorf
würde ich mich verlieren in jenem Haus

Würde ich leben wollen;
in einem Marktbude Haus
nebenan Fluß und Bach
Wenn überdrüssig meine Augen vor dem Grün
würde ich das Blauen betrachten
auf den Ästen der Trauerweide
Würde ich aus Büscheln Schaukel einrichten
müßig mal in eine, mal in andere Seite schaukeln
Scheu wie ein Vogel
verrückt wie Affe, vergnügt wie Hunde-Jungs
würde ich leben in jenem Ort

Würde ich leben wollen;
in einem Wald
einer Hohlraum-Hütte aus Baum
Ich und Eichhörnchen und Nachbarn
mit Vögeln Nest bauen
mit Wölfen würde ich Tisch
decken in jenem Ort
Und außerdem würde ich leben wollen;
in einem Land wo Mensch menschlich ist.

*

Einer menschenmentalen Epoche

Aus dem Trümmer ohne Eisen, Mörtel
Eines Beton-Zeitalters steigt
Die Menschlichkeit hervor
Das Geschrei mit Schakal-Heulen vermischt
Wer ist der Held dieser Novelle
Wer ist er
Der den Handschar dieser heillosen Wunde stach
Welche herzlose Hand schiebt
Auf ein Kind im Schlaf
Noch sein Spielzeug in seiner Hand
Den Stein, das Beton...

Die Helligkeit
In den Trümmern eines technologischen Zeitalters
Ohne Stecker, Kabel
Mit imaginären Geschichten betrogen
Die Menschlichkeit
Einmal existent, einmal verloren
Unser Seelen-Empfang fiber optic
Welche menschliche Hand hält
Die hygienische aber unglückliche Hand des Kindes
Dem verboten wurde, mit der Erde zu spielen...

Ein seltsamer Seelenschmerz die Einsamkeit
Einer menschenmentalen Epoche
In ihrem Trümmer die Leidenschaften
Liebesgeschichten geschmacklos
Tahir betrügt Zühre
Karacao(g)lan ausgestoßen
Eine märchenähnliche Geschichte ist das
Wer vergangen, wer letztlich
Betrüger und Betrogenen
Der Mensch und der Mensch...

Muazzez Uslu Avci

Aus: »Bahardandir«. Komsu Yayinlari, Istanbul 2013. Aus dem Türkischen von Mert Kurtulus

***


Melzer Erna.
Du kamst in die Endkontrolle
und mit dem neuen Hemd zu mir.
Fast möchte ich etwas beanstanden.
Vielleicht, daß die Knöpfe nicht angenäht sind
oder das Hemd einen falschen Kragen hat,
damit du von mir erfährst
und so ich von dir.

Melzer Erna.
bist du jung? wohl nicht.
wer heißt Erna.
denn die Endkontrolle ist ein
Vertrauensposten;
bei dem man nicht am Montag den
Sonntagabend im Kopf haben darf.

Bist du alt?
das wohl nicht, weil du flink sein mußt
und gut bei sieht und unbestechlich
gegen die Kolleginnen,
wenn der linke Ärmel
rechts oder das Knopfloch verschnitten ist.
Melzer Erna.

Jaime Salas

***


nachwachsende

entleerte wesenszüge mit verspätung
haben einfahrt nach untiefental
verjüngte massengesichter
im imagepflegestudio der premiumklasse
aufs geratewohlbehagen verpflichtet
ein schönheitschirurg entscheidet sich
trotz selbstanzeige zur steuerhinterziehung
und amerikas gott heiligt
wohlgewachsene millionäre

nicht nur hollywood
braucht nachwuchsdarsteller
*

massenlaute

kann sie nicht mehr hören
die ständigen orgasmen
jener in geldschränke eingeschränkten
bin süchtig nach leisen tönen

will sie nicht mehr sehen
die mit grellen lichtpeitschen
erleuchtete vor sich hertreiben

