XXXIII. Jahrgang, Heft 167
Sep- Dez 2014/3

 
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Letzte Änderung:
12.10.2014

 
 

 

 
 

 

 

MEDIEN – KULTUR – SCHAU

   
 
 


Kurt Bauer: Hitlers zweiter Putsch
Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934. Residenz Verlag, Wien 2014. 303 Seiten, 24,90 EUR

Am 25. Juli 1934 versuchten die Nazis Österreich in Besitz zu nehmen. Vorerst erfolglos.

Die Sozialdemokratie war geschlagen, das Parlament ausgeschaltet. Was nun tobte, das war das Gefecht Faschisten gegen Faschisten, wobei jedoch die Nazis im Gegensatz zu den Vaterländischen keinen Kompromiss suchten. Zweifellos, die Austrofaschisten mochten die Nationalsozialisten mehr als die Nationalsozialisten die Austrofaschisten. Die braune Flanke der christlichsozialen Faschisten war stets offen. Im Prinzip wollte man sich mit den Nazis arrangieren und machte ihnen nicht selten Avancen. Führende Exponenten der Vaterländischen Front unterhielten intensive Kontakte zu den Nazis. Engelbert Dollfuß, der Bundeskanzler, traf sich im Juli 1934 mit Ignaz Seyß-Inquart, Hitlers späterem Reichsstatthalter, oder mit Hermann Neubacher, dem nachmaligen nationalsozialistischen Bürgermeister von Wien. Als Dollfuß vorab von den Putschabsichten unterrichtet wurde, soll er: „Lassen Sie mich in Ruh’, ich habe den Nazis nichts getan“ (S. 26), gesagt haben. Das war nicht falsch. Der braune Spuk wurde nicht offensiv bekämpft, sondern nur deshalb, weil dessen aggressive Politik der Anschläge nicht einfach hingenommen werden konnte.

Der Plan war denkbar einfach: das Bundeskanzleramt überfallen, die Regierung festnehmen zum Rücktritt zwingen, den Rundfunk besetzen - nazitreue Truppenteile erledigen dann den Rest. Dollfuß und die Seinen wollte man „in allen Ehren kalt stellen“. (S. 202). Österreich sollte dieser Tage auch noch nicht angeschlossen, sondern gleichgeschaltet werden. Anton Rintelen, der ehemalige christlichsoziale Landeshauptmann der Steiermark und mehrmalige Minister war als Kanzler von Hitlers Gnaden vorgesehen. Die zentrale Figur der Aktion war der ehrgeizige Rudolf Weydenhammer, ein führender Industrieller aus München, wohnhaft am Starnberger See und auch nach 1945 eine beachtliche Nummer. „Befehlsgemäß“ (S. 15) wollte er den Putsch leiten, fuhr am 23. Juli nach Wien, um die letzten Vorbereitungen der dafür vorgesehenen SS-Standarte 89 selbst zu überwachen.

Der Staatsstreich selbst stand aber unter keinem guten Stern. Zuerst wurde die Ministerratssitzung vom 24. auf den 25. Juli verschoben, und dann folgte eine Panne der nächsten. Noch am 24. Juli noch wurde der Plan von Johann Dobler, einem involvierten Polizisten und NSDAP-Mitglied, verraten, wohl weil er kalte Füße bekommen hatte. Anderntags passierte, wie Kurt Bauer schreibt, gar folgendes: „Der militärische Leiter Fridolin Glass, der vor Ort im Bundeskanzleramt die Befehle geben sollte, versäumte die Abfahrt der Kolonne. Die Putschisten waren, als sie das Kanzleramt besetzten, führerlos.“ (S. 50)

Außerdem sollte neben dem eigentlichen Putsch noch eine weitere Operation der Nazis laufen. Die ebenfalls in Wien ansässige SS-Standarte 11, wollte den Bundeskanzler mit einer Handgranate am Michaelerplatz ermorden, wusste allerdings zu diesem Zeitpunkt nichts von den Plänen der SS-Standarte 89. Wie umgekehrt. Indes waren beide Vorhaben der Regierung schon bekannt. Dies alles trug freilich mehr zu Verwechslungen und Verwirrungen bei als zu entschiedenem Einschreiten.

Dass unter solchen Voraussetzungen überhaupt das Kanzleramt besetzt werden konnte, der Staatsstreich also nicht schon im Vorfeld verunglückte oder verhindert wurde, ist darauf zurückzuführen, dass die austrofaschistische Staatsmacht sich noch dümmer anstellte als die Nazi-Terroristen. So waren die Versager letztlich den Stümpern unterlegen. Nicht einmal die massiven Eingangstore des Bundeskanzleramts wurden geschlossen. Das taten erst die Nazis als sie drinnen gewesen sind. Hineinzukommen war jedenfalls kinderleicht. Die regierungstreuen Polizisten und Wachleute in der Umgebung wurden entwaffnet und gefangen genommen. Von den anwesenden Sicherheitsleuten wurden die uniformierten Eindringlinge vorerst als Verstärkung wahrgenommen, waren doch auch absurde Gerüchte über einen sozialdemokratischen Anschlag in die Welt gestreut worden. Alles hatte in diesen Stunden einen surreale Note bekommen. Da liefen mehrere Filme ab, und zwar in einer Realität diverser Kollisionen. Trotzdem sollte man sich mit Häme zurückhalten. Auch wenn es ein Putsch der Dilettanten gewesen sein mag, die Tragik im Allgemeinen war um vieles größer als die Komik im Besonderen. Der Zug Richtung Faschismus war abgefahren. Einige Jahre später, im März 1938 machte ja dann die dosierte Variante der rasenden Platz.

