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1813 ist in Europa ein Jahr der Entscheidungen gewesen. Mit der
Völkerschlacht bei Leipzig war nicht nur der imperiale Usurpator
Napoleon, der angemaßte Erbe der bürgerlichen Revolution,
besiegt. Es schien auch die erschöpfte und erstarrte Revolution
selbst niedergeworfen zu sein. Restauration hieß das so eingängige
wie irreführende Schlagwort, das die politischen Vorgänge
dieser Zeit illustriert - denn selbstredend konnte der Kapitalismus,
nachdem er in Frankreich gesiegt und von dort aus den europäischen
Kontinent überzogen hatte, nicht mehr ins Prokrustesbett feudaler
Verhältnisse zurückgezerrt werden. Und wo dies tatsächlich
versucht, wo der Vormarsch der kapitalistischen Produktionsweise,
die in England genau um diese Zeit ihre entscheidende industrielle
Unterfütterung erfuhr, aufzuhalten gewagt wurde, dort setzte
die bürgerliche Revolution von neuem mächtig
ein und riß wie ein Rammbock die feudalen Mauern nieder.
Die musikalischen Begleiter dieser Epoche der Revolutionen
sind Verdi und Wagner, beide 1813 geboren.
Gewöhnlich werden die zwei Komponisten einander
gegenübergestellt und das nicht unberechtigt. Aber bevor auf
die Gegensätzlichkeit ihres Werks eingegangen wird, die nicht
nur und nicht einmal in erster Linie durch die sehr verschiedenen
Charaktere und künstlerischen Temperamente der beiden bestimmt
wird, sondern der das unterschiedliche Entwicklungsniveau Deutschlands
und Italiens zugrunde liegt, soll betont werden, daß Verdi
und Wagner die Befreiung des bürgerlichen Individuums aus den
Zwängen der feudalen Gesellschaft musikalisch gefordert und
befördert haben, daß sich in ihrem Schaffen sowohl die
Licht- als auch die Schattenseiten der bürgerlichen Emanzipation
spiegeln.
Italien ist das Ursprungsland des spätmittelalterlichen
Verlags- und Handelskapitalismus, der den Feudalismus weitgehend
verdrängte und Italien beinahe vereinigt hätte. Doch während
der Renaissance, als die italienischen Zwergstaaten unter ausländische
Bevormundung und Besatzung gerieten, kam es zu einer Restauration
der Adelsherrschaft. Es bedurfte eines sehr langen und teils erbitterten
Kampfes, um dem Fortschritt wieder zum Vorankommen zu verhelfen.
Verdi ist der Sänger der bürgerlichen Freiheitsbewegung,
die sich hauptsächlich gegen die Fremdherrschaft der Habsburger,
Bourbonen und des Vatikan richtete und deshalb auch Teile des Adels
umfassen konnte. Diese Besonderheit der italienischen Revolution,
sich vor allem gegen fremde Mächte durchsetzen zu müssen,
hat sowohl die Operntradition, in der Verdi stand, als auch Verdis
Schaffen selbst wesentlich geprägt.
Die Oper ist als musikalisches Drama zum Ende der
Renaissance nach dem Zurückdrängen des frühen Handelskapitalismus
entstanden. In ihr verbanden sich die bisher erreichten künstlerischen
und technischen Fertigkeiten des italienischen Bürgertums in
der Bühnenkunst, die seinen Leistungen in Malerei, Bildhauerkunst
und Literatur kaum nachstehen, mit dem Repräsentationsanspruch
der wieder erstarkten feudalen Kräfte. In diesem weitgesteckten
theatralischen Rahmen konnten sowohl die Bedürfnisse der höfischen
Welt (des Adels und des gelehrten Klerus) befriedigt als auch den
Bestrebungen des unterdrückten Bürgertums eine Stimme
gegeben werden. Das war die Voraussetzung für die ungeheure
nationale Verbreitung der Oper auch in den unteren Volksschichten.
Und je stärker das Bürgertum seine Ansprüche in der
Oper vertrat, um so größer wurde ihre Resonanz, wurde
sie wirklich zu einem Organ des Volkes. Nur so lassen sich die unglaublichen
Berichte europäischer Reisender aus dem beginnenden neunzehnten
Jahrhundert erklären, daß das ganze Volk bis hinunter
zu Gassenjungen und Landstreichern begeistert Arien sang und daß
die Komponisten eine öffentliche Anerkennung und Verehrung
erfuhren, die an den übersteigerten Starrummel der Gegenwart
erinnert.
Verdi ist der Gipfel und zugleich der Abschluß
dieser musikalischen Entwicklung. Das Bürgertum vereinigte
in seiner Person noch einmal seine Fähigkeiten und sein Können,
sein künstlerisches Empfinden und seine demokratischen Ideale.
