XXXIII. Jahrgang, Heft 167
Sep- Dez 2014/3

 
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Letzte Änderung:
12.10.2014

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR – ATELIER

   
 
 


»Ein Mensch tritt aus dem Holz«
Horst Dieter Gölzenleuchter wurde 70

Von Friedrich Grotjahn

Wie kann man das „Gesamtwerk„ eines Künstlers beschreiben, der Holzschnitte herstellt, groß wie Türen, auch aus Türen, eben so große Stahlskulpturen, der aber zugleich ganz kleine Lyrikbände zu den Jahreszeiten herausgibt; ein Künstler, der Holzschneider, Radierer, Skulpteur, Maler, Buchkünstler, Autor und Verleger ist? –

Der Bochumer Künstler Horst Dieter Gölzenleuchter wurde am 15. April 70 Jahre alt.

Das vielleicht wichtigste Jahr in seinem Leben war das Jahr 1971. Da verließ er die Fabrik, in der er bis dahin gearbeitet hatte, wurde freischaffender Künstler. „Mit Literatur und Kunst wollten wir was bewegen„, schrieb er im Nachhinein.

Das Atelier

Sein erstes Atelier war ein eher kleiner Raum auf der „Künstlerzeche Unser Fritz„ in Wanne-Eickel.

1982 zog er um in eine von ihm instand gesetzte Hinterhof-Waschküche eines ehemaligen Zechenhauses in Bochum-Langendreer. Hier gründete er die Werkstatt „Wort und Bild„, die auch schon Veranstaltungsort war. 1983 stellte hier Karl Meffert/Clement Moreau seine Linolschnitte aus.

1994 schließlich fand er Räume im Kulturmagazin Lothringen, einem Gebäude in der stillgelegten Zeche Lothringen im Stadtteil Bochum Gerthe, einem Haus vielerlei Künste. Es beherbergt den Bochumer Kulturrat, einen der wichtigen Theater-, Musik-, und Lesungsorte der „freien Szene„ in Bochum. Und außer Gölzenleuchters Atelier gibt es dort noch weitere Atelier-Räume, sowie Kinder- und Jugendtheater-Bühnen.

In seinem Atelier kam und kommt es immer wieder zu interessanten Begegnungen. Im Jahr 1996 war die indische Künstlerin Sajitha Shankar dort drei Monate lang Gast, um ihre handwerklichen Fähigkeiten in Sachen „Holzschnitt„ zu vertiefen. Höhepunkt ihres Aufenthalts, der Besuch des indischen Politikers Nayanar, Ministerpräsident des Bundesstaats Kerala, in dem Sajitha geboren wurde und Kunst studiert hat.

Edition »Wort und Bild«

1979 gab Horst Dieter Gölzenleuchter das literarische Bilderbuch „Nicht mit den Wölfen heulen„ heraus. Darin waren Texte von 47 Autorinnen und Autoren versammelt, von Heinrich Heine bis Klaus-Peter Wolf. Dieses Buch wurde der erste Band der Editionsreihe „Wort und Bild„, den Gölzenleuchter seither zusammen mit seiner Frau Renate herausgibt.

Mit einer Ausstellung im Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte, Oktober 2009, konnten sie auf 30 Jahre Edition „Wort und Bild„ mit insgesamt 79 Büchern zurück blicken. Die Umschläge der bei „Wort und Bild„ edierten Bücher zeigen je einen Originalholzschnitt Gölzenleuchters selbst, sodass er an jedem dieser Bücher auch künstlerisch beteiligt ist.

Radierung und Malerei

Dem Holzschneider sind zwei andere Techniken, die Radierung und die Malerei, als künstlerische Ausdruckmittel immer auch wichtig gewesen. Das Museum, das diesen Techniken jeweils eine eigene Ausstellung gewidmet hat, ist das Stadtmuseum der westfälischen Stadt Iserlohn.

2003 zeigte es unter dem Titel „Zeitzeugnisse – Radierungen aus 30 Jahren„ Gölzenleuchters Radierungen, die bis dahin nur sporadisch zu sehen waren.

Die Radierung erlaubte/erlaubt dem Künstler ein, dem Holzschnitt gegenüber, schnelleres Eingehen auf aktuelle gesellschaftspolitische Themen, die er oft auch zeichnerisch-satirisch angeht, wie „Zensur„, „Gesinnungsschnüffelei„, „Sexismus„, „Neonazis„, „Kollateralschaden„, andererseits aber auch die künstlerische Auseinandersetzung mit Dichtern, wie Bertolt Brecht, Wladimir Majakowskij, Erich Mühsam.

Zum Malerei gab es dort vor zehn Jahren, zum 60. Geburtstag des Künstlers, eine Ausstellung: „Malerei aus 40 Jahren„. – „Ich bin auch Maler!„ Hinter diesem fast trotzig anmutenden Bekenntnis, zeigte sich ein überraschend anderer Gölzenleuchter als man ihn bis dahin kannte. Nicht, dass ihn in der Malerei sein linkspolitisches Engagement verlassen hätte! Immer sind es konkrete Begebenheiten, von denen er ausgeht, mit denen er sich auseinander setzt.

Eindrucksvoll die drei „Stationen zu Carl von Ossietzky„, denen gemeinsam ist, dass sie die Häftlingsnummer und den „roten Winkel„ zeigen, die von Ossietzky im Konzentrationslager als politischen Gefangenen auswiesen.

Doch daneben – und diese Zusammenstellung machte den eigentlichen Reiz dieser Ausstellung aus – hingen Bilder wie: „Blaue Stunde„, „Poetische Skizzen„, „Auf der Suche nach Farbe„, die der Maler selber mit Sätzen kommentiert wie: „Das sind poetische Sachen, die auch zum Leben gehören.„

Auffällig die mythologischen Anklänge: Der vom Himmel stürzende Ikarus, oder Sisyphos, „der den Stein nach Iserlohn schleppt„, Metaphern für ein Künstlerdasein, das immer auch mit Vergeblichkeit zu tun hat.

Etwas Besonderes ist die Reihe von Postkarten, die Gölzenleuchter im Urlaub malt und an Freunde, Bekannte, Kollegen schickt, und sie für seine Ausstellungen immer wieder einsammelt. In ihnen zeigt sich ein heiter gelassener und farbiger Gölzenleuchter.

Und eine interessante Entwicklung hat sich in den letzten Jahren ergeben, weg von der „bunten„ zur Malerei in schwarz-weiß. Horst Dieter Gölzenleuchter entdeckte die Pinselzeichnung. Und die spielt von da an eine besondere Rolle, in erster Linie in seinen Buchillustrationen.

Ausstellungen im Atelier

Immer wieder veranstaltet der Künstler spezielle Ausstellungen in seinen Atelier-Räumen, zu denen er auch andere Künstlerinnen und Künstler einlädt. So entstehen gemeinschaftliche Arbeiten zu einer Person, zu Carl von Ossietzky, Pablo Neruda, Bertolt Brecht. Am Ende, in der Vernissage, geht es dann mit einer Lesung um Texte des Ausgestellten.

Werkstattdrucke

Seit dem Jahr 2000 bringt Gölzenleuchter jedes Jahr zu Weihnachten eine Mappe mit „Werkstattdrucken„ heraus. Zusammengestellt sind darin je vier Originalgrafiken verschiedener Künstlerinnen und Künstler zusammen mit kurzen Texten von Autorinnen und Autoren.

In schöner Regelmäßigkeit findet sich unter diesen Künstlern der Österreicher Wilhelm Schramm, der in Zusammenarbeit mit dem deutschen Autor Ingo Cesaro, die „Werkstattdrucke„ mit interessant gestalteten literarisch-grafischen Blättern bereichert.

Künstlerbücher

Eine Sparte, die bislang noch nicht erwähnt wurde, sind die „Künstlerbücher„ Gölzenleuchters, von denen ich hier drei vorstellen möchte.

2008 erschien das Buch „Holzschnittgeschichten„ das in eindrücklicher Weise den Weg des Holzschneiders Gölzenleuchter vom Linolschnitt „Draußen vor der Tür„ (1966) bis zu seinem mit der Flex gearbeiteten „Baum und Mensch„ (2008) aufzeigt:

„Ohne mein Dazutun, es ist etwas im Holz. Walze es ein mit schwarzer Farbe und drucke es auf Keilrahmen, nesselbespannt. Ein Mensch tritt aus dem Holz. Habe ihn im Holz entdeckt und aus dem Holz geholt. Wer weiß, wie viele Jahre alt, zerrissen und geschnitten. Ein Bild von uns.„

Ein weiteres Künstlerbuch ist in der Zusammenarbeit mit einem einzelnen Autor entstanden: der Band mit Gedichten von Paul Schallück, den Hugo Ernst Käufer 2012 zu Schallücks 90. Geburtstag im Aisthesis Verlag herausgegeben hat. Gölzenleuchter „kommentiert„ darin die Gedichte Schallücks mit seinen Pinselzeichnungen.

Mit Hugo Ernst Käufer, Mitbegründer der Werkkreise „Literatur der Arbeitswelt„, hat Horst Dieter Gölzenleuchter seit Jahren zusammengearbeitet. In der Edition „Wort und Bild„ sind mehrere Bücher Käufers erschienen. Und zu Gölzenleuchters 65. Geburtstag hat Käufer zusammen mit dem Autor dieses Aufsatzes eine Hommage, „Schnittwege„, mit mehr als 20 Beiträgen von Freunden und Freundinnen, herausgegeben.

Zum 70. Geburtstag schenkte der schon sehr kranke Käufer ihm seine letzten, handschriftlichen, Gedichte. Hugo Ernst Käufer starb am 9. Mai. Er wurde 87 Jahre alt.

Ein Künstlerbuch der besonderen Art schuf Horst Dieter Gölzenleuchter im Jahr 2011, ein Buch mit dem schönen Titel: „Am Anfang war der Strich.„ Es geht darin um ein essayistisches Nachdenken über die Menschwerdung durch das Entdecken der Linie, der Form. Der Text und die eigens dazu geschaffenen fünf Holzschnitte verstehen sich als Aufruf, nicht alles durch die Online-Kommunikationsmöglichkeiten zu deuten und sich damit im wahrsten Sinne des Wortes „aus der Hand nehmen„ zu lassen.

„Werkstattdrucke„ – bislang (2013) 14 Ausgaben, Edition Wort und Bild, Bochum. 40,– ¤. Die „Werkstattdrucke„ können abonniert werden.

Künstlerbuch „Holzschnittgeschichten„. Edition Wort und Bild, Bochum 2008. 25,– ¤.

Künstlerbuch „Paul Schallück, Hierzulande und anderswo„, Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hugo Ernst Käufer. Pinselzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012. 19,80 ¤.

Künstlerbuch „Am Anfang war der Strich„. Edition Wort und Bild, Bochum 2011. 70,– ¤.

Edition Wort und Bild, Hustadtring 31, 44801 Bochum. hdgoelzenleuchter@web.de Tel. 0234/70 44 91


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Dichter der Bukowina

Mihai Eminescu – Der letzte europäische Romantiker

Von Erich Rückleben


In der „Czernowitzer Allgemeinen Zeitung„ war im Oktober 1927 zu lesen, dass die Grundlage für das spätere Schaffen Eminescus während seiner Schulzeit in Czernowitz gelegt wurde. Von grundlegender Bedeutung für den Schüler sei der innige Kontakt mit der deutschen Kultur und Literatur gewesen. Hervorgehoben wird insbesondere sein Lehrer Ernst Rudolf Neubauer am deutschsprachigen Gymnasium in Czernowitz, von dem Eminescu nicht nur Latein-und Geschichtskenntnisse erwarb, sondern ebenso zur deutschen und rumänischen Literatur hingeführt wurde. Unter dem Einfluss Neubauers und dessen humanistischer Bildung war zweifelsohne für den Schüler Eminescu ein nachhaltiger Schub in Richtung zum Dichterischen gegeben. Es war ein Prozess in Gang gesetzt worden, dessen Entwicklung freilich noch nicht abzusehen war und erst viel später während seiner Studienzeit in Wien Früchte tragen sollte. Aber zunächst nach Czernowitz zurückgekehrt und den Fokus auf Eminescus schulische Leistungen gerichtet, mit denen er durch sein einseitiges Interesse an Literatur und Geschichte nicht einmal zum Durchschnitt gehörte. Herausragende Leistungen hingegen erzielte er mit einer einzigartigen, noch nie da gewesenen Benotung in seinem Lieblingsfach Geschichte. Aber ebenso ausgeprägt war sein Interesse für Literatur als auch sein Hang zum Schauspiel. Geradezu begeistert von der Mimenkunst, hatte Eminescu unter Mitwirkung seiner Klassenkameraden wiederholt kleine Theaterstücke aufgeführt, und diese Begeisterung führte so weit, dass er im April 1864 seinen Schulbesuch abbrach und sich einer Wanderbühne, die gerade in Czernowitz gastierte, anschloss. Als er nach einigen Monaten zurück kam und seine unterbrochene Schulbildung fortsetzten wollte, dies jedoch mit einer Prüfung verbunden war, auf die er sich vorbereiten sollte, gab er jeden weiteren Gedanken an Schule auf, lebte noch einige Zeit in Czernowitz, um sich dann in Richtung Siebenbürgen zu verabschieden. Hier schloss er sich abermals einer wandernden Schauspieltruppe an, die ihn als Kopisten, Übersetzer und Souffleur beschäftigte, bis er dann am Bukarester Nationaltheater eine Anstellung als Souffleur fand. Allein schon diese Nähe zum Theater, war für ihn, der Schiller über alles liebte, ganze Passagen aus seinen Dramen gespeichert hatte und rezitierend abrufen konnte, ein weiterer Meilenstein auf dem Weg hin zu sich selbst, zum Schreiben, seinem eigentlichen und eigenen Betätigungsfeld.