Die Vaterländische Front war mitunter auch ein riesiger Intrigantenstadel, wo keiner dem anderen so recht über den Weg traute und persönliche Gelüste und Absichten oft höher standen als politische Motive. Man denke an die dubiose Rolle von Innenminister Emil Fey, der erst vor einigen Tagen sein Amt als Vizekanzler verloren hatte und sich dementsprechend degradiert fühlte. Der Minister hatte noch eine Rechnung mit Dollfuß offen. Jedenfalls gab er nur unvollständige Informationen weiter. Ob Fey, „den vom Nationalsozialismus ideologisch so gut wie nichts trennte“ (S. 99), auf einen Posten unter den Nazis spekulierte, oder sich als Retter des Vaterlands inszenieren wollte oder gar beides, wer kann das schon wissen?

Die Ereignisse im Kanzleramt sind nicht mehr genau zu rekonstruieren. So ist nicht auszuschließen, dass Dollfuß sich tatsächlich wehrte oder die Angreifer sich ihrerseits von ihm angegriffen fühlten. Auf jeden Fall dürfte eine unglückliche Verkettung zu des Kanzlers Tod geführt haben. Engelbert Dollfuß sollte nicht umgebracht werden, aber irgendwie geschah es dann doch, das ihn zwei unplatzierte Schüsse getroffen haben, wobei einer letztlich tödlich gewesen ist. Bauers Schluss ist nachvollziehbar: „Bei nüchterner Betrachtung des Tathergangs und der weiter damit zusammenhängenden Umstände spricht allerdings nichts dafür, dass Dollfuß vorsätzlich ermordet wurde.“ (S. 86)

Wie der Titel des Buches postuliert, legt sich der Autor darauf fest, dass Hitler nicht nur vom Putsch wusste, sondern ihn dezidiert in Auftrag gegeben hatte. Hitler war „Inspirator und Befehlsgeber“ (S. 164). Vor allem Goebbels Tagebücher, deren Veröffentlichung erst 2006 abgeschlossen wurde, legen das nahe. Dessen Notizen vermerken zum 24. Juli: „Sonntag: bei Führer General v. Hammersteins Nachfolger, Gen. v. Reichenau, dann Pfeffer, Habicht, Reschny. Österreichische Frage. Ob es gelingt? Ich bin sehr skeptisch.“ (S. 193) Kurt Bauer jedenfalls ist überzeugt: „Es ist ohne jeden Zweifel Hitlers Putsch! Seine Untergebenen haben ab Sommer 1933 laufend Putschpläne an ihn herangetragen. In der zweiten Junihälfte 1934 schien ihm der passende Zeitpunkt gekommen. Deshalb ordnete er die Durchführung des Putsches an. Anders gesagt: Hitler befahl ihn.“ (S. 245.)

Zu diesem riskanten Manöver mit ungewissem Ausgang hatte Hitler sich laut Bauer auch deswegen entschlossen, weil er zu Unrecht meinte, Mussolini habe ihm beim Zusammentreffen in Venedig grünes Licht gegeben. Nach der gescheiterten Aktion versuchte Hitler jedenfalls alle Spuren zu verwischen. Betont wurde nunmehr die Eigenmächtigkeit der Unterläufel. „Hitler musste jedes Interesse daran haben, in keiner Weise mit dem blutigen Putschversuch im Nachbarland und dem Tod des Bundeskanzlers Dollfuß in Zusammenhang gebracht zu werden.“ (S. 237)

Der Band ist gründlich recherchiert, ohne uns mit einem Zwei-Etagenbuch zu ärgern. Alle Belege und Verweise werden im Anmerkungsapparat akribisch angeführt. Die getätigten Aussagen und Schlüsse sind in hohem Grade plausibel. Was an diesem Buch gefällt, ist, dass es belletristische wie wissenschaftliche Vorgaben erfüllt, ohne dass sich diese massiv in die Quere kommen. Bauer schreibt anschaulich und kurzweilig, formuliert prägnant wie amüsant. Ein kriminalistisches Gespür ist dem Autor nicht abzusprechen. Selbst wo die Passagen zu Untersuchungsprotokollen geraten, bleibt es spannend. Etwas kleinlich erscheinen jedoch die wenigen Seiten, wo Bauer noch einmal seine Kritik an der forschenden Kollegenschaft (insbesondere Gerhard Jagschitz) ausbreitet. Implizit sind diese Differenzen im ganzen Buch zugegen, dass Bauer hier noch mal explizit nachtreten muss, hätte er nicht nötig gehabt

Franz Schandl


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Walter Wüllenweber: Die Asozialen
Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 255 Seiten, 19,99 EUR