dennoch folge ich
nachtfaltern
ins flutlicht der städte

Karl Feldkamp

***


Der Mann mit dem Korb

Da! Die Stufen empor, staubig – bedrückt.
Wahltag. Wie ungewiß doch die Innenseite
der Großstadt ist. Ich zeige Kohlen vor,
Bienenwachs, staubige Äpfel. Eine kalte Hand
floh den Krieg. Totgeschrieener, totgehopster Verstand
erwartet den Sucher – links und rechts.
Eine Qual, die Anbetung
der Verblödung. Bilder. Das war
daheim. Ein dicker Mann,
Schuttwolken, nach hinten gefallen
mein Bild.
Ich floh die Ungläubigkeit, um unter euch
Ungeheuer zu treten. Ihr seid wie aus Schwamm.
Aber ihr braucht viel.
Ich fresse euch alles weg,
was ihr nicht anfaßt: die Teile der Großstadt,
der Welt. Ihr werdet vergehen wie Schall.

Mona Ullrich

***


Versprochene Himmel

Über alte Städte heißt es,
sie hätten der Zukunft
ein Stück Himmel gegeben,
doch es kommt die Zeit,
in denen das Licht zurückgespult wird
und die Luft zu dünn ist
für große Versprechen.
Die Produktion bleibt
auf der Strecke, der Kreisverkehr
der Einsamkeiten nimmt zu und die
Besorgungslisten des Verstandes
werden länger. Am Ende bleibt
die Erinnerungskultur der Trinksprüche,
der Saisonbetrieb der Bekenntnisse,
die Eintagsfliege einer Umarmung
und ein Mittag, der im Park die
Schattensplitter zusammenfegt.

Ralf Burnicki

***


Der Kater

beim läuten des telefons
hebt der kater den kopf
und springt in den schatten des nahen baumes

er ist nicht allein
drei kater machen ihm die gesellschaft

hinten im zwiebelbeet
blinzelt der fünfte kater
mit seinen leuchtenden gelben augen

was denkt sich
dieser komische kater
über die arme menschheit?

über die katastrophen
des sozialismus und kapitalismus?

sie fragen mich zuviel

fragen sie lieber diese haarigen spitzbuben
dort unten beim baum

vielleicht haben sie für euch
einige hoffnungsvolle antworten
die ein schönes neues jahr verheißen

doch das meiste könnte euch
der kater bei den zwiebeln erklären

er ist nämlich ein richtiger philosoph
und irgendwie auch ein halbgott
auf jeden fall ein überaus bedeutender kater
bestimmt der hauptkater
der sich gerade mit allen seinen müden gliedern
im heißen gras des sommergartens
ausgelassen umherwälzt

sehr viel schönes könnte er euch erzählen
mit seiner hellen summenden telefonstimme
doch leider schweigt er wie ein böser gott
den wir soeben beleidigt haben

darum scheint mir
dass jener im zwiebelbeet
kein richtiger kater ist
sondern etwas anderes

wer weis
was versteckt sich
in diesem schauerlichen rätsel?

Lev Detela

***


Einem Toten

Es ist vorbei. Sie haben dich getötet.
Zwei Jahre Qual. Nun hast du endlich Ruh.
Sie sandten deinen Sarg, gut zugelötet,
(man weiß, warum) den alten Eltern zu.

Du liegst darin. Zerrissen und zerschlagen.
Sie haben dich gemordet. Mit Bedacht.
Die Martern hast du wie ein Held ertragen.
Nun ruhst du. Schmerzlos. Bis der Tag erwacht,

der große Tag, an dem wir auferstehen.
Und du mit uns. Dein Geist wird um uns sein.
Dein Glaube wird in unsem Fahnen wehen;
dein Herz schlägt hell die Siegesglocken ein.

Dann erst, dann wirst du wirklich schlafen gehen

Frederic W. Nielsen

***


We can

statt aus tibet der dalai lama
den friedensnobelpreis bekam er
präsident dann im staat
gelang ihm der spagat
er wurde zum kriegsherrn obama
*

Der Boxer

geboren in der deutschen demokratischen republik
mit sieben begonnen zu boxen
von hans hörnlein trainiert
bei der ludwigsfelder betriebssportgruppe motor
mit großen erfolgen an der oder in frankfurt
als amateur beim armeesportklub vorwärts
europameister weltmeister olympiagold
sportinstrukteur der NVA im rang eines oberleutnants
ausgezeichnet mit dem vaterländischen verdienstorden
conquest of paradise

nach der wende seit ’90 profi im halbschwergewicht
sportler des jahres boxer des jahres
genannt "der gentleman"
goldener löwe bambi goldene kamera
bundesverdienstkreuz und krawatten-
träger des jahres betreibt henri maske
filialen des mcdonalds-konzerns
hält vorträge über eigenmotivation
und mitarbeiterführung
time to say goodbye

oh dein charakter maske
er ist verkommen zur charaktermaske

Rudolph Bauer

***


Während das Licht des Tages
(Das Haus der Muscheln)