In einem kleinen Dorf in Nähe der moldauischen Stadt Botosani wird der Dichter unter dem Namen Michael Eminovici am 15. Jänner 1850 geboren. Erst Mitte der 1860er Jahre nannte er sich Mihai Eminescu. Eine Namensänderung zu der es kam, weil der Herausgeber der rumänischen Zeitschrift „Die Familie„, Iosif Vulcan, welcher sein erstes Gedicht veröffentlichte, seinen slawisch klingenden Namen nicht mochte. Er war das siebte von elf Kindern des Gutbesitzers Gheorghe Eminovici und dessen Ehefrau Raluca. Eminovici entstammte einem wohlhabenden Bauerngeschlecht, das sich über mehrere Generation im Bereich Sucsawa (Südbukowina) aufgehalten hatte, ehe er um 1830 nach Ipotesti dem Geburtsort Mihai Eminescus übersiedelte und sich als Pächter eines Gutes niederließ. Zu Eigentum, sprich zu einem Gutshof mit gleichzeitiger Erhebung in den Bojarenstand, kam Gheorghe Eminovici, durch die Heirat mit der Tochter eines Bojaren (Großgrundbesitzer im alten Rumänien). Bis zu seinem achten Lebensjahr hielt sich Mihai Eminescu hier auf, um dann zunächst eine rumänisch-orthodoxe Konfessionsschule in Czernowitz zu besuchen und anschließend auf das deutschsprachige Gymnasium der Landeshautstadt zu wechseln. Obgleich er, wie schon erwähnt, hier entscheidende Impulse für sein Leben erfuhr, scheint ihm das Umfeld „Schule„ nicht behagt zu haben, denn wiederholt nahm er Reißaus in heimatliche Gefilde, was auf den Unmut seines Vaters stieß, der ihn dann mit einer Tracht Prügel versehen, wieder nach Czernowitz brachte. Als er dann 1864 abrupt das Gymnasium verließ, sich vom Schulzwang befreite und sich als 14-Jähriger, unausgereifter pubertärer Halbwüchsiger einer reisenden Schauspieltruppe anschloss, forderte er einmal mehr den Zorn seines Vaters heraus, der war jedoch machtlos, denn sein Sohn hatte sich seinem Zugriff entzogen und ging jetzt eigene Wege. Fast fünf Jahre, mit einer kurzzeitigen Rückkehr nach Czernowitz, war Mihai Eminescu mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten unterwegs, bis sein Vater ihn im Jahre 1869 aufspürte und mit der Absicht nach Wien schickte, den jetzt 19-jährigen Philosophie studieren zu lassen. Als Anreiz hatte er seinem Sohn finanzielle Unterstützung zugesagt, dabei jedoch nicht bedacht, dass ein Studium ohne Matura gar nicht möglich war. Anscheinend sind aber Dokumente vorhanden, welche die Immatrikulation Eminescus beweisen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er als Gast an Vorlesungen teilnahm. Dabei beschränkte er sich keinesfalls nur auf Philosophie und Geschichte, sondern weitete seine Teilnahme an Vorlesungen über Finanzwesen bis hin zur Gerichtsmedizin und Biologie aus. Aber er war nur ein seltener Gast in Hörsälen, vielmehr behagte ihm, das zurückgezogene private Studium in den eigenen vier Wänden, inmitten seiner Bücher. Die Wiener Zeit aber war eine fruchtbare Zeit für den Dichter, der von vielen Seiten Anregungen und Inspirationen erhielt, sich erstmals eingehend mit der Philosophie Schopenhauers befasste und von dessen pessimistischer Weltsicht tief beeindruckt zeigte. Zu beeindrucken aber wusste er im Jahre 1870 den rumänischen Politiker Titus Maiorescu mit einem Gedicht, das in der Literaturzeitschrift „Literarische Gespräche„ in Jassy erschienen war, und dies so nachhaltig, dass er von jetzt an bis zum Lebensende des Dichters seine schützend Hand über ihn hielt und ihn unterstützte, wo immer er nur konnte. Maiorescu, der auf die Förderung rumänischer Literatur und Kultur großen Wert legte, sah in Eminescu den Nationaldichter par excellence, der mit seinem Sprachtalent allen Anforderungen eines großen rumänischen Dichters gerecht wurde. Eine Voraussage, die sich bestätigen sollte und bis heute hin ihre Gültigkeit nicht verloren hat.

Nach Wien war die nächste Station Berlin, wohin ihn die rumänische Literaturgemeinschaft „Junimea„ mit der Auflage geschickt hatte, hier Philosophie mit abschließendem Doktorat zu studieren. „Junimea„ übernahm auch die Finanzierung des Studiums und Titus Maiorescu besorgte, auf welchem Weg auch immer, das notwendige Dokument zum Nachweis seiner Reifeprüfung (Matura). Und, Maiorescu hatte in Jassy schon einen Lehrstuhl für Eminescu vorgesehen. Zwei Jahre, von 1872 bis 1874, hielt Eminescu sich in Berlin auf, ohne jedoch das erwünschte akademische Ziel erreicht zu haben, kehrte er in seine Heimat zurück. Er lässt sich in der moldauischen Hauptstadt Jassy (Iasi) nieder, arbeitet in der Zentralbibliothek, ist als Hilfslehrer beschäftigt und betätigt sich als Zeitungsredakteur. In Jassy hielt es ihn jedoch nur drei Jahre, um dann 1877 nach Bukarest umzusiedeln und in Diensten der Zeitung „Timpul„ als Redakteur bzw. Chefredakteur zu wirken. Eine Aufgabe, die ihn auf Dauer womöglich überforderte, aber nur vielleicht, wenn man den Gerüchten nachgeht, die im Juni 1883 zu seinem Nervenzusammenbruch geführt hatten. Eine Reihe von nicht belegbaren Vermutungen bis hin zu einem politisch motivierten Zum-Schweigen-bringen, sind bis heute nicht verstummt, wenn Nicolae Gerorgescu in der Zeitschrift „Lumea„ vom Dezember 2006 seinen Artikel zu den Vorgängen an jenem Tag mit dem Titel überschreibt: „Wie wurde Eminescu am 28. Juni 1983 verhaftet„. Näher an der Wahrheit dürfte die Tatsache sein, dass an diesem Tag eine beginnende Geisteskrankheit ausbrach, die immer wieder Aufenthalte in Sanatorien zur Folge hatte und sich zunehmend verschlechterte. Zwischenzeitlich suchte er Erholung in Italien und hielt sich für kurze Zeit in Bukarest auf, versuchte sich als Hilfsbibliothekar, musste sich einmal mehr in klinische Behandlung begeben und starb am 15. Juni 1889 in einer Bukarester Klinik. Ein ruheloses, von Zerrissenheit geprägtes Leben hatte mit 39 Jahren ein Ende gefunden. Sein Leben war ein permanenter Kampf zwischen den Anforderungen der Realität und einer geistigen Sphäre, in welcher der Romantiker, Dichter und Poet lebte. Dieser Kampf hatte ihn zermürbt und unter das Joch unvereinbarer Gegensätze gezwungen, unter deren Last er schließlich zusammen brach.

Bleibt noch das Kapitel „Frauen„ im Leben des Dichters zu erwähnen, der schon in jungen Jahren eine Beziehung zu einem Mädchen aus Ipotesti hatte, in Bukarest zwei Liebschaften unterhielt, in Berlin ein Verhältnis gegen seine Regel, mit einer Frau aus bürgerlichen Milieu eingegangen war und die Vermutung liegt nahe, dass außer den genannten, eine Reihe weiterer Unbekannter hinzukommen. Die Liebe seines Lebens aber war Veronica Micle, eine verheiratete Frau die er einst in Wien kennen gelernt hatte, von der er nicht los kam und nach der sich immer wieder hingezogen fühlte. Die Chance zu einer Verbindung (Ehe), ergab sich als ihr Ehemann verstarb, Eminescu jedoch schreckte vor einer festen Bindung aus Gründen zurück, die vermutlich in der Veränderung seines Frauenbildes Lagen, welches nicht mehr identisch mit seinem romantischen Ideal war. Seine Vorstellung von der Frau als Erlöserin, einem besseren Wesen schlechthin, hatte einen Bruch bekommen. Eminesco dichtete seinen Frauen alle jene Eigenschaften an, die er sich wünschte, den gütigen Engel, die sanfte Seele bis hin zur personifizierten Göttlichkeit, und war maßlos und bitter enttäuscht, wenn er auf den wirklichen Menschen mit all seinen Schwächen und Fehlern traf. Er fühlte sich belogen und betrogen und reagierte nicht nur mit Enttäuschung, sondern vielmehr noch mit Verachtung bis hin zum Hass. Die romantische Verklärung der Frau, ein Phantasieprodukt des Dichters, findet in vielen seiner Gedichte Niederschlag, in denen er anbetend sein Ideal verherrlicht und in späteren Jahren umso mehr verteufelt. Die pessimistischen und sarkastischen Töne in seinen Gedichten nahmen auffallend zu, nachdem Eminescu seiner Geliebten Veronica Micle eine Absage in Sachen Ehe erteilt hatte.

Sein erstes Gedicht veröffentlichte Mihai Eminesco anlässlich des Todes seines Czernowitzer Lehrers Aron Pumul im Jahre 1866 in einer Schülerzeitschrift. Noch im gleichen Jahr folgte ein weiteres, das in einer Bukarester Zeitschrift heraus kam. Weitere Gedichte erschien in der Zeitschrift „Convobire literare„. Aber obgleich Eminescu in seiner Lyrikproduktion äußerst aktiv war, blieb es immer nur bei Einzelveröffentlichungen seiner Gedichte, die verstreut in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Zu Lebzeiten des Dichters war ein einziger Sammelband herausgegeben worden. Eminescus Lyrik ist von einer klaren Sprache gekennzeichnet, einer Sprache die auch heute noch nicht veraltert ist, einer magischen Sprache mit geradezu kristallener Schönheit. Namentlich in seiner Liebeslyrik fasziniert der Dichter mit klingendem Wohllaut und melodischer Sprache. Insbesondere sind es jene Gedichte, die sich mit seiner Liebe zu Veronica Micle befassen, seiner himmlisch und irdisch Geliebten, seinem Engel und seinem Dämon. Weltschmerz, Melancholie und Pessimismus, drei Grundelemente, die das Werk des Dichters durchziehen, sind bezeichnend für die Grundsituation Eminescus, dem im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit die Balance abhanden zu kommen drohte und die Tendenz zum Nihilismus ins Fleisch zu wachsen schien. Im Bewusstsein dessen steuerte er mit allen Kräften dagegen und doch blieb es eine Gratwanderung mit der stetigen Gefahr, in die Verneinung aller und jeder Werte abzurutschen und ernsthafte Krisen heraufzubeschwören.

Durch die deutsche Philosophie und namentlich durch die Werke von Schopenhauer und Kant als auch durch Schiller, Jean Paul, Goethe, Novalis und dem Buddhismus beeinflusst, sind es insbesondere weltanschauliche und philosophische Themen mit denen sich Eminescu auseinandersetzte . Und daneben befasste er sich in Zeitungsartikeln und auch Gedichten mit der Lage seiner Nation, wird zum scharfen Kritiker der rumänischen Gesellschaft und ihren Politikern, deren schmutziges Handwerk er geißelt. Sie seien Lügner und Interessenjäger mit moralischen Defekten, charakterlos und egoistisch, wetterte der Dichter. Und er zielte mit seiner Kritik auf die Liberalen seines Landes, welche, so seine Meinung, aus dem Ausland artfremde Kultur einführten, was die rumänischen Gesellschaft an ihrem nationalen Fortschritt hindere und eine Pseudozivilisation heraufbeschwöre. Hier nun macht sich der Nationalist bemerkbar, der nicht dadurch zu entschuldigen ist, dass er mit allen Fasern seines Herzens tief in seiner Nation verwurzelt ist, aber sich fragen lassen muss: was das eine mit dem anderen zu tun hat? Heimatverbundenheit und Patriotismus muss notwendigerweise nicht Nationalismus nach sich ziehen. Deutlich wird Eminescu in seiner rechten nationalistischen und fremdenfeindlichen Haltung, in dem um 1883 entstandenen Gedicht „Doina„. Unmissverständlich bringt er hier seine politische Rechtsorientierung zum Ausdruck. Auch in dem Gedicht „Der dritte Brief„ ( Scrisoarea III-a„) wird diese Haltung spürbar und sein antisemitischer Standpunkt offenbar. Das Wort „Jude„ wird zwar nicht genannt, aber wer gemeint ist, das liest sich nur zu leicht aus den Zeilen heraus. Und gleichermaßen sind es „all die Krüppel und Verrückten aus jedwedem Nachbarlande„ die Eminescu für Abschaum und Pöbel hält, welche mit dem Mal der „Fäulnis„ und „Schande„ behaftet sind.

Seine sozialpolitische Einstellung indes hatte Eminescu schon in den Wiener und Berliner Jahren in vielen Schriften bekundet und später in seiner Eigenschaft als Chefredakteur der konservativen Zeitung „Timpul„ wiederholt und immer wieder akzentuiert offenbart. Er geht davon aus, dass insbesondere von den Liberalen soziales Elend heraufbeschworen und hemmungslose Ausbeutung betrieben würde. Der gegenwärtigen sozialen Misere stellt Eminescu die Vergangenheit gegenüber, verglorifiziert das Gestern und erinnert daran, dass das rumänische Volk einst von brüderlichem Zusammenhalt geprägt war. Scharf und beißend mit seiner Kritik wird Eminescu in seinem Gedicht „Kaiser und Proletariat„, das sich abschließend mit einer düsteren Zukunft befasst, welche der Dichter prognostiziert.