Der Politikwissenschaftler und Journalist Walter Wüllenweber (Jg. 1962) hat hier ein Buch vorgelegt, dass es in sich hat, wobei sich gute und klare Analysen mit zum Teil provokativen Thesen und auch einigen fragwürdigen Darstellungen und Interpretationen mischen, besonders, wenn es um die Unterschicht und das für diese tätige Klientel geht. Im Fokus seiner Darstellungen stehen die Oberschicht der Reichen und Superreichen auf der einen Seite und die aus jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzte Unterschicht in Deutschland andererseits. Der Autor skizziert wie sich in den letzten Jahrzehnten die Schere zwischen arm und reich immer mehr vergrößert hat, wobei er den Begriff „Reiche“ bzw. den Begriff „Arme“ als „politische Kampfbegriffe“ bezeichnet, was ich - wie auch einige andere seiner Thesen nicht nachzuvollziehen vermag. Er stellt aber richtig heraus, dass die oberste Bevölkerungsschicht letztlich das gesamt wirtschaftliche Geschehen bestimmt, weil sie den in der sog. Mittelschicht - ein Begriff der meines Erachtens auch hätte auch weiter differenziert werden müssen - geschaffenen realen wirtschaftlichen Gewinn immer mehr für sich absaugt. Zudem sorgt diese Oberschicht mit den ihnen zuarbeitenden Akademikern aus der ideologischen Schmiede von Universitäten und Privatinstituten dafür, dass das Bankenspekulationsgeschäft immer weiter expandieren und immer mehr virtuelle Spekulationsgewinne produzieren konnte, trotz manchen Bankenpleiten und geplatzten Spekulationsblasen, für die dann aber regelmäßig der Staat aufkommen muss und es auch tut, sodass sich Reichtum der Oberen noch mehr vermehrt. Die virtuell erzeugten Spekulationsgewinne sind zudem so beschaffen, dass sie weite Teil der Bevölkerung in den Ruin treiben, weil sie deren kleine Ersparnisse aufsaugen und somit deren bisher gesicherte Existenz zerstören. Der Anteil des Vermögens in den Händen dieser Oberschicht wird immer größer und lässt dem gegenüber den Rest, der für die „Mittelschicht“ und den sich immer mehr verschuldenden Staat übrig bleibt, zunehmend schrumpfen. Die Strategie geht sogar dahin, neben der allgemeinen Bevölkerung auch den Staat bewusst in den Ruin zu treiben. Diese Oberschicht hat sich zudem völlig abgeschottet und lebt für die übrige Gesellschaft ganz oder fast ganz anonym, in großen Parkanlagen versteckten luxuriösen Villen und umgeben von Bodyguards, die dafür sorgen, dass kein Normalbürger ihnen auch nur nahe kommt. Sie wickeln ihre Bankprojekte, um ihren Reichtum so ab, dass Außenstehende das nicht mitbekommen, mit speziellen Banken, deren Adresse in keinem Adressbuch zu finden ist und in Gebäuden - zum Beispiel in Frankfurt am Main - untergebracht sind, die kein Namensschild tragen, das auf sie hinweist, sondern nur eine einfach Klingel an der Tür haben und darüber eine Überwachungskamera. Diese Teile in den Ausführungen des Autors sind durchaus richtig und nachvollziehbar. Für mich unverständlich bleibt dabei aber wiederum, warum er in diesem Zusammenhang nur vorsichtig oder gar nicht vom Neoliberalismus also der derzeit brutalsten Form des Kapitalismus spricht, sondern dieser Oberschicht das Etikett anheftet, sie hätte dem Kapitalismus nichts zu tun.

Demgegenüber stellt er die Unterschicht, die aus dem sozialen Zusammenhängen und kulturellen Leben der „Mittelschicht“ ausgegrenzt worden ist, die über eine mangelnde Bildung verfügt, wo die Kinder auf den Förderschulen verkommen und somit weder lesen, schreiben und rechnen können und dies auch allenfalls ansatzweise erlernen, die Jugendlichen keinen Hauptschulabschluss bekommen und häufig die Schule schwänzen, schon als Kinder vor der Pubertät kriminelle Delikte begehen, in verwahrlosten und verlotterten Haushalten leben, in denen die Sexualität völlig frei ausgelebt wird, wo die Kinder von den häufig schwanger werdenden Müttern von verschiedenen Vätern abstammen, die sich aber verschwinden, sobald e die Schwangerschaft fest steht, um keine Alimente zahlen zu müssen, wo alle Erwachsenen wie Kinder eine schlechte Ernährung erfahren, zumeist nicht die Zähne putzen und sich daher schon bald viele Krankheiten einstellen, die dann später chronisch werden, und wo die Arbeitslosigkeit unter den Erwachsenen den Standard darstellt sowie die Perspektivlosigkeit das Lebensbild aller dieser Menschen bestimmt. Es handelt sich dabei in den entsprechenden Großstadt-Regionen in Deutschland, wie etwa bestimmte Stadtteile in Berlin und in vielen weiteren Großstädten in Ostdeutschland, dazu in vielen Stadtteilen im Ruhrgebiet, einigen Hamburg, Köln, Frankfurt, Stuttgart, München und weiteren Städten um die gesellschaftlich Abgehängten, für die der deutsche Staat nichts anzubieten hat, um vom Kleinkindalter an eine vernünftige Erziehung und eine Bildungsförderung zu bewirken, wie sie in anderen Staaten der „westlichen“ Welt weitgehend üblich ist. Diese gesellschaftliche Unterschicht besteht zu einem erheblichen Teil aus einer immer größer werden Anzahl deutscher Personen ohne Migrationshintergrund, wozu noch ein nicht geringer Teil bestimmter Migranten hinzukommt, die auf eine ähnlich bildungsferne Weise ebenso vom gesellschaftlichen und kulturellen Leben der sog. Mittelschicht abgehängt worden sind. Dieser Teil der Darstellung entspricht, wie auch die Charakterisierung der Oberschicht, ganz offensichtlich den Tatsachen, zumal der Autor neben eigenen Begegnungen mit Teilen dieser Unterschicht - im Gegensatz zur unnahbaren Oberschicht - auch auf zahlreiche Aussagen jener Personen, Institutionen und Wissenschaftler zurückgreifen konnte, die sich mit diesen sozialen Brennpunkten befassen. Mit Recht betont der Autor daher auch, dass die Unterschicht kulturell ausgegrenzt oder abgehängt worden sei und aus eigener Kraft dieses soziale Ghetto auch nicht verlassen könne.