Und da dieses Bürgertum mit den Volksklassen noch in eins ging,
wurden seine Empfindungen und Ansichten auch von diesen geteilt.
1848 war der Höhepunkt dieser glücklichen Gemeinschaft.
Und 1870 - die Erringung der Einheit Italiens - ihr Scheitelpunkt.
Von da an gingen Bürgertum und Volksklassen auseinander und
wurden bald zu erbitterten Kontrahenten, was die Volkstümlichkeit
der Oper bedeutend beeinträchtigte.
Verdi starb erst 1901, aber diese Entwicklung hat
er nicht mehr künstlerisch reflektiert. Sogar daß die
demokratische Revolution unvollendet blieb und der halbfeudale agrarische
Süden de facto zu einer Kolonie des industriellen Nordens wurde
- das war übrigens der Boden für das Aufblühen der
Mafia -, wurde von ihm kaum wahrgenommen.
Wagner lebte im fortgeschritteneren Deutschland. Auch
er gab den Bestrebungen des fortschrittlichen Bürgertums künstlerischen
Ausdruck, aber nur bis 1848. Wenn die Revolution auch niedergeworfen
wurde, sozialökonomiseh setzte sich der Kapitalismus durch.
Und die Überreste des Feudalismus vermochten nur zu überleben,
weil sie sich dieser Entwicklung anpaßten.
Wagner ist der erste Komponist von Weltgeltung, dessen
Werk von den Widersprüchen des Kapitalismus und nicht mehr
von der bürgerlichen Revolution oder vom zerfallenden Feudalismus
bestimmt wird.
Wagner hat keine Ahnung von Ökonomie oder gar
den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus. Er versteht ihn nicht, aber
er erleidet ihn. Seine damals noch progressive Seite - die Entwicklung
der Produktivkräfte und die Auflösung und Beseitigung
der feudalen Verhältnisse - bemerkt er nicht. Er erlebt ihn
nur als allgemeine künstlerische, finanzielle und moralische
Korruption, als hemmungslose Profitmacherei und stringente Kunstfeindlichkeit.
Vieles von Wagners Ansichten und Verhalten ähnelt
den Betrachtungen und dem Auftreten der französischen poets
maudits, der Parnassiens und Symbolisten. Wie diese lehnte er die
bürgerliche Demokratie ab, weil er in ihr eine besonders widerwärtige
Knechtung der Menschen unter das große Geld sah. Und gleich
den französischen Dichtern fühlte er sich zu Vertretern
des hohen Adels hingezogen, zu überlebenden wie überlebten
Repräsentanten des Feudalismus, in seinem Fall Ludwig II. von
Bayern. An ihm, der ihn an die allgewaltigen Monarchen des Mittelalters
erinnerte, glaubte er noch Reste eines durchgehenden Kunstsinns
zu entdecken, der den Magnaten von Finanz und Industrie völlig
abging.
Malter Benjamin hat die poets maudits als Agenten
der Unzufriedenheit mit der Herrschaft ihrer Klasse bezeichnet.
Auch Richard Wagner kann als ein solcher Agent angesehen werden.
Die Musik, die Wagner Beruf und Berufung ist, wird
gerade zu seiner Zeit vollständig kommerzialisiert. Das gesamte
musikalische Leben gerät in die Hände kapitalistischer
Unternehmer, die die Jagd nach dem goldenen Kalb zum höchsten
Inbegriff des künstlerischen Wollens erheben, darin begleitet
und unterstützt von den käuflichen Journalisten—
Cliquen, für die Zeitungsarbeit zum reinen Gelderwerb geworden
ist.
Wagner, der sich in diesem Kulturbetrieb nur sehr
schwer durchsetzen kann, haßt diese Unternehmer. Und da viele
von ihnen und ebenso viele ihrer Zeitungsknechte - und gerade die,
mit denen er am heftigsten zusammenstößt - jüdischer
Herkunft sind, überträgt er seinen Haß auf den Kapitalismus
auf die Juden. Er identifiziert sie mit jenem. Sie sind für
ihn die fleischgewordene Korruption, Mittelmäßigkeit
und Kuponschneiderei.
Ein sachliches Verhältnis wie die Warenproduktion
und den Kapitalismus immer nur in Personen wahrnehmen zu können
und über diesen das Verhältnis dann zu vergessen - das
ist ein romantischer, ein verdrehter Antikapitalismus, der die Grundlage
seines Antisemitismus bildet. Sowohl die rechte Kulturkritik um
1900 als auch der deutsche Faschismus haben daran angeknüpft.