Eminescu hatte sich überwiegend von Beginn an für die epische Form des langen Gedichtes entschieden, das Erzählen in Versen, dessen Eigentümlichkeit darin besteht im Spannungsfeld zwischen dem zur Objektivierung des Gegensatzes drängenden Erzählens und dessen subjektiver Behandlung und Deutung durch den Dichter, die prosaische Wirklichkeit zu entfalten. Das Poem, sowohl Versdichtung als die Bezeichnung für das spezielle kurze Gedicht, war für Eminescu das gängige Ausdrucksmittel seine Themen zu bewältigen und stofflich zu vermitteln. Wohl eines seiner schönsten Versdichtungen ist der „Abendstern„, gleichsam ein Abgesang auf die europäischen Romantik, aber ebenso ein Appell an die entwurzelten Menschen seines Jahrhunderts. „Der Abendstern„, kommentiert Petru Mihai Gorcea, „ist und bleibt die traurige Geschichte von der inneren Zerrissenheit des modernen Menschen, dargeboten in einer verwirrenden Form: die Einfachheit der volkstümlichen Verse ist ebenso täuschend wie der Traditionalismus der poetischen Bilder. Das vordergründig Volkstümliche hat bei Eminescu tiefere Schichten, nach denen es zu graben gilt, um fündig zu werden. Bemerkenswertes findet sich im Entstehungsprozess seiner Gedichte, die er immer wieder überarbeitete, Neues hinzufügte, Altes wegnahm, nach neuen Formulierungen suchte, andere sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten ins Auge fasste und sich überhaupt schwer tat einen endgültigen Guss zu finden. Letztlich verlor er dann gänzlich die Übersicht und auch so manches Manuskript aus den Augen. Es stellte sich Unordnung ein, die namentlich in den letzten Jahren seines Lebens zu nahm und kaum noch beherrschbar für den Dichter war. Es fanden sich in seinem Nachlass eine große Anzahl von Gedichten, die er in mehreren Versionen verfasste, bei denen Eminescu, wie man jetzt weiß, sich aber definitiv nicht für eine endgültige entscheiden konnte.

Wie schon bemerkt war zu Lebzeiten Eminescus nur ein einziges Buch erschienen (1883). Ende der 1930er Jahre veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Perpessicius erstmals eine mehrbändige Sammlung seiner Schriften. Perpessicius aber in dem Glauben, er müsse die veralterte Sprache Eminescus dem Zeitgeschmack anpassen, veränderte zu Teilen einige sprachliche Passagen, aber der Eminescu-Forscher Gheorghe Bulgar führte sie später wieder zum Original zurück, welche das Signum seiner Identität trägt und unverwechselbar Eminescu heißt. Zurzeit ist sein Werk auf 16 Bände angewachsen, es ist in viele Sprachen übersetzt und auch im deutsprachigem Raum liegt eine große Anzahl seiner Bücher vor. In Deutschland (München) erinnert ein Denkmal an den großen rumänischen Dichter, das im Januar 1991 eingeweiht wurde, während in Czernowitz Gedenktafeln an der ehemaligen rumänisch orthodoxen Volksschule und dem damaligen deutschen Gymnasium angebracht sind. Und im Zentrum der Stadt befindet sich ein Denkmal des Dichters, das auf Initiative der rumänischen Kulturgesellschaft in Czernowitz errichtet werden konnte. Peter Rychlo nennt Eminescu den „bedeutendsten Lyriker rumänischer Sprache. Den „letzen Romantiker der Weltliteratur„. „Er hat„, so seine Meinung, „der rumänischen Literatur Weltgeltung verschafft.


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Ein Muß ohne Klo
Christiane Ritters vielaufgelegter Bericht aus der Polarnacht

Von Henner Reitmeier


1969 veröffentlichte der Schriftsteller Alfred Andersch mit Hohe Breitengrade einen empfehlenswerten Reisebericht von einer Nordlandfahrt. Unter anderem erwähnt er eine Stippvisite beim betagten Polarjäger Hilmar Nois, der auf Spitzbergen haust. Die im Nordatlantik gelegene Inselgruppe ist bald so groß wie Irland, besteht aber nahezu ausschließlich aus Fels, Eis und Schnee. Die Temperaturen bewegen sich die meiste Zeit des Jahres zwischen minus 10 und minus 40 Grad. Als ich Andersch' Kleinod vor Jahren las, fragte ich mich unter anderem, womit Nois und seine wenigen, über das Ödland verstreuten Kollegen eigentlich heizten. Nun weiß ich es, weil mir neuerdings Christiane Ritters 1938 erschienenes Buch Eine Frau erlebt die Polarnacht in die Hände gefallen ist. Sie nehmen vor allem Treibholz, daneben Kohle. Diese wird oder wurde sogar, bei Longyearbyen, auf der Hauptinsel selbst gefördert. Das Treibholz besteht nicht selten aus ganzen Baumstämmen. Über beträchtliche Strecken angeschwemmt, beispielsweise aus Sibirien, ist es fast immer bleich wie ein Gerippe. Ritter, bei ihrem Jahresaufenthalt 1934/35 Ende 30, vertreibt durch ausgiebiges Brennholzsägen so manches Gespenst, während sie über Tage oder gar Wochen bei klirrender Kälte und heulendem Schneesturm auf die Rückkehr ihrer beiden (männlichen) Mitbewohner wartet, die gerade Polarfuchsfallen abgehen oder der Fährte eines Eisbären folgen. Die enge Hütte mit Flachdach ist nicht mehr als ein Holzkasten, von dem nur schwer geglaubt werden kann, die Stürme hätten ihn nicht längst nach Grönland geblasen, weil man dort ebenfalls Treibholz schätzt. Einmal kommen die Männer, der Österreicher Hermann Ritter und der Norweger Karl Nicolaisen, mit Hundegespann und einem hünenhaften Kollegen mit „hellen Augen, hellen Wimpern und buschigen Brauen„ zurück, dem das Gespann gehört. Er sei jedoch „tadellos rasiert„ gewesen, fügt die Autorin hinzu. Das war Nois, damals vermutlich noch keine 50 Jahre alt. Er hat sogar Post dabei. Um sie zuzustellen, nahm er in der zerklüfteten Eiswüste einen Umweg von 280 Kilometern in Kauf.

Wie sich versteht, sägte Ritter von Hand. Ohne dabei die Härte eines solchen Daseins zu beschönigen, stellt ihr erstaunlich gut geschriebener Bericht vor allem ein Lobgesang auf jenes Einfache Leben dar, über das Ernst Wiechert zur selben Zeit seinen besten, in den Masuren spielenden Roman schrieb. Einmal vertreiben sich die drei HüttenbewohnerInnen den Abend, indem sie die Zeitungsinserate studieren, die sich auf dem Papier finden, in das ein aus Tromsø, Norwegen stammender neuer Glaszylinder für die Petroleumlampe eingewickelt war. Da preisen die Kaufleute ihre Vanillestangen, Dauerwellen, Leichenkisten nebst einem bequem per Telefon zu alarmierendem Elektro-Reparaturdienst bei Ausfällen der Bürobeleuchtung oder der Kühltruhe. „Eigentlich rührend, finden wir, wie sich da unten in der Menschenwelt einer dem anderen unentbehrlich zu machen weiß. Wie einer vom anderen abhängt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nein, wir dürfen nicht herabschauen auf die Zivilisation, [..] dürfen sie nicht als emporgeschraubtes Pflanzstadium verurteilen, wie wir das in unserer spartanisch genügsamen Weltabgesondertheit gern tun möchten. Nein, schon aus Nächstenliebe müssen wir uns verzierte Särge, ondulierte Köpfe, Waschtische mit fließendem Wasser und Rohrbrüche gefallen lassen.„

Verblüffenderweise versichert Ritter sogar, selbst „der Hunger nach Musik„ fehle auf Spitzbergen völlig. Immerhin stammt die junge Frau aus zugleich wohlhabendem und musischem böhmischen Hause. Man bedenke auch die vielen, mal vom Wetter, mal von der Abwesenheit der Jäger erzwungenen Mußestunden in der verrußten Hütte. Ritter malt und zeichnet öfter, denn das ist von Hause aus, noch vor der Musik, ihre Hauptleidenschaft. Dem Buch sind auch einige Bilder und Skizzen beigegeben. Ritters Lob der Schlichtheit hindert sie allerdings nicht daran, keinen Furz darüber fallen zu lassen, wie es zwei Männer und eine Frau bei dieser einzimmrigen Enge und diesen Schneeverwehungen rings um die Hütte mit der Verrichtung ihrer Notdurft halten. Seehund schießt und ißt sie, doch für das Weitere war sie vielleicht doch zu prüde erzogen. Mit 20 heiratet sie den Kapitän und Jäger Hermann Ritter, der in den folgenden Jahren mehr unterwegs als in ihren Armen weilt. Und damit kommt die nächste Merkwürdigkeit. Sie läßt sich schließlich brieflich zu einer Überwinterung auf Spitzbergen verlocken – als sie jedoch in der Kingsbai an Land geht und von ihrem Gatten begrüßt wird, fällt über Wiedersehensfreude oder gar über Zärtlichkeiten ebenfalls kein Tönchen. Und so bleibt es die ganze Zeit, ein Jahr lang. Zu allem Überfluß hat ihr der Gatte auch noch eröffnet, er habe sich einen Gehilfen genommen, so daß sie, jedenfalls überwiegend, mit zwei Männern in jenem Holzkasten zu hausen hat. Was hätten Romanciers daraus gesponnen! Sie aber, Christiane Ritter, bringt es fertig, diesen Zündstoff von der ersten Seite bis zum letzten Satz des Nachwortes kurzerhand auszusparen. Einmal erwähnt sie einen, möglicherweise nur aus der nervtötenden Enge im Hüttenhaushalt entstehenden Streit mit ihrem Mann, das ist schon viel. Gelegentlich wird das Ehepaar sogar von dem 27jährigen Karl für Tage oder Wochen allein gelassen – nicht ein Hauch von Andeutung, daß und vor allem wie es die Liebenden für prickelnde oder auch katastrophale Zweisamkeit ausnutzen. Der Hüttenherd schadhaft, das Bettzeug klamm, die Wände zumeist vereist – nicht unbedingt festliche Bedingungen für ein Liebespaar.

Gewiß ist es ebenso denkbar, daß sich die beiden schon gehörig voneinander entfremdet hatten, wobei es vielleicht auch blieb. Aus Ritters Nachwort, in hohem Alter geschrieben, geht darüber nichts hervor. Auf der Webseite cms.huskyfotos.de heißt es, die Familie Ritter – Töchterchen Karin war bei der Oma geblieben – habe sich bald nach der Rückkehr in Leoben, Steiermark nieder gelassen. Ebendort sei Hermann Ritter 1968 mit 76 Jahren gestorben. Die betagte Witwe siedelte später nach Wien über, wo sie erst 2000 starb – mit 103 Jahren. Über berufliche Tätigkeit und finanzielle Verhältnisse ist von Ritter, wie schon in ihrem Bericht, so gut wie nichts zu erfahren. Vermutlich wirkte sie vornehmlich als Hausfrau und Buchillustratorin. Nötig hatte sie Erwerbstätigkeit wahrscheinlich kaum, denn ihr in etliche Sprachen übersetztes Buch erschien und erscheint in zahlreichen Auflagen bis heute. Einschlägige Trekking-Webseiten geben es durchgehend als das bekannte Muß aus. Ritters Gatte Hermann, offenbar sowohl erfahrener Jäger wie patentierter Schiffsoffizier, soll sich bei Kriegsbeginn widerstrebend dem NS-Regime als Wetterbeobachter in Grönland zur Verfügung gestellt haben. Nach Entdeckung durch eine für die USA tätige Schlittenpatrouille und Loyalitätskonflikten (Jägerkameradschaft!) habe er sich jedoch zu den Amis abgesetzt. Mehr erfährt man von ihm nicht.

In diesem Zusammenhang muß Ritters Buch ein weiteres schmerzliches Desiderat angekreidet werden. Die Strukturen des Erwerbslebens eines Polarjägers erhellt sie so wenig wie das zeitgeschichtliche/politische Umfeld, in dem sich die Drei, wie randständig auch immer, doch ohne Zweifel zu orientieren haben. Brummt Nois bei seinem Besuch, nein, Krieg sei noch nicht, soweit er gehört habe, ist es schon wieder viel. Immerhin verliert die Autorin einmal einige Sätze über die Beweggründe eines Jägers, seinem Gewerbe ausgerechnet in menschenleerer Eiswüste nach zu gehen – aber für mein Empfinden stellen sie keine wirkliche Erklärung dar. Ritter versichert, die Polarjäger seien bei ihrem „fast unmenschlich„ anstrengendem Gewerbe nicht auf Ruhm aus. „Sie leben weitab vom Getriebe der Welt. Sie leben fast alle ohne Heim und Familie. Eine unbändige Liebe fesselt sie an das Land. Sie leben berauscht von dem Lebensatem dieser wilden Natur, aus der zu ihnen die Gottheit spricht.„ Ja, mein Gott – und warum, bitteschön? Warum lieben sie ausgerechnet diese unbarmherzige Öde, deren Farb- und Formspiel Ritter allerdings beeindruckend zu beschreiben versteht? Warum suchen sie nicht die Nähe, vielmehr die Ferne ihrer Mitmenschen? Warum hat dann Hermann Ritter überhaupt geheiratet? Und warum ließ sich Christiane Ritter ausgerechnet von ihm heiraten? Warum wird es ihr im Zuge ihres Jahresaufenthaltes immer wichtiger, sich „der gigantischen Unfruchtbarkeit„ Spitzbergens, ja mehr noch, sich „dem Grauen vor dem Nichts„ zu stellen– aus freien Stücken sogar, da sie ja niemand zu diesem „verrückten„ Wagnis zwang?