Aber nun stellt Walter Wüllenweber eine These auf, der ich nicht zu folgen vermag. Er behauptet nämlich, dass es weder der Oberschicht noch der Unterschicht an Geld fehle, wenn beide sich dem gesellschaftlichen Gefüge entziehen würden und zu seiner zunehmenden Zerstörung der Gesellschaft beitragen würden und es somit bei der Unterschicht nicht die soziale Lage sei, die sie benachteiligen würde, sondern lediglich die kulturelle Ausgrenzung. Hier habe ich das Gefühl, dass der Autor viel zu dick aufträgt und dass dabei auch noch ziemlich falsch. Das geht auch aus einigen anderen seiner eigenen Ausführungen hervor. Denn die Oberschicht der Superreichen betreibt das Geschäft der Bereicherung vor allem über Bankenspekulationen und der damit der verbundenen bewusst gewollten Zerstörung der Marktwirtschaft, die nämlich auch sozial gestaltet werden könnte, und schwimmt so in ihrem Reichtum, dass sie vielfach gar nicht weiß, was sie noch alles mit dem Geld neben Sammlungen von Segeljachten, alten Hochglanzautomobilen, Kunstsammlungen, teuersten Schmucksammlungen aus Gold und Brillanten weiter damit anfangen soll. Demgegenüber betreibt die Unterschicht ihre Ausgrenzung gar nicht bewusst und absichtlich, sondern wird in diese unsägliche Situation durch das sozial ungerechte System hineingetrieben. Zudem bekommt die Unterschicht letztlich auch nur Bezuschussungen, die als Gesamtsumme für den Lebensunterhalt weit unterhalb von 800 Euro, zumeist sogar unterhalb 600 Euro oder nur bei 450 Euro liegen. Kein Wort verliert der Autor außerdem darüber, dass in Deutschland der Grad der Verschuldung immer mehr zunimmt und rapide ansteigt und dass dies vor allem diese untersten Schichten betrifft, die sich zwar mit zwei oder drei Fernsehern in ihren Wohnungen einrichten, wobei der Fernseher als sog. Grundausstattung übrigens nicht gepfändet werden dar, sich mit elektronischen Geräten und mobilen Kommunikationsmitteln für die Kinder und Erwachsenen eindecken, die ihnen billig angeboten werden, dann aber ihnen von Hilfsorganisationen besorgte Herde oder Waschmaschinen in den Wohnungen nicht anschließen können, weil dazu einige Teile fehlen oder der Platz in der Wohnung fehlt. Und außerdem kommt es gerade in dieser Unterschicht immer öfter dazu, dass der Strom vom jeweiligen Stromanbieter abgestellt wird, weil diese Menschen aufgrund der Verschuldung keine Stromrechnungen zahlen können und das Handy oder heute zunehmend das iPad das abgeschaltet wird, weil die fälligen Raten nicht mehr gezahlt werden, und einiges mehr.