MAN möchte sagen, dass man in der Nähe dieser
Mauern besser atmet, welche die Brise von
dreihundert Muscheln aufnehmen. Auch der
Anblick reizt, sich die Zeit zu vertreiben
mit der Spur eines ansprechenden Königreiches,
die funkelnde Liebesworte überträgt, wenn
sie an der Lilie rüttelt in der Diele
der Visionen.

Schlag auf Schlag ward das Wohnhaus gemeißelt.
Langsam dringen in uns die Tränen
der Geschichte, das Tagebuch, welches das
Licht bekannt zu machen vermag inmitten
so starken Dickichts von Schatten
wachsamer Traufen.

Es fehlen keine seltsamen Eindrücke im Innenhof.
Ausdünstungen verräterischer Taten? Wutschnauben
und Streitereien? Hat etwa hier die Heilige
Inquisition hilflose Bekehrte unerhört
gegeißelt? Der Doppelstock zeigt seine
von der Kälte gezähmten Bögen. Die
Sonnenscheibe lässt weiter kärglichen
Schein einfallen.

Hier werden wir fortfahren, während
das Licht des Tages bestrebt ist,
eine verstohlene Veränderung zu entdecken.

Alfredo Pérez Alencart

***


Nun verbrennen sie sich wieder

vor über vierzig Jahren
verbrannte sich Jan Palach
Student der Philosophie
Für die Demokratie in seinem Lande
auf dem Wenzelsplatz in Prag
ein wahnsinniges Fanal
das seinerzeit Nachahmer fand

jetzt verbrannte sich
Mohammed Bouazizi
ein arbeitsloser Tunesier
und arabische Medien
feierten seine Selbstverbrennung
dieses wahnsinnige Fanal
als Macht der Machtlosen
und ihn als Märtyrer

die Regierung in Tunesien trat zurück
und es scheint
dass Bouazizi erfolgreicher
als Jan Palach
der damals alleine antrat
gegen eine militärische Großmacht
dem Warschauer Pakt

doch es gilt abzuwarten
wie es in Tunesien weiter geht
und erst die Zukunft wird zeigen
was Mohammed Bouazizi
und viele andere auch
durch ihre Fanals
für die Menschen in Tunesien
erreichen konnten.

Ingo Cesaro

***


Die Spinne

Die gelbe Spinne
in der Mitte der Nacht
hängend in meinem Zimmer
mit langen Beinen
ungewöhnlich hellen
auf dem Faden
versucht sie von der Decke
zum Boden zu kommen.

Hat SIE mich aufgeweckt?
Von schwerem Traum.
Der Mond ist voll.

Schlecht ist mein Gewissen,
nachdem ich sie mit einem T-Shirt vertrieb
wobei – sie hat es überlebt.
Hat dieser Sadist sie zu mir geschickt?

Ich wollte nur Ruhe
reine Stimmung in mir
ohne Krampf von bedrückten Gedanken
von diesem und dessen schmerzlichen Worten
weil es ihm „ausrutschte“
und von meinen Fehlern
obwohl – sind das wirklich Fehler?
Möchte immer alles nur gut machen.

Dazu aus der Vergangenheit gescheiterte Liebe?
Manchmal taucht sie auf
wie eine grausame Spinne.

Mojca Gätz

***


Lista zakupow
(Der Einkaufszettel)

Liegt ein Zettel auf dem Stufen, zweite links im Treppenhaus.
Bücc mich, lese, frag mich, denke: Oj, was sieht der polnisch aus!
Auf ‘nem Türschild steht: Lewicki, und ich fühl mich wie Stibitzki,
doch schon bin ich dynamiczny wie ‘ne Maus zur Türe raus.