Ich vergaß zu erwähnen, daß sich Spitzbergen durch krasse Lichtverhältnisse auszeichnet, Stichwort „Polarnacht„. Dort wird es einen Gutteil des Jahres nie dunkel und einen anderen Gutteil des Jahres nie hell. Solche Krassheit verstärkt das Grauen in der Einsamkeit sozusagen naturgemäß ungemein. Ritter beschreibt diese physikalischen Phänomene gewiß ausgezeichnet – aber einen psychologischen (und damit auch biografischen) Zug billigt sie ihnen nicht wirklich zu. Sie zieht sich auf esoterische Formeln wie „das Eigentliche„, „die Gottheit„, „heilige Stille„ zurück. In einer Phrase, mit der ich schließen will, verknüpft sie ihre unpersönliche Betrachtungsweise auch noch erschreckend einfältig mit der schon gerügten unpolitischen Sicht: „Vielleicht werden Menschen späterer Jahrhunderte in die Arktis gehen, so wie Menschen in biblischen Zeiten in die Wüste zogen, um zur Wahrheit zurückzufinden.„


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»WENIGSTENS EINE KLEINE ABSZISSE, UM SICH EIN BISSCHEN AUFZURICHTEN«
Über die mehrschichtige Essenz der Literatur

Von Lev Detela


Sowohl die österreichische Literatur, als auch die Literaturen der anderen Länder haben immer wieder die Diagnosen und manchmal auch die Therapien für die Krisen, die uns bedrohen, hergestellt, doch wer von Universalpolitikern und Experten für alle zuständigen Fragen des Lebens und wer von den durchschnittlichen Lesern zieht aus diesem Angebot und Potential wirklich Nutzen, wer kümmert sich schon um die Tatsache, die der österreichische Schriftsteller Hans Lebert in dem im Jahre 1960 erschienenen Roman „Die Wolfshaut„ als „ein Leben„ beschrieben hat, „welches sich im Humus des Vergessens, unter dem weiterwachsenden Gras, beharrlich entzieht – und nun..., weil man es so gut vergraben und vergessen hat, hält es sich und stinkt mit jedem Tag ärger...„.

Diese Feststellung kann man als einen eindeutigen Unkenruf gegen die Verdrängung der negativen Vergangenheit in Österreich verstehen, doch sie könnte auch als Motto gegen das Ignorieren der geschichtlichen Verfehlungen in Europa und in der Welt im allgemeinen verstanden werden.

Auch heute, viele Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ist die Demokratie, durch verschiedene populistische Tendenzen, „Berlusconisierungen„ und „Haiderisierungen„ verschiedenster Art, bedroht. Dabei verwundert es nicht, dass in der ansetzenden wirtschaftlichen Krise viele verunsichert sind. Manche haben nicht nur Geld und Arbeit, sondern auch viele schöne Illusionen verloren. Nachdem die Missmutigen die Hilflosigkeit unseres Tun und die Unfähigkeit der offiziellen Politik zu suggerieren versuchen, schwindet manchmal die Kraft des Widerstandes gegen das Vertuschen der Wahrhaftigkeit.

Man kann aber keine Weltkultur und kein gemeinsames Europa aufbauen, wenn man das Wesentliche seiner Struktur, das Wechselspiel der kleineren und größeren Kulturen negiert oder zerstört. Man kann keine eigene Heimat für sich haben, indem man gegen die anderen Heimatländer und andersartigen (z.B. anderssprachigen) Landsleute kämpft. Nähe und Ferne der Welt, in der wir leben, in der wir leben müssen, scheint in den Texten der kritischen Autoren zeitweilig in größeren geschichtlichen, ökonomischen und kulturellen Zusammenhängen zu erscheinen. Sie verbinden mehrere Sprachräume und viele Generationen als eine gemeinsame, die Schicksale der Nationen und Lebensläufe der Einzelnen verpflichtende Aufgabe.

„Jedes Gewebe von Worten ist ein andersgearteter Filter, durch den ein Destillat der Wirklichkeit zu gewinnen ist„, schrieb 1973 die österreichische Autorin Hilde Spiel, die einen Teil ihres Lebens in Großbritannien verbracht hatte. Auch sie, lange Zeit als Emigrantin inmitten der fremden Sprachumgebung lebend, gehörte zu der immer weniger seltenen Gattung der sogenannten Auslands - Schriftstellerinnen und Schriftsteller.

Hilde Spiel, die in der Emigration als Londoner Zeitungskorrespondentin arbeitete, kehrte 1963 endgültig in ihr Heimatland Österreich zurück. Doch einige Autoren haben in der neuen Umgebung auch eine neue Sprachheimat gefunden. Sie schrieben oder schreiben entweder zweisprachig, in ihrer Muttersprache und in der Sprache des neuen Landes, oder nur in der neuen Sprache, was vor allem jetzt in der Zeit der großen Mobilität und Migrationen mit Annäherungen, Grenzüberschreitungen, Berührungen und Loslösungen ein Phänomen ist, das fortbesteht.

Im Jahre 1956 kam György Sebestyén aus Ungarn nach Österreich, der die österreichische Literatur „als Zeugnis einer aus verschiedenen Stämmen gewordenen...geistigen Eigenständigkeit„ verstand und sie nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Publizist und Redakteur mit kultivierten Essays bereicherte.

Der Beitrag der sogenannten Ausländer in der österreichischen Literatur ist nicht unbedeutend. Zum Beispiel von Vintila Ivanceanu, der 1970 aus Bukarest nach Wien übersiedelte und die deutschsprachige Öffentlichkeit mit Texten, durchwoben mit surrealer Phantasie und ironischer Verspieltheit, überraschte.

Die österreichische Erfahrungsebene bereicherte in diesem Zusammenhang auf überzeugende Art mit den Themen seiner serbisch – pannonischen Jugenderinnerungen der 1923 in Budapest geborene, in Großbetschkerek (heute Zrenjanin in Serbien) aufgewachsene Milo Dor. Vor allem seine großangelegte, die engen nationalen oder lokalen Grenzen universell überspringende, das Verbindende in der Welt der Völker und Nationen trotz aller negativen Schicksalsschläge suchende Romantrilogie „Raikow Saga„ ist von Bedeutung. Die drei Romane der „Saga„, „Nichts als Erinnerung„, „Tote auf Urlaub„ und „Die weiße Stadt„, bestehen aus einer Reihe einzelner Szenen und Episoden, die durch die Hauptfigur des Mladen im Rahmen einer fein gesponnenen Familiengeschichte durch viele Erlebnisebenen und geschichtlichen Migrationen miteinander verbunden sind. Der Untergang einer Familie mit ihren gesellschaftlich – politischen Koordinaten im alten Österreich, im „Nichts als Erinnerung„ noch einmal vergegenwärtigt, ist eigentlich ein Thema, das auch den großen Mann der kroatischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Miroslav Krle_a, immer wieder beschäftigt hat.

„Tote auf Urlaub„ ist einem noch heute gegenwärtigen Thema der Literaturen des ehemaligen Jugoslawien und auch der deutschsprachigen Literatur gewidmet. Das Leben des Haupthelden Mladen, dieses zweiten Ichs des Schriftstellers, inmitten der Schrecknisse in der Zeit der deutschen Besetzung Jugoslawiens, seine Erlebnisse zwischen Belgrad und Wien in der Zeit des Kriegsendes, wachsen immer mehr zum nicht überwindbaren Symbol des Lebens, das aus melancholischen Erinnerungen, Sehnsüchten und optimistischen Hoffnungen geflochten ist. „Die weiße Stadt„ (Belgrad) wird teilweise unter dem nüchternen analytischen Aspekt aus der kritischen Distanz und teilweise liebenswürdig verinnerlicht als persönliches Schicksal gesehen und erlebt.

Was am Beispiel der besonderen Lebenserfahrung von Milo Dor am meisten anspricht, ist seine oft humorvoll dargebrachte humanistische Aussage, ein Entgegenkommen dem Anderen oder dem Andersartigen, das Bejahen der alten österreichischen Lebensart, zusätzlich verbunden mit der Sehnsucht „nach dem alten Thrakien„, was in der gleichnamigen Erzählung aus Dors Band „Meine Reise nach Wien„ auf liebevoll versponnene und humoristisch – selbstkritische Weise vorkommt: „Wo sind überhaupt all die Völker geblieben, die sich zwischen dem Peloponnes und dem Balkangebirge, zwischen der Adria und der Donau vor vielen Jahrhunderten herumgetrieben haben? Was ist aus den Skyten, Paionern, Odrysen und Sitalken geworden? ... Wenn ich, ein schlechter Serbe und ein noch schlechterer Österreicher, ein ungläubiger orthodoxer Christ und heimatloser Sozialist wenigstens eine kleine Abszisse oder eine gewöhnliche Ordinate erwischen könnte, um mich an ihnen ein bisschen aufzurichten, bevor die große Kälte kommt.„

Österreich war stets multikulturell. Helmuth A. Niederle betont in der von ihm herausgegebenen Anthologie „Die Fremde in mir„ (Hermagoras Verlag, Klagenfurt 1999), in der etwa hundert Autoren und Autorinnen veröffentlicht sind, die in den Sprachen der österreichischen Minderheiten und in verschiedenen fremden Sprachen der Zuwanderer schreiben oder im deutschen Sprachidiom eine neue Möglichkeit der literarischen Aussage entdeckt haben, dass Österreich „auch stets Einwanderungsland (war), und die kulturelle Blüte dieses Landes um die Jahrhundertwende (1900)... war und ist Ausdruck dieser Zuwanderung und der Multikulturalität„.

Die literarische Hinwendung zum neuen Kultur – und Sprachraum ist für die Autorinnen und Autoren, die aus den anderen Kulturkreisen oder aus dem langjährigen Exil kommen, oft mit mannigfaltigen Problemen verbunden. Über die berichtet unter vielen anderen immer wieder auch der österreichisch – amerikanische Schriftsteller jüdischer Herkunft Herbert Kuhner in seiner Prosa, Lyrik und in seinen geistreichen satyrischen Epigrammen. Doch wir gewinnen, indem wir gleichzeitig verlieren. Der kreative Schriftsteller, das steht fest, hat oft schwerer als der praktische und konkrete, der kritische leichter als der verinnerlichte Poet. Jean Améry, der Triestiner Slowene Boris Pahor, Erich Fried, Jakov Lind, Witold Gombrowicz, der polnisch – amerikanische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz sind einige Beispiele für die mannigfaltigen literarischen Verneinungen und Verweigerungen unter den extremen Bedingungen der Ausstoßung in eine unterhöhlte, das Andersartige ablehnende Welt. Sie, die durch die Krisen des Zweiten Weltkrieges gegangen sind, sind möglicherweise gerade dadurch eigenwillige Autoren von großer Bedeutung und Aktualität geworden. Elias Canetti mit den prägnant – scharfsinnigen Texten mit dem ironischen Unterton, der große Humanist Manès Sperber, der seine Romane im Deutsch und die vielen späteren Essays in französischer Sprache verfasst hat, Joseph Breitenbach, der die Mehrzahl seiner zeitkritischen Werke zweimal geschrieben hat, deutsch und französisch, die Ungarn Tibor Déry oder Julius Hay, überschritten die Grenzen der nationalen Sprachen und lokalen Bewusstseinswelten.

Aber auch die mentalen zweisprachigen Missverständnisse an den Grenzen in Kärnten sind oft Symptome der charakteristischen Schwierigkeiten und Ereignisse. Die literarischen Überlieferungen der Kärntner Slowenen(z. B. Florjan Lipu_) und der deutschschreibenden Autoren (z.B. Peter Handke) können manche nicht synchronisieren, obwohl durch die Sicht des Anderen eine neue Dimension, Interpretation und Bereicherung der eigenen Denkweise ermöglicht wird.

Wenn wir über die nationalen Literaturen und die europäische Kultur sprechen, dürfen wir nämlich nicht vergessen, dass nationale und regionale Traditionen in Wirklichkeit die Essenz einer Kultur bilden, deren exemplarische Einheit aus Verschiedenartigkeit der einzelnen Teile und aus dem gemeinsamen Streben all dieser Teile zu einer universelleren Zielsetzung besteht. Die engstirnigen Kämpfer gegen die anderen Sprachen und Kulturen, durch die sich angeblich bedroht fühlen, vernichten gerade das, was am wertvollsten und am europäischsten im neuen Europa sein musste: Sie vernichten durch ihren Radikalismus das Mehrschichtige und das Widersprüchliche, sie zerstören das multikulturelle Netz, entstanden aus geschichtlichen Tendenzen und Zusammenhängen, die für unsere Gebiete so charakteristisch sind.


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Bei der Bootsstation

Von Moritz Fichtner


Als er achtzehn war, schrieb Martin Tagebuch. Joana, Joana, Joana, schrieb er. Woche für Woche schrieb er nichts Anderes, Nachmittag für Nachmittag, bis er das Tagebuch in der Schublade aus splittrigem Holz verschloss.