Zudem lässt sich der Autor sodann groß über die sog. Hilfsindustrie aus, die diesen unteren Schichten und Behinderten, darunter auch überwiegend Lernbehinderte, helfen sollen, dies aber nur sehr unzulänglich tut, dafür aber vom Staat dennoch große Summe an Geldern (Steuern aus der „Mittelschicht“) erhält. Es ist dies in der Tat ein aufgeblähter Apparat von über zwei Millionen Beschäftigten in allen diese Einrichtungen, die davon gut leben können. Und dieser immer mehr anwachsende Sektor entzieht der übrigen Wirtschaft und besonders dem Staat einen immer größeren Teil an Geldern und stellt inzwischen den größten eigenständigen Markt in Deutschland dar, aber mit wenig Effizienz für die betroffene Unterschicht. Dieser boomende und aufgeblähte und anwachsende Teil der Hilfsindustrie von der Caritas über das Diakonische Werk, die Arbeiterwohlfahrt, die anderen Hilfsorganisationen bis zu immer kreativ neu geschaffenen sog. sozialen Hilfeangeboten, die allesamt als sog. gemeinnützige Unternehmen nur so aus den Boden schießen und ihren Investoren und Mitarbeitern ein gutes Geld bescheren, machen bezogen auf die wirklich zu lösenden Probleme in den Unterschichten wenig Sinn und heben auch ihren mangelhaften Lebensstandard nicht an. Es ist dies ein großer sog. Sozialtransfer, wie der Autor dies bezeichnet, der aber tatsächlich weitgehend für die Unterschichten verpufft. Wenn also, wie der Autor mehrfach in seinem Buch betont, angeblich genug Gelder für die Unterschicht durch den staatlichen Sozialtransfer vorhanden seien, dann fließen diese Gelder ganz überwiegen in diese sog. Hilfsindustrie selbst und versickern dort, kommen aber als finanzielle Unterstützung und bei der Erziehung und Bildungsförderung der Unterschicht nicht an, weil die Politiker diese Mängel einfach nicht richtig wahrnehmen und keine Konzepte zu ihrer Abhilfe beitragen, wie auch alle Schulund Bildungsstudien seit PISA Anfang des 21. Jahrhunderts bis heute immer wie4der belegen. Ich muss hier dem Autor also vorwerfen, die Unterschicht und die Hilfsindustrie einfach pauschal in einen Topf geworfen zu haben, wenn er davon spricht, dass auch in der Unterschicht genug Geld vorhanden sei und es nur an den kulturellen und vor allem bildungsbezogenen Brüchen liegen würde, dass sie immer unten bleiben und sich in Deutschland diese Situation auch immer mehr verfestigen würde. Hier war dem Autor wohl ganz offensichtlich der gewünschte Sensationseffekt gegenüber den von ihm als „unwissend“ bezeichneten Leser(inne) wichtiger als eine saubere und somit getrennte Analyse, wobei der er zudem einige weitere wichtige Faktoren, die auf die Unterschicht im negativen Sinne zutreffen, einfach weggelassen hat.

Ansonsten hebt der Autor aber durchaus richtig hervor, dass sowohl die reiche bis reichste Oberschicht als auch die kulturell, und ich füge hinzu auch sozial, abgehängte Unterschicht beide in Parallelgesellschaften leben, die mit dem übrigen gesellschaftlichen und kulturellen Leben, der für die sog. Mittelschicht gilt, nichts zu tun hat. Und wie schon gesagt ist es ein weiteres Manko des Autors, diese Mittelschicht nicht weiter differenziert zu haben, was durchaus sinnvoll gewesen wäre, allein schon um auf die dabei auch zunehmend immer mehr prekäre Situation bestimmter Gruppen und Bevölkerungsteile hinzuweisen, die nämlich auch in die Unterschicht absacken können, was zum Teil in den letzten 20 Jahren auch schon merkbar der Fall gewesen ist.

Es ist dies also einerseits ein durchaus wichtiges Buch, das vielen auch die Augen öffnen dürfte für soziale Probleme, die sie bisher in Deutschland zu wenig beachtet haben und die sich teilweise in ähnlicher Weise auch in anderen Staaten vollziehen. Es ist dies zugleich aber auch eine Publikation mit einigen Haken und Ösen und somit einigen fragwürdigen Thesen und oberflächlichen Analysen, die weiterer Argumentationen und Differenzierungen bedurft hätten.

Norbert Cobabus


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Landolf Scherzer: Stürzt die Götter vom Olymp
Das andere Griechenland. Aufbau Verlag, Berlin 2014. 320 Seiten, 19,99 EUR


Wer hierundheute posaunt: „Stürzt die da oben aus ihren Sesseln!“, der kann das doch nur im Scherz meinen, muss also ein Scherzer sein. Denn die auf dem Olymp hoch droben thronen, schweben über den Wolken, unerreichbar. Ob er die fast 3000 m hohen Gipfel des Weltberges, der die Götter von den Sterblichen trennt, vom Hafen Thessalonikis aus überhaupt eines Blickes gewürdigt hat, verrät Scherzer Landolf in seiner Griechenlandreportage nicht. Die sich da unten mit den Lasten der Krise herum zu schlagen haben, die sind ihm wichtig. Seine Lust auf Lebensgeschichten hat sich der nun schon angejahrte Egon-Erwin-Kisch-Jünger quick erhalten. Man muss wohl dazu geboren und gehörig auch außerhalb der Thüringerwald-Wahlheimat bewandert (zudem bisweilen auch einigermaßen trinkfest) sein, um es zu schaffen, dass sich wildfremde Zeitgenossen bereitwillig öffnen.