Pomidore, Jajka, Czeresnie und so,
Papier toaletowy, das ist Papier fürs Klo.
Nur ‘n kleiner Einkaufszettel, wie ‘n Gruß von nebenan,
II: eine Lista zakupow von Pani oder Pan. :II

In den nächsten beiden Stunden sauf ich ab im Wörterbuch.
Trotzdem bleibt ‘ne Menge übrig, was und wie und wo ich such.
Manche slówi gibts da gar nicht, sicher ‘n finsterer Dialekt.
Also sag ich mir: Koniecny, halte dich erstmal bedeckt.

Pomidore, Jajka, Czeresnie und so,
Papier toaletowy, das ist Papier fürs Klo.
Nur ‘n kleiner Einkaufszettel, wie ‘n Gruß von nebenan,
II: eine Lista zakupow von Pani oder Pan. :II

Plötzlich zischt ein Blitz vom Himmel mit dem Wörtchen szczypiorek.
Szczypiorek bedeutet Schnittlauch, ich bin sofort hin und weg.
Denn das hieße ganz präzise, was der Zettel klar beweist,
daß Herr Andrzej Szczypiorski schlicht und einfach Schnittlauch heißt.

Pomidore, Jajka, Czeresnie und so,
Papier toaletowy, das ist Papier fürs Klo.
Nur ‘n kleiner Einkaufszettel, wie ‘n Gruß von nebenan,
II: eine Lista zakupow von Pani oder Pan. :II

Nix mit Bigos oder Uszki und Pirogi, wie das heißt.
Lammkoteletts, Tomaten, Eier - europejsky wird gespeist.
Meine liebe Freundin Jenny ließ mich sieben Tage drauf
lebhaft von Lewickis grüßen:
„Komm Pani, komm, komm Pani, komm, wir machen ‘nen Zubrowka auf!“

Na zdrowie!

Brigitte Lange

Original-Zettel

Czeresnie: Süßkirschen
Pomidore: Tomaten
Wode gaz i nie gaz: Wasser mit und ohne Schuß
Jajka: Eier
Desecki: Desserts
Barany bokobrody: Lammkoteletts
Papier toaletowy: Toilettenpapier
Mortadella: Rama
Joghurt naturalny: Joghurt pur
Szczypiorek: Schnittlauch
Jabiko: Apfel
Salato lodowa: Eisbergsalat
***
(Brigitte Lange hat auch die Noten zum Singen dieses Liedes)

***


Doktor Born, der Chefchirurg

unterwegs mit Dampf der Tenderlok der Doktor Äskulap
dein Leiden kennt er hat den Hut den groben Tweed
die Tasche immer am Genick darin aus Silber Zangen
Hämmer Fäden Nadeln Klammern hinter ihm in Raupen
stehen die Beinchen seiner Seelen Assistenten Fühlerbrut
der Doktor nur dem Kegel traut findet dich auch wenn du
träumst und zwackt dir aus der Hühnerbrust dein altes
Federvieh hinaus mit dem wolltest du in Welten dringen
die vor dir nur ein Gott gekannt tja der Doktor fand dich
kam zuvor die Häschenschule reichte nicht dir fehlte es
an Heiligtum du glaubst du verstehst es ganz aber dann die
Tenderlok am Horizont Alarm denn du gehst zu weit du
willst zu viel sie haben dich sie wollen mehr justieren die
Pole biegen dich fad der Plan ist hehr du gehörst dazu was
anderes passt nicht in den Plan nur als Schurke bist du wer

Jonis Hartmann

***


Die Sehnsucht

Deine weichen Lippen spüre ich nicht heute,
und zärtliche Hände streicheln mich nicht mehr,
ich sehe um mich. Liebster, nur noch fremde Leute,
und frage mich ständig: »Wo kommen sie her? ...«

Die fröhlichen Tage, das herzhafte Lachen
sind schon vergangen - Wirklichkeit ist da;
aus Alltagssorgen muss man das Beste machen,
und Sehnsucht verstecken - das ist uns schon klar ..

Wenn das Herz zerreißt und die Seele brennt,
in Gedanken fliehen - Wirklichkeit verlassen;
phantastische Träume meine Seele kennt,
wo die Rosen blühen - sind wir ausgelassen ...