Dann, gewöhnlich, stahl er sich fort aus der kahlen Vorstadtstraße, in der die enge Mietwohnung seiner Eltern zwischen Hauswänden hinter geduckten Fenstern lag, wanderte über die hellen Wallanlagen der Stadt zur Bootsstation hinaus, die Joana zum Treffpunkt bestimmt hatte. Hier, am Bootshaus, unter einer Ansammlung von Birken, die im Wind nickten, stand sie dann, sie selbst, sie, die hinter den flatternden weißen Stores in einer der großen am Fluss gelegenen Stuckvillen wohnte, „so ganz andersartig, so königlich„, wie Martin notiert hatte, dass er gleich am ersten Tag ihrer Bekanntschaft herausgeplatzt war mit den Worten:

„Du hast was an dir, weiß Gott – so, als wärst du zu nichts zu gebrauchen, haha, nicht mal zum Küssen.„

Da hatte aber Joana nur ein paar hüpfende Tanzschritte gemacht und laut gelacht und nichts erwidert, und wenn Martin heute, schon Monate später, zu ihr kam, wenn er Joana nach seiner langen Wanderung in die Arme nahm, so gab es da keine Probleme mehr, oh nein, wenn sie bei guter Stimmung war, so ließ sie die bloßen Füße im Fluss baumeln und schenkte Martin ihr Lächeln, das er küssen durfte, so oft er nur mochte.

Oh ja, ich darf sie küssen, das hatte er ebenfalls notiert, mehrmals, ehe dann ihr Name folgte, manchmal verschnörkelt, manchmal hastig hingekritzelt, und das Ganze war so einige Wochen lang fortgegangen – als Joana eines Tages, da die Beine wieder im Wasser baumeln, unversehens sagt:

„Na, bei allem, was gewesen ist, aber wir sollten uns hier eigentlich nicht mehr treffen, weißt du.„

„Nicht mehr hier? Aber es ist ja unser Punkt, unser Treffpunkt…„

„Nein, weißt du„, Joana lächelt und küsst ihn in diesem Augenblick, „einer meiner besten Party-Freunde hat gerade jetzt hier am Fluss ein Apartment gemietet, was soll er denken, wenn er uns sieht?„

Martin schweigt darauf, fasst nur Joanas Hand und blickt mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Sonnenbrille, als könne er durch die dunklen Gläser hindurch ihre Augen erspähen.

„Ich werde sterben„, sagte er, als sie sich an diesem Abend trennten, „ich werde wirklich sterben, wenn du nicht mehr kommst.„

Ein paar Nachmittage später hat Joana beschlossen, ein Paddelboot zu nehmen, damit sie mehr Unterhaltung hätten, und als sie an den grünen, von blühendem Löwenzahn übersäten Ufern des Flusses dahingleiten, klatscht sie dreimal in die Hände und ruft:

„Im Ganzen ein einziges Mal noch außer heute will ich hier mit dir auf Paddeltour gehen, dann müssen wir uns endgültig anderswo treffen, klar?„

Wieder antwortet Martin darauf nicht, sieht Joana nur an und scheint nachzudenken.

„Ich sollte dir vielleicht etwas schenken„, sagt er nach einer Weile, „etwas Besonderes … einen Ring …„

„Na, etwas schenken? Und einen Ring?„

„Ja, aber keinen gewöhnlichen Ring„, sagt Martin.

Und er kommt damit heraus, dass dieser Ring, der ihm im Kopf herumgeht, eigentlich etwas Geheimnisvolles ist, ja, dass er, Martin selbst, von nun an einen gleichen Ring tragen will, genau den gleichen Ring …

Da lacht Joana laut auf.

„Ach Gott, du willst dich mit mir verloben? Und gerade jetzt?„

Nun sitzt Martin nicht mehr so fest in dem gemeinsamen Paddelboot wie vorher. Abwechselnd blickt er ins blinkende Wasser hinab und zum blauen Himmel hinauf, und beim nächsten Treffen, als sie wieder im Boot sitzen, dringt er unentwegt auf Joana ein, indem er von dem Party-Freund redet, der am Flussufer wohnt: Wozu braucht ihn denn Joana, wie? Und ist er nicht, wenn er nur zu Party-Zwecken taugt, am Ende nichts Anderes als ein Lackaffe? – Joana aber, während er spricht und spricht, schaut immer entschlossener von ihm fort. Unmerklich hat sie dabei das Boot, dessen Steuerung er aufgegeben hat, an ein Wiesenufer gelenkt, wo sie es, da Martin immer noch redet, plötzlich mit der Spitze fest auf eine Sandbank laufen lässt.

„Schön schön„, sagt sie, indem sie energisch das senkrecht gehaltene Paddel in den Ufergrund der Flussseite stemmt, „sehr schön, aber nun ist die Fahrt zu Ende, mein Lieber, und einer von uns sollte jetzt aufgeben, nicht wahr?„

Wirklich steigt Martin sofort aus, leicht schwankend, aber ganz ruhig, wie es scheint, und setzt sich am erhöhten Ufer auf den Erdboden. Er sagt kein Wort, als er dort sitzt, er nickt nur mit wehendem Schopf vor sich hin, als sei er mit allem einverstanden, doch als Joana gleich darauf ebenfalls nickt, als sie das Paddel hebt und vom Ufer abstößt, schüttelt ihn etwas, schüttelt ihn unversehens wie ein Krampf in allen Gliedern. „Warte!„ ruft er. „So warte doch, da ist noch etwas, ich habe noch etwas …„ Und er wirft hastig die Jacke ab, springt ins Wasser und schwimmt in heftigen Zügen zu dem Boot, in dem Joana davonzugleiten beginnt. Hier hält er sich mit der Linken an Joanas Paddel fest und reicht ihr mit der Rechten, die mitsamt dem Arm seltsam steif wie ein unbeholfener Ast aus dem Wasser ragt, etwas zum Bootsrand hinauf.

„Nimm ihn!„ ruft er. „Nimm den Ring zum Abschied!„

Und Joana lächelte, als sie den Ring nahm, lächelte leicht und hatte feuchte Augen, ehe sie mit dem Boot davonfuhr.

Oh ja, oh ja, es ist ja noch immer Hoffnung, schrieb Martin in dieser Nacht in sein Tagebuch: denn sie hat gelächelt, Joana hat gelächelt, wie könnte es da anders sein?

Schon sehr früh am anderen Morgen, sich vorsichtig heranpirschend, erscheint er wieder am wasserumspülten Bootssteg, und kaum ist er am Platz und hat sich umgeblickt, da taucht auch Joana auf, halb geduckt hinter einigen Büschen zunächst, bevor sie sich aufrichtet und auf den Bootssteg zuschlendert. Martin beob-achtet sie, als sie näher kommt. Er kann sehen, dass sie am Ringfinger der linken Hand, die sie über ihrem weiten Rock leicht angehoben hat, den funkelnden Silberring trägt.

Beide schweigen bei der Begrüßung, doch als sie wieder auf dem Fluss sind und hintereinander im Paddelboot sitzen, räuspert sich Joana geheimnisvoll, wobei sie feierlich das Paddel niederlegt, greift dann in die Tasche ihres Rockes und hält plötzlich, indem sie sich heftig umwendet, lächelnd einen breiten Ring – ähnlich dem, den sie am Finger trägt – dicht vor Martin hin.

„Für dich, mein Lieber, das ist für dich, weil du es so tapfer fertigbringst, mich trotz allem jeden Tag zu lieben.„

Martin fährt bei diesen Worten zusammen. Er starrt auf den Ring, der in Joanas Hand liegt, dann lange schweigend auf Joanas Lächeln. Endlich, noch immer ohne Ausdruck im Gesicht, ergreift er den Ring, wiegt ihn in der Hand, schließt die Faust um ihn, wirft ihn hoch und schließt wieder die Faust um ihn.

„Oh, eine Gabe. Eine wunderbare Gabe, nicht wahr? Und die … hätte ich mir verdient?„

Dann, indem er zu lächeln beginnt, wie vorher Joana gelächelt hat, streckt er langsam die Faust mit dem Ring über den Bootsrand hinaus, blickt Joana fest an und öffnet die Faust …

Gleich darauf, da es unten im Wasser ein kleines glucksendes Geräusch gegeben hat, stammelt Joana etwas Unverständliches, wobei sie die Hände emporhebt. Die Hände hüpfen ein wenig, sie verkrampfen sich und nesteln aneinander, bis, als sei´s herausgepresst, etwas aus ihnen hervorspringt, ein silberner Funke, der wie ein kleines Feuerwerk durch die Sonnenstrahlen an überhängenden Weidenzweigen vorbei himmelwärts fliegt, dann niedergeht, ins Wasser taucht und in kleinen kreisförmigen Wellen verschwindet.

„So!„ sagt Joana. „So. So. So.„

„Jawohl„, sagt Martin.

Darauf will Joana heimgefahren werden, „schnellstmöglich heim zu ihrem Freund bei der Bootsstation.„ Martin lacht, nachdem sie diesen Wunsch geäußert hat, lacht laut und speit lachend in weitem Bogen aus, bevor er das Boot ganz in der Nähe an einer flachen grasbewachsenen Stelle anlegt. Dann sieht er Joana, die ausgestiegen ist, am Ufer davongehen: weit ausholende Schritte im hohen Gras, während der Rock beim Gehen hin- und herschwingt und ihre Schultern leicht auf- und abzucken.

„He, he!„ ruft er. „Weinst du denn? Soll das heißen, dass du weinst?„

Dann lauscht er, ob Antwort kommt, lauscht lange und angespannt, den Kopf schräg gehalten, aber nichts, vom Ufer, das mit seinem hohen Gras und den ferner liegenden schaukelnden Büschen wie verzaubert daliegt, ist kein Ton zu hören.


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Über den »Selbstmord«

Von Manfred Dechert


Dem Menschen, vor allem der gequälten Seele, die unter schweren Depressionen, Melancholie und Traurigkeit leidet, bleibt bei allem Leid ein Rettungsanker: der Suizid, die Möglichkeit, der inneren und äußeren Qual ein Ende zu bereiten. Es ist auch kein „Selbst-Mord„, oft genug sind die Gründe in der Lieblosigkeit der.Umwelt zu finden, und es ist ja keine „Heimtücke„, die einen verzweifelten Menschen zu diesem letzten Ausweg greifen lässt. Der leidende Mensch, je nach sozialer Lage, hat letzlich nur diese einzige Option: Ein kleines Einkommen, das Urlaubsreisen nicht zulässt, ein eingeschränktes Leben, das Teilnahme an gesellschaftlichen Anlässen – Konzerte, Theater, Essen-Gehen – nur beschränkt zulässt. Ein Leben in Traurigkeit, abhängig von Psychopharmaka, in Einsamkeit, sozial am Rande, von vielen gemieden, denn der depressive Mensch, der Hoffnungslosigkeit oft ausstrahlt, findet nicht leicht Verständnis. Der leidende Mensch, der in Beziehungen oft auch das Scheitern dieser Bindungen erlebt, wird spüren, daß ihm auch Zweisamkeit, eine Beziehung oft nur begrenzt Halt und Hoffnung gibt. Immer wird ihn die Einsamkeit, die Beziehungslosigkeit, die seit Kindheitstagen in ihm wohnt, einholen. Auch in Therapien wird er keine Hilfe finden, je länger ein Mensch – erfolglos – gegen seine lebenslange Ängste und Trauer gekämpft hat, desto schwerer wird eine Behandlung mit ihm eingeschätzt. Ein Therapeut wird in der Regel diesen Menschen als „schwer heilbar„ an eine Klinik Verweisen, die wird ihn wieder zurückschicken – keiner ist zuständig.

Köperliche Krankheiten können das Leid noch verstärken – was für ein Lebens-Sinn gibt es noch, wenn ein depressiver, in einer Lebenskrise steckender Mensch auch noch blind wird, an Krebs oder Aids erkrankt, seine Lebensqualität immer mehr schwindet, was bleibt dann noch an Hoffnung?

Wenn dieser Mensch, von Kindheit auf mit schweren Ängsten und mangelndem Vertrauen beladen, erleben muß, daß keine Therapie mehr greift, weil die seelischen Verletzungen zu schwer wiegen, nicht mehr durch Worte heilbar sind, nach dem letzten Ausweg greift, sollte man ihn nicht verurteilen. Niemand hilft ihm, sein Leid, das Gewicht seiner alten Ängste, Trauer und Verletzungen, zu tragen. Auch ein Kirchgang wird keine Entlastung bringen – was nützt es, einem Pfarrer zuzuhören, der den Menschen, vor allem dem belasteten Menschen, etwas von einem Gott erzählt, der im realen Leben meist nicht spürbar ist.

Was nützt ein Kirchgang, wenn am nächsten Tag, schon am gleichen Abend Einsamkeit, Kränkung, auf der Arbeit Demütigung und Herabsetzung wartet? Was nützen fromme Worte in Phasen seelischer Not, tiefer Kränkung, angestauter Wut, häufig erlebter Ohnmacht? Am Ende bleibt das Schweigen, die Dunkelheit, Einsamkeit, soziale Not, ein Mensch am sozialen Rand, arbeitslos, ob Hartz-Vier, Klein-Rentner oder mit geringem Einkommen, dieser Mensch wird wahrscheinlich lebenslang arm, und ohne Chance sein, am gesellschaftlichen Wohlstand teilzuhaben.

Ein Suizid, jedoch, der nicht gelingt, wird dem Betroffenen in die Mühle der Psychatrie, oder auch der Krankenhäuser bringen: Suizid-Patienten stehen in der Hierarchie der Krankenhäuser oft ganz unten, Pfleger bzw. Krankenschwester lassen ihren Unmut und ihre Wut an diesen verzweifelten aus – leider zu oft! Also bleibt nur die Hoffnung, daß ein Suizid gelingt, so daß kein ärztlicher Quäler oder sadistische Krankenschwester ihren Ärger am Patienten auslässt.

Das Nichts, der Gedanke, ewig zu ruhen, ist die einzige Hoffnung, die die verzweifelte Seele in dieser Welt hat. Der Gott der Bibel hat sich schon lange verabschiedet, es handelt sich um ein Geschichtsbuch, der gekreuzigte, lang aus der Welt gegangene Jesus, ein abwesender Gott, die schon lange das Weltgeschehen sich selber überlassen, sie können keine Hoffnung für einen verzweifelten Menschen sein.