Zu Wort kommt ausnahmslos, wer nicht Bla-Bla zu bieten hat, so z.B. die auf eine Mindestbesoldung herabgestufte Germanistikprofessorin, der honorige Patron einer Armeleute-Absteige, die auf eigene Faust weiterwirtschaftenden Arbeiter einer abgewickelten Chemiebude, der illegale Asylant, mit Billiglohn abgespeiste ausländische Arbeitskräfte in einer umzäunten Touristenhochburg, der auf dem Nebensitz im Flieger eine griechische Zeitung lesende Gefäßchirurg aus dem Klinikum Berlin-Buch, die durch hirnrissige behördliche Auflagen schikanierte Betreiberin eines Kaffeeshops, der ehemalige Banker und jetzt Manager einer Gemeinschaft nebenher gratis praktizierender Ärzte, der 59-jährige drogenabhängige Suppenküchengänger, dem die 250.- Euro Rente seiner 90 Jahre alten Mutter die ganze Stütze sind, die jüdische Optikerin, die sich dafür entschuldigt, dass das einst gegenüber Ihresgleichen meistgebrauchte Wort „Scheiße“ ihr nun selber rausgerutscht ist, das griechisch-schweizerische Ehepaar, das mit dem Verkauf ökologischer Farben made in Germany nicht mehr über die Runden kommt, und nicht zu vergessen: der Doktorand, der sich mühsamst – wie dort üblich: freiberuflich - als Gerichtsdolmetscher durchschlägt, den Autor begleitet und auf Anhieb mit ihm harmoniert. So bunt zusammen gewürfelt diese Informantenschar auch ist (alle werden mit ihrem Namen, viele mit einem Porträtfoto vorgestellt), stimmt im Grunde genommen jeder einzelne irgendwie mit Pater Georgios von der Kirche des heiligen Minas überein, der als seine Weisheit dem ungläubigen Besucher mit auf den Weg gegeben hat: „Gott ist zwar der Einzige, der Wunder vollbringen kann, aber wir Priester, seine Diener, dürfen ihm dabei manchmal auf Erden behilflich sein. Doch heute sind für viele Menschen - vor allem im westlichen Europa - das Geld und die Banken die neuen Priester.

Aber sie können nur Wunder für die Reichen vollbringen. Die Armen hoffen vergeblich.“ Mit einem Jesus-Christus-Syndrom, der Bereitschaft, sich Hilfsbedürftigen zuzuwenden und füreinander da zu sein, scheinen jede Griechin und jeder Grieche geboren zu werden. Also ist Griechenland nicht verloren und wird auch nicht verloren gehen? Wenn jemand nach all den dargebotenen Auskünften und den hinzu genommenen Informationen kundiger Gewährsleute (Konstantin Wecker, Asteris Koutoulas, Stephan Kaufmann) fragt, was aus widerständigen Tugenden geworden ist, die sich einst gegen Türkenherrschaft, nazideutsche Barbaren, fremde Bevormunder, Peiniger aus dem eigenen Land vielfach bewährt haben (als einer dieser zahllosen namhaften wie namenlosen Heroen wird Mikis Theodorakis gewürdigt), bleibt freilich ein großes Fragezeichen stehen. Die das blauweiße Staatsschiff ins Schlingern gebracht haben, besetzen auch weiterhin die Kommandobrücke und zeigen sich zu keinem Kurswechsel imstande. Außerstande (oder nicht gewillt?) zeigen sie sich auch, alle um die Zukunft Besorgten gegen den zunehmenden Rechtsdrall zu vereinen. Dass sich Sprecher der „Goldenen Morgenröte“ dem Reporter verweigerten, spricht nur für ihn. Um deren Parolen einzufangen, brauchte er übrigens nicht erst nach Thessaloniki zu reisen. In der Umgebung von Lohmen, dem Ort seiner Kindheit in der Sächsischen Schweiz, treiben die gleichen Typen ihr Unwesen.

Wenigstens gelingt denen, die im Lande das Sagen haben, jedoch eine allgemeine Vernebelung nun nicht mehr so ohne weiteres. „Ich kenne keinen Griechen, der sich heute nicht für Politik interessiert. Schließlich entscheiden inzwischen europäische und griechische Politiker im Auftrag der Finanzgewaltigen dieser Welt, wie viel ein Grieche verdient, ob er eine Arbeit und eine Wohnung hat und sich noch etwas zu essen kaufen kann“, lautet die Stimme eines Arztes in diesem Buch, das dazu angetan ist, uns die Augen zu öffnen. Und wer seinen Blick noch weiter schärfen will, dem seien die ins Deutsche übersetzten, tiefer lotenden sozialkritischen Erzählungen (aus dem Romiosini Verlag, Köln 2006) des einst als „anarchoautonom“ abgetanen Dimitris Nollas wärmstens empfohlen. Landolf Scherzer ist es mit seinem Griechenlandbuch nicht gelungen, dass Kleingeister, die noch unlängst meinten - und das ist ganz gewiss nun kein Scherz -, ihn „Jammerossi“ tadeln zu sollen, das auch weiterhin tun. Siehe da, auf einmal (s. Der Spiegel) ist er geadelt als der, der er doch schon längst war: „Spezialist für Recherchen vor Ort“.

Horst Möller


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Safiye Can: Das Halbhalbe und das Ganzganze
Kurzgeschichte. Literatur-Quickie, Hamburg 2014.

»Hab dich vermisst. Und alleine rauchen ist blöd!«

Safiye Can, der mit ihrem starken Lyrikband „Rose und Nachtigall“ ein großes Debüt in der Literaturwelt gelang, kann auch, um mich salopp auszudrücken, Prosa.

Ein nächstes, wie ich denke, gelungenes Debüt in der Welt der Erzähler, das mich als Leser beschäftigt und mich auf fast magische Weise verleitet, die als Kurzgeschichte deklarierte Erzählung „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ immer neu und anders zu lesen und zu hinterfragen und zu interpretieren.