Liebe ohne Zukunft - uns gehören Träume,
verbleibende Reste - zerstörte Gefühle,
wir fühlen uns oft jetzt wie Alleenbäume ...
überall und nirgends, als windige Spiele ...

Dragica Schröder

***


Manchmal

wirft das Leben von Menschen tiefe Schatten
in meine Gedanken.
Sie fallen zurück, auf meine Seele
und verwischen ihr Lächeln.
Gestern sah ich Menschen, die ihre Gedanken halten,
wie Haustiere.
Sie stehen angebunden in den Stallungen ihres Geistes,
erhalten fest vorgeschriebene Nahrung und
werden vorbildlich gepflegt.
Ihre Besitzer gehen ökonomisch äußerst effektiv
mit ihnen um und
gestatten sich keine Experimente.
Gut sehen gemästete Gedanken aus solchen
geistigen Zuchtbetrieben aus,
in Wahrheit aber sind sie dick und dumm
weil ihnen jede eigene Entscheidung,
jede eigene Bewegungsrichtung,
jede selbst gewählte Kost,
als unangemessen und unzuträglich
vorenthalten wird.
Menschen, deren Gedanken aus solchen Paradiesen flüchten,
in die Freiheit einer Ausgesetztheit,
die ihrer Figur gut tut,
legen die Sattheit ihrer Gesichter ab,
und in ihren Augen leuchtet der Glanz
eines gesunden, hungrigen Suchen,
gleich der Nacktheit einer Kerzenflamme im Wind,
die das Dunkel durchforscht.
Frei lebende – um nicht zu sagen: wild lebende – Gedanken
bilden keine Herden in geistigen Schutzreservaten,
sie sind die nomadisierenden Steppenbewohner
auf den Bewusstseinsplaneten im Universum des Intellekt
die um die Sonnen ihrer Erkenntnisse kreisen.

Margot Born

***


Prophezeiung

Hiermit prophezeie ich im Namen der Demokratie:

Erklärt alle Banken, Versicherungen & Ratingagenturen
ab sofort für systemunrelevant und ihr werdet sehen,
MORGEN ist die Krise vorbei!

PS:
Und lasst euch nicht einreden, dass die Märkte schon
alles regeln werden. Dass sie es nicht können, dokumentieren
sie ja gerade in erschreckendem Ausmaß für nachfolgende
Generationen.

Also: Rettet die europäischen Demokratien. SOFORT!

Thorsten Trelenberg

***


Verfolgungsbilder

damals der kleine junge
im mausgrauen mantel
darauf der gelbe judenstern
seine augen weit aufgerissen
vor den gewehrmündungen
vor den schwarzen stiefeln
vor den starren gesichtern
der uniformierten männer
mit den stahlhelmen

jahrzehnte später
das kleine nackte mädchen
in panischer angst schreiend
und weinend auf der flucht
vor den phosphorbomben
der us-marines in vietnam

wiederum später
der nackte kapuzenmann
mit den elektrodrähten
an seinen extremitäten
ein anderer mit der schlinge
um seinen hals wie ein hund
hinausgeschleift auf einen gang
in einem us-gefängnis im irak
eine junge frau grinst obszön
fühlt sich als herrin der welt
als macht über leben und tod

in erinnerung die bilder
von schädeln und gebeinen
ermordeter kambodschaner
jener aus den massengräbern
in srebrenica und anderswo

die glocken läuten zu mittag
in den kirchen beginnt das gebet
in den moscheen gebückte rücken
in den synagogen die feier des sabbat

damals das massaker
im palästinenserlager shatilla
von bomben zerfetzte körper
und blutüberströmte menschen

kinder als geiseln in beslarn
frauen weinend an gräbern
männer von milizen ermordet
ein staatsdiktator spricht zynisch
von der tschetschenischen frage

flackernde fackeln erleuchten
gespenstisch die dunkle nacht
ich gehe durch das ehemalige
jüdische ghetto von warschau
von dem nichts geblieben

jemand stößt mich zur seite
ich entschuldige mich und weiß
ich bleibe die antwort schuldig
ich weiß überhaupt nichts zu sagen
auf keine fragen ich sehe nur bilder
die mich immer wieder verfolgen
im wachen im schlaf wo ich auch bin

Peter Paul Wiplinger

   

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