Wie die Stasi pälzisch glernt hot

Weesche wie des kumm is, daß sich die „Stasi„ – so hot friher in de DDR die „Staatssicherheit gheeß„, sich met pälzische Gedichte beschäfticht hot? Ich han em Inge, mei Kusine in Sonneberg, hinnerm „eiserne Zaun„ als mo geschreb, unn aa mol ee Gedicht gschickt.. „Marie kumm„ hot des gheeß, unn, do gings do drum, wie sich zwee alte Leit uffs Schterwe vorbereite. „Es Tor steht schun uff, mer missen nei„ -. do han die gmeent, des is e Codewort. „Was fer Tor schteht dann do uff, han se gmeent, an de Grenz, also „lese mer weiter„. „Heiland mach Dei Himmel uff„ – „is des de Klassefeind, wo metme Hubschrauber kummt, unn määnt, er vedient e Heilicheschei, fer sei edles Werk?„ So han sich die Stasi-Leit wohl gdenkt, unn weiter glees. „Weesch Alder, zu viele kumm ich viel zu frih – doch, wann mei Chef mich schickt, no muß ich geh„ – so han ich mer, uff pälzisch, de Tod vorgstellt. Doch die Stasi määnt:„De Chef, des is de BND oder e Fluchthelferorganisation, der muß die Leit aus de Oschtzon raushause, egal was kummt.

So hot die Stasi, schun in de achtzicher Johr, sich met de pälzische Sproch rumgequält. Unn, des han ich bloß erfahr, als es Inge in sei Stasi-Akte geguckt hot , unn ganz vewunnert war, daß sich die Stasi so fer des Gdedicht „Marie kumm„ interessiert hot. Immerhi hots rer net gschadt, die Stasi hot wohl kää Luscht ghatt, sich an dem Gedicht weiter die Zäh aussebeiße, unn hans uff sich beruhe gloß.

Hätt ich awwer gwißt, daß die Stasi sich sovel Zeit fer Pälzer Gedichte nemmt, hätt ich em Inge als mo mi devun gschickt. Meensche net, die hätte vielleicht sovel Spaß do dro gfunn, so daß ich hätt als mol mei Gedichte bei de Stasi vorlese kenne, e Lesereise dorch die DDR, unn e Händedruck vum Mielke, dem damaliche Stasi-Chef!

Hier ist Ihr Poetry-Slam-Navigator, fahren Sie mit Ihren Manuskripten los, finden Sie sich rechtzeitig am Veranstaltungsort ein. Überprüfung des Publikums und der auftretenden Dichter aufnehmen, Publikumstauglichkeit Ihrer Texte mit den Zielgruppen abgleichen. Studentisches Publikum erfasst, depressive Gedichte wegstecken, Comedymaterial bereit machen, alle fünf Sätze ein Lachen erzeugen.. Jetzt aufschauen, ersten Slammer wahr- nehmen, Texte und Lacher analysieren, Gesichtsmuskulatur lockern, Publikumsreaktion beachten, zum Slam-Master aufschauen, Zeitkontigent prüfen, jetzt bereit machen, wieder umdrehen, Comedymaterial beiseite nehmen, auf Tragik achten, zweiter Slammer setzt erfolglos Witze ein, Liebestexte und Sterbeszenen einüben, tragisch einschwingen, jetzt zum Auftritt bereit hinter die Bühne gehen.

Sie haben jetzt Ihr Ziel erreicht, Sie sind jetzt auf der Bühne, vor Mikrofon stellen, und ausagieren. – „Aber warum weint hier niemand, warum keine Betroffenheit, lieber Navigator„, -

Entschuldigung, versehentliche falsche soziologische Sensibilisierung des Navigators, Sie haben zwei Jahre Garantieanspruch auf Ihren Poetry-Slam-Navigator, Tut mir leid, tut mir leid„.

Der Überfall – Sketch

Ärztin tritt ein, wird von Mann an der Wohnungstür begrüßt – „Guten Tag, Frau Dokter, schön, daß Sie gekommen sind. Wir gehen mal zu meiner Freundin, der geht es ganz schlecht, schauen Sie…„

Die Ärztin geht in ein „Schlafzimmer„ (wird angedeutet) – der Gastgeber schließt schnell die Tür, und schiebt einen Schrank davor – Schiller: „So, jetzt schnell den Schrank davor, die kommt so schnell nicht wieder raus„.

Ärztin schreit aus dem Zimmer:„Herr Schiller, hier ist keine kranke Patientin, lassen Sie mich sofort wieder raus„

Schiller: „Sie bleiben jetzt erstmal drin. Haben Sie schon mal überlegt, wie viele Stunden ich bei Ihnen im Wartezimmer, trotz Termin, mit sinnlosem Warten verbracht habe?„

Ärztin: „Herr Schiller, das hat rechtliche Konsequenzen, ich zeige Sie an wegen Freiheitsberaubung und Nötigung – kommen Sie mir bloß nicht zu nahe. Herr Schiller, öffnen Sie die Tür„ (schreit hysterisch)

Schiller: „Jetzt beruhigen Sie sich mal, Frau Dokter, ich habe hier mal aufgeschrieben, wie viele Stunden ich bei Ihnen sinnlos verwartet habe …„ (wird unterbrochen, die Ärztin schreit, „Aufmachen, aufmachen, ich hol die Polizei„.

Schiller: „Sie haben im Schlafzimmer ein kleines Sichtfenster, da können Sie zu mir reinschauen„ (die Ärztin schaut durch ein Pappefenster) „So, jetzt haben Sie den Kinoblick, Sie haben bessere Unterhaltung bei mir, wie ich bei Ihnen. So, jetzt meine Buchführung – 5.1. Zwei Stunden gewartet, 7.1. drei Stunden, 14.1. dreieinhalb Stunden, 15.1. zweieinhalb Stunden…„

Ärztin: „Warum kommen Sie auch so oft – Sie nerven mich, Sie Hypochonder, ich habe wichtigere Patienten wie Sie. Sie mit Ihren eingebildeten Krankheiten…„

Schiller: „Natürlich haben Sie Wichtigeres. Ich höre ja immer, wer vorgezogen wird, in der Sprechstunde. Die Arzneimittelvertreter mit Ihren Aktenkoffern natürlich, dann der Vorsitzende vom Tennisverein, Frau Hohlmann aus der Nachbarschaft, die ist ja Privat versichert, die hatten alle sicher keinen Termin„

Ärztin: „Das hat Folgen für Sie, Herr Schiller, ich bringe Sie vors Gericht„.

Schiller: „Bis dahin werden wir noch etwas Kurzweil haben. Keine Sorge, ich bin kein Gewalt-Täter, ich habe nur einen bescheidenen Wunsch: Ich möchte für eine Stunde Ihr Held sein, der Sie vor der Welt beschützt„.

Ärztin: „Sie mein Held? Sie sind krank, Mann, total krank. Ein Hypochonder wie Sie als Held„ (lacht schnippisch).

Schiller: „Kennen Sie Kino, Actionfilme, Mad Max? Die Geschichte von den Rockern, und von dem Streifenpolizisten, der die alle nach und nach zur Strecke bringt?„

Ärztin: „Ja, in meinen jungen Jahren habe ich den mal gesehen. Meinen Sie denn, daß Sie mit Mel Gibson mithalten können? Der ist ja außerdem viel durchtrainierter wie Sie„.

Schiller: „Sehen Sie, jetzt mache ich mal Ihr Programm, und Sie hören zu. Kennen Sie noch die Szene mit dem Nightrider?„

Ärztin: „Der Irre, der mit dem Polizeiwagen abhaut, aus der Untersuchungshaft, zusammen mit seiner hysterischen Freundin?„

Schiller: „Jaaa, genau. Ich bin der Nightrider, Ihr Bullenhunde, ich bin der Nightrider, schickt mir nur die Besten, die allerbesten„.

Ärztin: „Gut, machen Sie den. Aber, wo ist Ihr Auto?„

Schiller: „Das ist hierdrin (zeigt auf seine Stirn) das ist hier oben, meine Gedankenmaschine. Das fährt mit Ihnen hin, wo Sie wollen„.

Ärztin: „Wo ich will? Wirklich? Dahin, wo ich will?„

Schiller: „Nur zu. Ich bin bereit, Puppe„ (lacht grell).

Ärztin: „Dann fahr mal zur Krankenkasse, und zum Gesundheitsministerium, und mach mal alles platt, die machen mich nämlich kaputt, als niedergelassener Arzt, kürzen meine Honorare, wie soll ich da überleben?„

Schiller (geht in Pose): „Ihr Typen von der Krankenkasse, Ihr habt es der Frau Dokter lange genug schwer gemacht, ich blase Euch alle um, mit meiner Panzerfaust, mit meinem Panzerwagen fahre ich Eure Büros platt, wie gefällt Euch das, he?„

Ärztin: „So gefallen Sie mir, Herr Schiller. Aber, Ihre Allmachtsphantasien in Ehren, jetzt schließen Sie Ihrer Ärztin mal auf, da warten nämlich noch mehr Patienten draußen. Bitte„.

Schiller: „Ich muß erstmal den Schlüssel finden, wo habe ich denn den hin…„ (sucht in Hosentasche, auf dem Boden) – die Ärztin telefoniert mit Ihrem Handy:„Alleestraße Zehn, Dr. Hartmann, ich bin als Geisel genommen, bitte kommen Sie, schnell…„

Schiller: „Ich finde den verdammten Schlüssel nicht„ –

Ärztin: „Dann such mal weiter, ich würde das Du vorschlagen. – Weißt Du was, irgendwie bin ich das langweilig-aufregende Leben in der Praxis leid – da sitzen sie im Wartezimmer, Frau Dokter, das tut weh, Frau Dokter, Schreiben Sie mich krank, ich kann nicht mehr, Frau Dokter, mein Kind hustet stark, kommen Sie, Frau Dokter, meine Haut brennt, Frau Dokter, mein Mann trinkt, Frau Dokter…„

Schiller, hält sich die Ohren zu – „Aufhören, das ist ja unerträglich. Macht Dir Dein Job keinen Spaß mehr?„

Ärztin: „Wenn ich Abends den Kittel ausziehe, der letzte Patient gegangen ist, ich endlich Zuhause bin, dann ruft schon wieder einer an, ein Notfall, oder mitten in der Nacht, oder ich träume, einer von der Kasse will wieder mein Honorar beschneiden…„

Schiller: „Du Arme, diese Irren, diese Blutsauger – ah (ruft erstaunt) – mein Schlüssel. Ich schließ Dir auf – aber, willst Du mich wirklich schon verlassen? Wir unterhalten uns hier doch so lustig…„ – schließt auf –

Ärztin: „Jetzt ist Schluß mit lustig, Schiller, das Sondereinsatzkommando ist auf dem Weg.„

Schiller: „Sondereinsatzkommando – wie denn das?„

Ärztin: „Ich brauche einen finalen Abgang, Schiller (betont cool wirkend), ich will mein stressiges Ärzteleben beenden, und Du darfst als Geiselnehmer in die Filmgeschichte eingehen – ich habe die Bullen angerufen„.

Schiller, wimmert: „Du bist wahnsinnig! Ich will doch nicht sterben„.

Schiller fällt auf die Knie, die Ärztin streichelt ihm über den Kopf -

Ärztin: „Immer noch besser mit mir hier zusammen erschossen zu werden, denn ich habe zwei Schreckschußpistolen dabei, die sehen täuschend echt aus, wir werden zusammen aus dem Fenster knallen, wenn die stürmen, immer noch besser hier im Showdown enden, als mit Herzinfarkt drei Monate nach der Pensionierung. Weißt Du, wieviel Ärzte sich umbringen?„

Schiller, jammert: „Ich glaubs Dir ja, nun gut, ich wollte auch schon immer mal einen großen Abgang haben. Welche Zukunft habe ich denn noch, jeden Tag in Deinem Wartezimmer, dreimal im Jahr dann in der Psychatrie – nein, danke. Ich will sterben wie ein Mann, geb mir die Schreckschußknarre her!„ (wird laut)

Ärztin: „Das ist ein Wort, Partner, jetzt gehen wir mit gezogenen Waffen zur Tür….„

Man hört eine Durchsage, mit dem Megaphon:„Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei, Herr Schiller, Sie haben eine Geisel in Ihrer Gewalt, lassen Sie sie unverzüglich frei. Sie haben keine Chance, Ihr Haus ist umstellt, geben Sie auf„.

Schiller: „Das ist wie in Pro-Sieben, Mann, das ist die Stelle, die so herrlich kraß wird, daß sie rausgeschnitten wird, doch wir, wir sind mittendrin, im Actionkino„.

Ärztin: „Der Film muß jetzt zu Ende gebracht werden, Schiller, wir gehen jetzt mit unseren Spielzeugpistolen raus, und lassen uns zusammen erschießen, wie Bonnie und Clyde, das ist nämlich mein Lieblingsfilm. Ich habe nämlich genug von der Bettelei bei den Krankenkassen, den ganzen Tag mich mit Pseudo-Kranken und Nervensägen rumzuschlagen, ich habe genug„.