Es geht um zwei junge Menschen, eine Frau und einen Mann, die ein Kunstevent vor drei oder vier Jahren zusammenführte und die seitdem versuchen, ihre parallel verlaufenden Lebensläufe gemeinsam zu verstehen und ihren Standort im Leben zu analysieren. Das geschieht, von Safiye Can raffinert gemacht, in unterschiedlichen Kapiteln, deren Überschriften schon auf das jeweilige Thema hinweisen, etwa „Das Kennenlernen oder Dostojewski, Tolstoi und Puschkin“ oder „Kaffeesatzlesen“, „Der Ring“, „Die Liebe“ oder „Gisela und der Existenzialismus“.

Das Verhältnis der beiden zu einander ist vielleicht die Geschichte einer aufkeimenden Freundschaft in Fortsetzung oder auch eine Liebesgeschichte in der Schwebe, deren Ende offenbleibt.

Es geht um Friedrich, einen Mann, der eigentlich einen anderen Namen trägt, aber von Sofia, der Frau, Friedrich genannt wird und es einvernehmlich hinnimmt.

Sofia, man merkt es schnell, trägt autobiografische Züge der Dichterin Safiye Can, die, wie hinreißend, als Übersetzerin eines Gedichtes von Nazim Hikmet „Wie Kerem“

zitiert und geoutet wird und mit diesem Schachzug den Kreis zu ihren Gedichten schließt. Beim Lesen des Erzähltitels musste ich unwillkürlich an die Wutrede des Fußballlehrers Trapattoni denken, entdeckte aber während der Lektüre die politische Dimension, die trotz allen Ulks ernsthaft hinter dem Titel „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ steckt. Denn beide Protagonisten wurden in Deutschland geboren, haben aber türkische Eltern. So versteht sich Friedrich als halbhalb, Sofia aber als ganzganz trotz ihrer Abstammung. Aber sie geraten nicht in Streit deswegen, vielleicht weil Sofia ihren Anfangssatz vergessen hat.

In vielen Kapiteln der Erzählung kommt mir Friedrich wie die beste männliche Freundin Sofias vor, ebenso wie Sofia der beste weibliche Freund zu werden scheint, weil bis auf eine Umarmung die Körperlichkeit, die jede Liebe vollendet, zwischen den beiden aus- geblendet bleibt.

Das mag ein dramaturgischer Trick sein, die den Umgang der beiden miteinander und ihren Gedankenaustausch offener und ehrlicher macht, frei von Korruption. Wir erfahren viel vom Denken und Fühlen einer Generation der zwanzig bis vierzig Jährigen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und den Hintergründen des Hierseins des Hierseins und Lebens in Deutschland, als halbhalb oder ganzganz.

Beide Protagonisten haben ihr Studium abgebrochen, wollen unangepasst leben, sind junge Menschen im Aufbruch, geprägt von Traditionen, die sich langsam aufzulösen scheinen in ihren Köpfen, obwohl sie nicht völlig von ihnen lassen können. So wird ein türkischer Selbstmörder, Friedrichs bester Freund, nicht in seiner Heimat, der Türkei begraben, sondern in deutschem Boden. Ein Hodcha ist am Grab dabei, der in seiner Rede klagt, dass Selbstmord Sünde sei.

Beide Protagonisten sind gebildet und, gut unterrichtet, unterwegs in den Weltkulturen, haben Tolstoi, Dostojewski, Nietzsche, Satre, Beckett und Camus gelesen, lieben Kino, Klassische Musik und das Pink Floyd-Album „A Momentary Lapse of Reason“.

Sie machen Selbstversuche mit Alkohol, konsumieren Mehl als Koks und Friedrich lässt sich für die Hochzeit eines Freundes, ein Halbhalber - halb deutsch und halb Armenier-, einen Kilt anfertigen, während Sofia ihm ein Kurzmitteilung schickt: „Hab dich vermisst. Und alleine rauchen ist blöd!“

Safiye Cans Erzählung, ist witzig, lakonisch, aber auch intensiv, dass trotz aller Leichtig- keit ihrer erzählerischen Sprache der Leser innehält und erst einmal, nachdenklich geworden, durchatmen muss. Und letztendlich, komme ich auf den Anfang zurück, ist diese Erzählung doch auch eine sanfte und zärtliche Liebesgeschichte.

„- Was ist mit „Ich liebe dich“?, fragt er. – Ach, „Ich liebe dich“ ist viel zu überwertet, sage ich. Außerdem, „Ich liebe dicht“, sagt man nicht, „Ich liebe Dich“ zeigt man.

– Spricht das deine deutsche oder deine türkische Seite, fragt er.

– Meine Menschenseite, antworte ich. Und ich weiß, dass Friedrich weiß, dass es in der Liebe keine Seite gibt. Kein Alter, sage ich, keine Herkunft, keine Logik und keine Podiumsdiskussionen.“

Wie gesagt, Safiye Can kann auch Prosa und wie!