Schiller: „Was sein muß, muß sein, Hartmann, heizen wir denen da draußen ein„. Sie gehen, mit erhobenen Waffen auf die Eingangstür zu…


***


Die letzte Parade der Sieger im Krieg der GescHlechter – Eine Realsatire

Von Peter Schütt


Seit fast einem Vierteljahrhundert bin ich ein treues Mitglied meiner Moscheegemeinde, aber in all denen Jahren habe ich es noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass ich vor verschlossenen Türen stand. Aber jetzt war es passiert. Am Zaun vor dem Islamischen Zentrum an der Alster stand wie vor einer Diskothek auf der Reeperbahn eine ganze Riege vierschrötiger Bodyguards und verwehrte mir den Zutritt zu meinem Gotteshaus. Ich war nicht bereit, kehrtzumachen, ohne mein Mittagsgebet zu verrichten. Ich ließ mich auf keine Diskussionen ein und bat darum, den Imam zu sprechen. Der erschien schließlich missgestimmt am Zaun und gab den Wächtern ein Zeichen, mich samt Fahrrad hereinzulassen. Die willkommeneren, offenbar avisierten Gäste fuhren in Nobelkarossen vor.

Schon auf der Straße wehten mir angenehme Düfte entgegen und wollten so gar nicht zu der maskulinen Machtdemonstration am Moscheetor passen. Es duftete nach Rosenwasser, als würde das Fest des Fastenbrechens gefeiert. Selbst die Waschräume waren parfümiert, aber spätestens bei meiner Gebetswaschung merkte ich: es war nicht der Duft der Heiligkeit, der meine Sinne kitzelte, es war eher der herbe Duft der Eitelkeit, der alle Räume der Moschee durchdrang. Ich befand mich in der Gesellschaft von gewichtigen Herrschaften, die sich der Bedeutung ihres Amtes und ihrer Person sicher waren und um ihre Sicherheit sehr besorgt schienen. Sie wären sicherlich lieber unter sich und unter ihresgleichen geblieben. So weit ich in der dicht gedrängten Menge sehen konnte:

ich erkannte nur Mannsvolk unter sich. So viel geballte Männermacht gibt es heute nur noch unter Soldaten und bei der Geistlichkeit bestimmter Konfessionen, als hätten die Herren den Himmel für sich gepachtet.

Sicher, ich bin auch ein Mann, aber für diese Herrschaften war ich anscheinend nicht Manns genug. Ich fasste mir unwillkürlich an den Kopf und stellte fest, dass mir ein wichtiges Symbol männlicher Dominanz fehlte: ein Turban. Ich kam mir klein vor, weil die Herren ringsum allesamt einen stattlichen Turban trugen, der sie um eine ganze Kopflänge potenter machte, als sie von Natur aus waren. Ich war zwar nicht eingeladen, aber als langjährigem Gemeindemitglied konnte man mir den Zutritt nicht verwehren. Obwohl ohne standesgemäße Kopfbedeckung, ohne langen Bart und ohne bodenlanges Gewand, wurde ich in den Vortragssaal geleitet, in die hinterste Ecke in der letzten Reihe. Vor mir saß die gesammelte Weisheit von 220 zwölferschiitischen Gelehrten aus ganz Europa. Unter Anleitung von einem ganzen Dutzend Ajatollahs und anderen Hochwürdenträgern aus dem Iran sollten sie über die neusten Richtungsänderungen entlang der Linie des Imams informiert und instruiert werden.

Ich kam mir vor, als säße ich am Rande eines Kardinalskollegiums, aber im Unterschied zu den katholischen Kirchenfürsten waren ihre schiitischen Amtsbrüder nicht in leuchtende und bunte Mäntel gekleidet. Es gab, als wäre ich zurückversetzt in die Zeit der Schwarzweißfilme, nur zwei Farben: schwarz oder weiß. Die geistlichen Herren der Selbstherrlichkeit trugen entweder weiße oder, wenn sie zum Stamm der Seyed, der Nachfahren des Propheten – Friede sei mit ihm - , gehörten, schwarze Turbane. In ihrer Struktur glichen die Turban, von hinten betrachtet, kunstvoll ineinander verflochtenen Haarzöpfen, so als wollten sie die Gehirnwindungen der darunter befindlichen klugen Köpfe abbilden. Mit den Farben der Bärte verhielt es sich ähnlich. Bei den jüngeren Gelehrten waren die Kennzeichen männlicher Würde und Weisheit schwarz, bei den altehrwürdigen weisen Männern waren sie in der Regel schlohweiß. Graue Zwischentöne suchte ich vergebens. Entweder schwarz oder weiß waren auch die Mäntel der Imame. Die meisten von ihnen trugen schwarze bodenlange wallende Gewänder, aber ausgerechnet die Herrschaften mit schwarzer Kopfbedeckung traten als weiße Väter in Erscheinung.

Bedrängt und beengt von so viel geballter männlicher Dominanz, hielt ich Ausschau wenigstens nach einer Spur weiblicher Präsenz. Nach langen Suchen entdeckte ich am anderen Ende der letzten Reihe meine Imamin Halima Krausen, die Mutter Courage unserer deutschsprachigen Gemeinde, und neben ihr gehörig verschleiert unsere beiden Bibliothekarinnen. So als sollten sie wie winzige weibliche Feigenblätter die nackte Zurschaustellung maskuliner Potenz schamhaft verbergen. Ich sandte wenigstens ein Smily herüber meinen Schwestern. Am liebsten hätte ich laut gelacht, als der Leiter die Tagesordnung für das Symposion vorstellte. Der dritte Punkt lautete: „Die Rolle der Frau bei der Verwirklichung des Weltfriedens„.

Als in einer kurzen Pause Tee gereicht wurde, fragte mich einer der Turbanträger auf Englisch, warum ich mich über das Thema amüsiert hätte.

Das ist doch wichtig, belehrte er mich.

Ja, gab ich ihm Recht, aber ohne Frauen?

Dies sei ein Treffen von Gelehrten.

Gibt es keine gelehrten Frauen?

Doch. Aber die Frauen können keine Fatwas verkünden.

Warum nicht?

Imam Khomeini sagt, weil die Frauen sich eher von ihren Gefühlen leiten lassen.

Und die Männer!

Von ihrer Vernunft.

Er benutzte das englische Wort „reason„, aber für mich hörte sich das Wort eher wie das französische „raison„ an,und das heißt klardeutsch „Gehorsam„.

Die Zwölfermachos wollten nach den Gebeten und den üblichen, von lautem Männerweinen begleiteten Klagegesängen auf Husseins Martyrium mit der eigentlichen Arbeit beginnen, als einer der hochrangigen Ehrengäste aus dem Vaterland der Ajatollahs mit einiger Mühe versuchte, auf das Podium zu klettern. Keiner half ihm, sein Auftritt war offensichtlich nicht im Programm vor- gesehen. Er stürzte und blieb ohnmächtig auf den Stufen liegen. Allen stockte der Atem, die hohen, höchsten und allerhöchsten Herrschaften erhoben sich von ihren Plätzen und murmelten Gebete. Doch keiner tat etwas. Anscheinend hofften alle auf ein Wunder.

Doch plötzlich kam Bewegung in den Saal. Aus der hintersten Reihe stürmten die beiden Bibliothekarinnen nach vorn. Sie schwenkte ihre Rotkreuzausweise und zeigten damit der geballten Männermacht, dass sie ihren Erstehilfekurs absolviert hatten. Sie zögerten keine Sekunde. Sie warfen ihre Kopftücher beiseite und rissen dann dem alten Mann Stück um Stück die Kleider vom Leib. Offensichtlich gingen die barmherzigen Schwestern davon aus, dass der Gestürzte einen Herzinfarkt erlitten hatte, und begannen sofort mit ihren lebensrettenden Maßnahmen. Eine Helferin hockte sich über den am Boden liegenden Notfallpatienten und fing an, seine nackte Brust zu massieren. Die andere beugte sich über seinen Kopf und versuchte, ihn von Mund zu Mund zu beatmen. Sprachlos verfolgten die geistlichen Autoritäten, wie die beiden Frauen um das Leben ihres Lehrmeisters kämpften.

Ihr Einsatz war nicht vergebens. Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Gottesmänner. Der gestürzte Ajatollah riss plötzlich beide Augen auf, und er begann, mit beiden Armen wild um sich zu schlagen. Der Schock darüber, dass sich gleich zwei Frauen auf einmal an seinem halb entblößtem Körper zu schaffen machten, war ihm offenbar so in die erstarrten Glieder gefahren, dass er vor Schreck - oder vor lauter Freude darüber, dass er so plötzlich geraden Weges ohne Zwischenaufenthalt im Grabe, im Fegefeuer oder in der Hölle mitten im Paradies gelandet war - aus seiner Bewusstlosigkeit aufgesprungen ist. Er wusste im ersten Moment seiner Wiederauferstehung nichts Besseres zu tun, als nach seinem Turban zu greifen. Er richtete sich mühsam wieder auf, gehalten von seinen Lebensretterinnen.Im selben Augenblick drängten zwei Notärztinnen mit schweren Koffern in die Moschee und nahmen sich des schwankenden Turbanträgers an. In ihren weißen Kitteln fügten sie sich zumindest optisch in die schwarz-weiße Front der Gelehrten ein. Ihnen folgten rasch zwei ebenso hell gekleidete Sanitäterinnen. Sie hatten eine Bahre mitgebracht, und mit den vereinten Kräften von zwölf helfenden Frauenhänden gelang es rasch, den schwer atmenden Patienten für den Transport aus der Moschee ins nächste Krankenhaus vorzubereiten.

Das Symposion konnte endlich in die Tagesordnung einsteigen. Zwei Stunden später kam eine Nachricht aus dem Universitätskrankenhaus, dass der Infarktpatient außer Lebensgefahr sei.

Die Tagung wurde erneut unterbrochen, und unter den Gelehrten begann ein heimliches Tuscheln darüber, was den greisen Ajatollah bewogen haben könnte, außerfahrplanmäßig zum Podium zu drängen. Der Gestürzte war, so ging das Gerücht, ein enger Gefolgsmann von Imam Khomeini, und er habe wissen wollen, warum die Gastgeber bei der Eröffnung des Symposions von der Linie des Imams abgewichen seien und den Revolutionsführer mit keinem Wort und keinem Gebet gewürdigt hätten.

Stimmt es, fragte ich den Turbanträger, der mich zuvor in der Frauenfrage eines Besseren belehrt hatte, dass die Linie des Imams nicht mehr gilt.

Sie ist, bekam ich zur Antwort, vielleicht nicht mehr die einzige Richtschnur.

Und wer gibt stattdessen die Linie vor?

Vernunft und Weisheit, meinte er vielsagend.

Das gibt Hoffnung, lachte ich, die Vernunft ist meinetwegen eher männlich, dafür ist die Weisheit mehr weiblich. Dann ist es eines Tages doch mit der Alleinherrschaft der gelehrten Männer vorbei.

Gott weiß! seufzte er.

Gott weiß es besser! Hab ich geantwortet.

Von all den Rosenwasser- und Männerangstschweißgerüchen benebelt, habe ich die Gelehrten unter sich gelassen. Ich kann mir nicht helfen, aber die Ausklammerung aller weiblichen Aspekte in der Theologie führt zu einem einseitig männlich, machoman, herrisch geprägtem Gottesbild, das mich kalt lässt. Ich bin nach Hause geradelt in der leisen Hoffnung, dass es beim nächsten Symposion mehr nach Jasmin, Safran und Lotosblumenöl riechen möge, dezentere Düfte, wie sie kluge orientalische Frauen bevorzugen. Und dass dann keine Bodyguards mir den freien Zutritt zu meiner Gebetsstätte verwehren.


***


Testimonialliteratur – schon mal gelesen oder gehört?

Von Willi Volka


Das Wort setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: „Testimonial„ – ein Begriff der aus der Werbung bekannt ist, aus dem Englischen kommt und eben dem allgemeinen Begriff „Literatur„. Das englische Wort steht für Zeugnis, Beurteilung oder Empfehlungsschreiben. In der Werbebranche versteht man darunter Aussagen von „authentischen„ Personen zu Erfahrungen mit Produkten oder Dienstleistungen. Beide Begriffe vereint, führen zu einer neuen Bedeutung.

In der Literaturwissenschaft wird unter Testimonialliteratur ein zwischen Analyse und Synthese historischer Roman verstanden. Seine Merkmal ist: ein Zeugenbericht aus erster oder zweiter Hand zu sein, der Gräueltaten und Unterdrückung von Menschen literarisch verarbeitet und in Lateinamerika unter dem Druck von Militärdiktaturen in den 60-er Jahren erwachsen ist. Diese Literaturgattung ist als ein Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse, eine Gattung die globalen Charakter trägt und durch den Lebensbezug ihre Bedeutung gewinnt..

Wir kannten oder kennen sie noch die SportlerInnen in Fotos oder Werbespots, wie ein Fritz Schumacher, die Klitschkobrüder oder Steffi Graf, die Gesichter von Fußballspielern. Jetzt nach dem erfolgreichem Abschneiden bei der Fußballweltmeisterschaft, werden sie für viele Produkte ihre Namen und Abbilder verkaufen. Jogi Löw machte es ja bereits vor der Weltmeisterschaft als „Nivea men„ vor, wie viele andere

Spätestens, als Ende Mai 2014 die Unfallmeldung erschien, dass beim Werbedreh zur Zeit des Trainingslagers der deutschen Fußballnationalmannschaft unbeteiligte Menschen verletzt wurden und damit nicht nur Spielerverletzungen Schlagzeilen machten, wird deutlich, wie stark die Werbebranche auf bekannte Gesichter zugeht, im wechselnden Einverständnis, denn es geht um hohe Einnahmen bei der Werbeagentur und von den „Testimonial-Personen„. Die Fußballpromis wurden schon vorbereitet, vermarktet, bevor sie die Toperwartungen erfüllt hatten, eine Art Lagerbegleitung, wie hier eine PR-Aktion für Mercedes. Zwar wird Joachim Löw kaum am Steuer eines Mercedes gesessen haben, denn ein Mann ohne Führerschein ist kein passender Werbeträger für Automobile. Aber im Gelingen WM-Meisterschaft erstrahlt der Mannschafts- und Trainerruhm. „Testimonial-Promis„, die im Glanz von Erfolg in die Kamera schauen, durch sie zu uns.

Aber nicht nur Sportler oder andere Promis, sind es, die sich mit Produkten identifizieren und vorgeben, sie zu nutzen, um damit dem Normalverbraucher ein Mitanteilgefühl zu vermitteln, dieses, wenn du es dir leistest, steigst du in unsere Sphäre. Wir sehen dabei manchmal auch Experten, die es wissen müssen, die ein Produkt loben, oder Angehörige eines Unternehmens, die preisen, was sie unter angepriesenen hervorgehobenen Bedingungen produzieren oder auch die Nutzer selbst, die überzeugt von einem Produkt sind und ihre positiven Erfahrungen bekennen. Offen bleibt dabei inwieweit Überzeugung oder die Honorarverlockung im Hintergrund steht. Alle treten sie als Produktvermittler vor die Kamera und zeigen sich in Bildern der Gesellschaft.

Nicht anders tun es z.B. die südamerikanischen „Testimonial-AutorInnen„ mit ihren Erlebnisberichten. Es sind aber Menschen, die sich im Gegensatz zur Werbung nicht auf der Erfolgsspur bewegen, doch bezeugend auftreten, aus Betroffenheit Zeugnis ablegen von Unterdrück-, Geplagt- und Verfolgtsein. Wenn sie Glück haben, werden sie durch das Werk prominent, gewissermaßen auf dem Rücken der selbst erlittenen Geschichte und werden wahr genommen. Das „Honorar„ kann, infolge des Anprangerns bestimmter Gewaltverhältnisse, Verfolgung und Todesdrohung nach sich ziehen.

Die Inhalte der Testimonialliteratur stammen aus persönlicher Betroffenheit und tragen einen schicksalhaften Hintergrund mit dokumentarischem Charakter. Die „Erzählungen„ sind voller kollektiver Energie, verhelfen der Wahrheit ans Licht, erwecken oder stärken die Kollektivität in der Gesellschaft und stützen eine persönliche wie auch die kulturelle Identität, die aus der Geschichte erwächst. Das Schicksal wird offenbart, durchbricht die Klaviatur der Unterdrückung auch darin, wenn sich z.B. unter dem Druck der Drogenmafia Geknechtete sich solidarisieren. Die Qual und die Erniedrigung reizen zum Trotz, zur Opposition bis hin zum Aufstand aus dem Untergrund.

Ihre Literatur ist authentisch – sie wirbt nicht für ein fertiges Produkt, sondern rechnet mit missbrauchter Macht ab, deckt die Methoden der Mächtigen auf, sensibilisiert, zeigt Leiden und Stärken. Ihre Beglaubigungssituation ist nicht eine Werbung für ein „Superprodukt„, sondern stellt sich als ergreifender sozialer und psychischer Bericht dar, der sich meist auf die unteren benachteiligten Gesellschaftsschichten bezieht und sich gegen die Gräueltaten diktatorischer Regime und gesellschaftliche Zustände richtet. Diese „testimoniale Funktion„ lebt durch eine Beglaubigungsfunktion, indem sie Einblicke in die „Produktionsebene„ gibt – in diesem Fall von Gewalt und Machtmissbrauch – quälendes und menschenrechtsverachtenden Gebaren bezeugt und anklagt. Hier treten die „Kunden„, als wirklich „überzeugte„ hervor.

Diese „testimoniale Funktion„ ist von einer allgemeinen erzählerischen Literatur (wie etwa „Vom Winde verweht„) zu unterscheiden – sie sieht den Auftrag besonders in der Aufklärung von geschehenem persönlichem Unrecht. Ausgangspunkt sind die stark diktatorisch geprägten Länder der 60er Jahre mit ihrem Höhepunkt in den 70ern. Die Liste der Herkunftsländer ist lang: Chile, Guatemala, Honduras, Kolumbien, Kuba, Nicaragua, Patagonien, auch das Land der Fußballweltmeisterschaft 2014 mit seiner „LIteratura Marginal„ u.a. und setzt sich bis in die Gegenwart fort. Lateinamerika verdanken wir eine Literaturgattung, die zur Entfaltung einer Erinnerungskultur beiträgt, sich auf Wurzeln des Menschseins besinnt. Aber hat nur Ibero-Amerika solche narrative „Erzählungen„? Wohl kaum. Diese Art von Literatur existiert, leider muss man sagen, auch in anderen Kulturräumen.

Auch die europäische Literatur ist der testmonialen Literaturaspekt nicht unbekannt – man denke an den Holocaust, an Die Tagebücher von Anne Frank bis hin zu erschütternde Berichte von Überlebenden aus den Lagern. Diese Literatur zählt zur Vergangenheitsbewältigung, d. h. Aufarbeitung der Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft, der Auseinandersetzung mit den Diktaturen Südeuropas und der traumatischen Erfahrungen mit Militärdiktaturen. Die Erinnerungsliteratur ist Teil einer Zeugnis- bzw. Testimonialliteratur.

Diese Art von Literatur kann unter den Zwiespalt von Fiktion und Zeitzeugenhaft geraten – eine Art Dokufiktion, die im Extremall auch Zeugenschaft imitieren kann, indem sie hier als „erdachte Erinnerung„ erscheint, die im Zeitgeist und den bestehenden Umständen recht plausibel anknüpft.

Der Begriff sollte auch weit stärker in unserem Bewusstsein verankert sein, weil solche Literatur als Grenzgänger zwischen realem Geschehen und dem Aufarbeiten des Geschehens von menschenverachtender Gewalt und Macht, ein weitverbreitetes Phänomen ist, eine Art Offenbarung, die in die Gesellschaft hinein wirkt. Dazu gehören auch Literaturwerke wie „Der Archipel Gulag„ von Alexander Solschenizyn, der die Straflagerpraxis in Russland öffentlich machte, oder die Enthüllungsgeschichten von Günter Wallraff „Ganz unten„, der sich eine begrenzte Zeit als Underdog verdingt und sich einem System unterwirft und zum Zeugen von Ausnutzung und Unterdrückung wurde. Manche Autoren erhalten durch ihre Aufzeichnungen Ikonencharakter.

Man kann einen engeren oder weiteren Rahmen fassen, der Kern ist und bleibt der gequälte Mensch, der in seinem literarischen Bericht gewissermaßen einen Schrei ausstößt, wie Eduard Munch es in seinem beängstigten Bild darstellt. Es ist Aufschreibliteratur, die aus der Seele und dem zugefügten Leid erwächst, uns zu Mitwissern macht, bewegen kann. Diese gibt nicht nur vor authentisch zu sein, sondern ist es und vermittelt unterdrücktes Leben anderen gegenüber. Wissen von extremen Lebensbedingungen in Worte zu fassen, die uns nach Gründen fragen lässt. Testimonialliteratur ist Botschaft, für verfolgte menschliche Kreaturen, die uns berühren sollte, zum Bewusstsein bringen, dass auch uns derlei einmal passieren könnte.

Nicht nur das geschriebene Wort zählt, sondern auch Bilder, versteckt gedrehte Videos oder Fotoarbeiten von ReporterInnen. So zeigte z.B. das 4. LumixFestival im Juli 2014 in Hannover eine Fotostrecke von Daniela Volpe über den „Guatemala Genocide„, der unter andrem an den Maya Ixil-Ureinwohnern begangen wurde und durch Exhumierungen offenbar wird. Dieser Bürgerkrieg in Guatemala forderte etwa 200 000 Tote. Familien suchen bis heute Angehörige, die auf der Flucht vor der Armee starben oder im Dschungel verhungerten.

Leider müssen wir auf die Krisenherde und Kriegskonflikte unserer Tage schauen: Israel und Palästina, Ukraine, Syrien, Irak und viele andere. Die Grausamkeiten dieser Ereignisse werden einen Schub der Testimonialliteratur nach sich ziehen und traurige Denkmäler an die Verbrechen dieser Tage aufzeigen und festhalten. Manches geschundene Ich wird sein Leiden fest halten, das Recht auf Autorisierung beanspruchen, diesen selbst gegebenen Auftrag ausführen.

Es wird als eine Art Aufbäumen sein, Widerstand gegen das Unrecht, das empfunden, durchlitten wurde, das den Taten Ausdruck und Stimme leiht. Der Motor ist das erlittene Leid, das über die Menschen kam. Verantwortung vor sich selbst zu suchen, den Widerspruch zum Sosein zum Aufstand nutzen, Menschenwürde, Gewissen, Rest von Gerechtigkeit, Widerstand durch Worte, ein sich einmischen. Passivität wird zugleich zur Kollaboration mit dem Bösen. Durch Worte Identität wieder finden. Warten wir es ab, die Gräueltaten werden ihre Ankläger finden.

Weder bin ich ein Literaturwissenschaftler noch ein Experte der Unterdrückungsgeschichte – aber staune im Nachhinein, wenn man sich auf einen Begriff einlässt, was sich dabei herausschält, wenn man sich auf die Fährte eines Begriffes setzt und auf diese Weise sich einen Begriffsnagel in die Geschichtswand schlägt. Über Wissen und Erkenntnis kann Handeln gewonnen werden, Freiheit wachsen …


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Les fleurs du charme

Von Ulrich Bergmann


Nach vielen Jahren traf ich eine alte Freundin auf dem Blumenmarkt in der Stadt meiner Jugend. Wir standen neben den Vasen mit den Margeriten. Ich war neugierig zu hören, was sie in ihrem Leben erfahren hatte, wie es ihr geht, aber ihr lief das Herz im Mund über: „Stell dir vor, eben wurde ich auf meine alten Tage von einem Mann angesprochen. Das ist mir lange nicht mehr passiert. Als ich eine junge Frau war, vielleicht gerade noch ein Mädchen, lief mir ein Bildhauer mitten in der Stadt in den Weg, sah mich an und sagte: Ich male Sie und schlage Sie in Stein! Ich war perplex, er fasste mich an der Hand und zog mich in sein Atelier, nicht weit von der Stelle, wo mich eben der Mann ansprach, ein seriöser Herr ungefähr in meinem Alter, sehr gut aussehend. Er starrte mich schon von weitem an, und als ich unter die Arkaden der Kaufhalle abbog, folgte er mir und holte mich bald ein: Sie haben eine Ausstrahlung!, sagte er, Sie besitzen ein umwerfendes - Appeal! Der Bildhauer sagte: Sie sind nicht nur schön, sondern es geht weit darüber hinaus, Sie haben einen nie dagewesenen Kopf. Den wolle er unbedingt haben, sagte er noch. Der Mann, den ich so sehr verzaubert hatte, fragte mich, ob ich mir meines Charismas überhaupt bewusst sei? Er ergriff meine Hand und schlug vor, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen. Ich fühlte mich überrollt. Ich wand mich aus der Hand und sagte: Nein. Ich weiß nicht, warum ich wieder an den Bildhauer denken musste, der meinen Kopf in wenigen Minuten mehrmals zeichnete und mir eine der Skizzen schenkte, als wir uns verabschiedeten. Der Mann, den ich heute so verhexte, stellte sich mir als Kunsthistoriker vor. Nicht schlecht, dachte ich, aber als er dann vermutete, ich sei gewiss eine Künstlerin, fröstelte mich diese Suche nach Übereinstimmung, oder war es Angst, ich weiß es nicht, eigentlich freute ich mich über die Avancen des Kavaliers, zumal mein Mann immer wieder betont, wie alt wir doch schon seien, sozusagen grabfertig. Vielleicht verstärkten diese Gedanken, die mir durch den Kopf schossen, die Intensität meiner Ausstrahlung, meinem Kavalier stand die Sehnsucht ins Gesicht geschrieben ... Wie dem auch sei, ich gab ihm den Laufpass. Mich erinnert diese Begegnung an ein Gedicht von Baudelaire ...“

Meine Freundin erzählte das alles so, als hätten wir uns gestern noch gesehen und über alle Dinge des Alltags gesprochen, und mir ging es genauso. „Vor wenigen Jahren“, konterte ich, „hat mich nach einem Vortrag, den ich in Ludwigsburg hielt, eine Frau, ungefähr in der Mitte ihres Lebens, angesprochen, im Beisein anderer Gäste: Ihre Worte haben mich ergriffen, sie schmeicheln meinem Verstand, Sie sind ein Mann des Geistes, der den Körper kennt und die Gesetze der Natur!, und gab mir ihre Visitenkarte. Besuchen Sie mich, wann Sie wollen!, und fügte hinzu, es sei ihr heute Abend keinesfalls zu spät. Was tun? Sie rühmt meinen Geist, dachte ich, und meint noch andere Kräfte ... Ich sah verzückt in ihren Augen die Süße, die verlockt, die Lust die mich zersetzen sollte...“ Die letzten Worte sagte ich mit einem geheimnisvoll verschwörerischen Lächeln zur Freundin, der ich so intensiv wiederbegegnet war. „Ich steckte ihre Visitenkarte ein und sagte mit einem abfedernden Lächeln: Ich fühle mich sehr geehrt von Ihren Worten, Madame. Ich ließ offen, was nun geschah.“ - „Deine charmante Bittstellerin muss gedacht haben: Ein Blitz - nun geht er in das Dunkel hin...“, sagte meine wiedergefundene Freundin. - „Ja“, sagte ich, „wir wissen voneinander nicht, wohin wir gehen.“ - „Du hättest die Gelegenheit beim Schopfe packen sollen“, sagte sie. - „Vorbei“, sagte ich, „vorbei. Komm, gehen wir Kaffee trinken ...“

   

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