Michael Starcke


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Manfred Sohn: Am Epochenbruch
Varianten und Endlichkeit des Kapitalismus. PapyRosa Verlag, Köln 2014. Neue Kleine Bibliothek 198. 200 Seiten, 14,90 Euro


Manfred Sohn entwickelt die These, die tiefe Krise der Gegenwart werde noch gravierendere Auswirkungen haben als die „Große Depression“ ab 1873 oder die Weltwirtschaftskrise nach 1929. Am Ende derselben standen große Kriege und anschließend ein erneuerter Kapitalismus. Die jetzige Krise, so Sohn, werde dieses System aber nicht überleben. Es ersticke an seiner eigenen Produktivität und pralle auf seine „innere Schranke“. Den Ausweg aus der drohenden Barbarei könne nur ein neuer Sozialismus bilden. Anders als derjenige nach 1917 könne dieser aber nicht in hohem Maße zentralisiert sein. Ausgehend von den heutigen wirtschaftlichen und technologischen Bedingungen müsse er vielmehr dezentrale Formen annehmen und die Macht an demokratisch gewählte Räte in den Betrieben und Kommunen übergeben. Wir seien Zeugen des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Epoche, stünden am Bruch des alten und vor dem Sprung in ein neues Zeitalter. Absprung- und Zielpunkt versucht dieses Buch zu bestimmen.

Im Vorwort des Bandes pointiert der Autor, Jahrgang 1955, Versicherungsangestellter, bei ver.di aktiver Gewerkschafter, von 2008 bis 2013 Mitglied des Niedersächsischen Landtages für die Partei DIE LINKE, diverse Buch- und Zeitschriften-Publikationen:

Die Geburtsurkunde der an Karl Marx und Friedrich Engels orientierten Bewegung ist das „Kommunistische Manifest“. Es besteht zu einem erheblichen Teil in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Varianten, die unter dem damals noch unverbrauchten Begriff des „Sozialismus“ auftraten. Sie geißeln dort unter anderem den „konservativen oder Bourgeoissozialismus“, der „wünscht den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern.“*

Dies ist nicht das Anliegen des vorliegenden Buches. Es spricht nichts dagegen, mit politischen Mitteln zu versuchen, „sozialen Missständen abzuhelfen“. Im Nachhinein zu Recht war das trotz anderer Intentionen sogar das Hauptergebnis des Wirkens revolutionärer, auf die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft zielender Menschen zumindest in allen kapitalistischen Hochburgen, also den USA, Japan, England, Frankreich und (West-)Deutschland.

„Zu Recht“ steht hier deshalb, weil alles eben seine Zeit braucht. Das Wirken für einen revolutionären Bruch, für den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Epoche der Menschheit war immer richtig. Aber erst jetzt - das ist die Kemthese dieses Buches - haben sich im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft selbst die Voraussetzungen herausgebildet, diesen Übergang tatsächlich zu voll ziehen. Das unterscheidet unsere Zeit fundamental von der im Jahre 1871, als in Paris ein sozialistischer Anlauf genommen wurde, oder der im Jahre 1917, als in Petrograd in Russland ein weiterer Anlauf zum Sozialismus begann.

Es entwickelt sich aber nicht nur die Möglichkeit eines EpochenWechsels. Es entwickelt sich - das ist die zweite Kemthese dieser Schrift - auch die Notwendigkeit. Die Krise, die 2007 an den Finanzmärkten begann und sich 2008 unübersehbar zu einer der großen Krisen in der Geschichte ausgewachsen hat, wurde vielfach verglichen mit der von 1873 oder der von 1929. Auch der Autor dieses Buches hat das getan. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich: Was sich heute und morgen abspielt, geht in Tiefe und Dramatik noch über die damaligen Ereignisse hinaus. Der Kapitalismus läuft zurzeit auf die nicht nur äußerliche, sondern innere, tief in seinen ökonomischen Strukturen liegende Schranke zu, die er nicht mehr überwinden wird.

Das hat tiefgreifende Konsequenzen für linke Zielsetzungen, linke Strategie und linke Organisationsarbeit. Sie sollen hier kurz ebenfalls skizziert werden.

Weil eine solche Einsicht in die inneren Strukturen nicht auf der bildhaften Darstellungsebene von sichtbaren Entwicklungen verbleiben kann, ist das Buch vor allem im ersten Kapitel für diejenigen ungewohnt zu lesen, die bisher mit Marx noch nicht zu tun hatten. Für alle, die begreifen wollen, was gegenwärtig vorgeht, sind aber meiner festen Überzeugung nach einige Lektürestunden über den Werken von Marx, Engels und Luxemburg unentbehrlich. Wenn dieses Büchlein dazu anregt, hat es einen wichtigen Zweck erfüllt. Ich habe mich aber bemüht, das Buch lesbar auch für alle diejenigen zu machen, die das nicht schon getan haben. Es setzt also kein Marx-Studium voraus - allerdings im ersten Kapitel über das „Geld“ die Bereitschaft, sich mit diesem per se abstrakten Gegenstand intensiv zu befassen. Wer mag, kann auch die Kapitel über Kapitalismus, Minen und den Epochenbruch selbst zuerst lesen und dann zum ersten und zweiten Kapitel zurückkehren - aber zum Begreifen dessen, was in dieser als Finanzmarkt-Durcheinander daherkommenden Krise geschieht, kommt niemand um die Beschäftigung mit „Geld“ und „Kapitalismus“ herum.

* Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest, in: Marx/Engels, Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 488

   

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