Dennoch ist es vermessen, Wagner für die Verbrechen
des deutschen Imperialismus haftbar zu machen und das nicht nur,
weil er schon 1883 starb. Denn es gibt in seinem Werk wesentliche
Elemente, die dessen reaktionärer Ausdeutung widersprechen.
Ein Charakteristikum der kapitalistischen Entwicklung
auf dem Gebiet der Kunst ist die Beeinträchtigung und Zerstörung
der Gemeinschaft von Künstler und Volk, die Entfremdung des
Künstlers vom Leben und Kampf der Volksklassen. Wagner hat
diese Entfremdung besonders schmerzlich empfunden und sie zu überwinden
versucht. Sein Ausgangspunkt war derselbe romantische Standpunkt,
der ihn in der Politik zum Antisemitismus geführt hat. Das
Bayreuther Opernhaus, heute ein Treffpunkt für Snobs und Millionäre,
war als ein Musiktheater des ganzen Volkes konzipiert. Und um die
Einheit der Künste mit dem Volk, die dieses Haus manifestieren
sollte, wieder herzustellen, versuchte Wagner in seinem Werk eine
Einheit aller zu seiner Zeit vorhandenen Künste zu bewerkstelligen,
ein Gesamtkunstwerk zu schaffen als Verbindung von Musik, Dichtung,
bildender Kunst und Architektur, ähnlich der attischen Tragödie
des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeit, die auch eine Angelegenheit
des ganzen Volkes gewesen ist.
In Wagners Werk spiegelt sich ungebremst das zerstörerische
Aufeinanderprallen der seelischen Kräfte wider, die der Kapitalismus
nach Zerreißung der spätmittelalterlichen Fesseln freigesetzt
hat. Der neue, bürgerliche Mensch ist nicht edel und gut, wie
noch ein Goethe hoffte, er ist ein Raubtier, eine Bestie, der die
Verkehrung aller humanistischen Werte lebt - und predigt. Diese
monumentalen Gegensätze, die Wagners Werk ständig zu zerreißen
drohen, können nur von der gewaltigen Klammer der Musik gebändigt
und zusammengehalten werden. Das erzwang nicht nur die Aufbietung
und Sprengung aller bis dahin bekannten musikalischen Ausdrucksformen.
Zerstörung ist ein notwendiger, aber nur erster Schritt bei
der Bewältigung dieser neuen Widersprüche. Wichtiger noch
ist die Neuschöpfung der Formen, der zweite Schritt, der das
Chaos wieder zu Kunst zusammenführt, und auch den hat Wagner
vollzogen. Aber das Ergebnis konnte unter den oben genannten Bedingungen
nur zwiespältig sein.
Wagners Werk kann nicht platterdings fortschrittlich
oder reaktionär genannt werden. Es schließt beide Seiten
ein, die sich in ihm unlösbar durchdringen und bekämpfen.
Eine Aufhebung der Widersprüche, die seine Musik so zerreißt,
gelang Wagner nicht und konnte ihm auch nicht gelingen. Um die Gegensätze
notdürftig miteinander auszugleichen, hat er sie in romantischer
Mythologie ertränkt.
Aber wenn auch Wagners Antworten auf die Fragen, die
der Kapitalismus für die Entwicklung der Kunst aufwarf, wenig
zu überzeugen vermögen, die Anstöße, die er
der Musik gegeben hat, wirken bis heute.
***
Die Toten an die Lebenden
Vor beinahe einhundert Jahren wurde die Welt von einem "imperialistischen
Zyklon durchrast, der als erster Weltkrieg in die Geschichtsbücher
eingegangen ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika befanden sich
die meiste Zeit im Auge dieses Wirbelsturms, in dem bekanntlich
fast immer Windstille herrscht, und griffen erst zum Ende in die
Auseinandersetzungen ein. Als einziger Staat gingen sie gest ärkt
daraus hervor und übernahmen die Rolle der imperialistischen
Hauptmacht.
Inmitten dieses Zeitabschnitts erschienen in Chikago
zwei Bücher - Edgar Lee Masters" "Die Toten von Spoon
River" und Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio" -,
die eine große Bedeutung für die amerikanische Literatur
erlangen sollten.
Diese war nämlich in den Jahren zuvor in eine
gewisse Stagnation geraten. Der ungeheure ökonomische und soziale
Fortschritt und vor allem seine ungeahnten Folgen hatte die Intelligenz,
die Erzeugerin und Trägerin der Kultur, überfordert. Noch
fest auf das neunzehnte Jahrhundert geeicht, schaute sie die neuen
Erscheinungen, die Ausdruck tiefgreifender Umwälzungsprozesse
waren, ratlos an. Sie spürte, daß der alte Weg der kapitalistischen
Entwicklung ausgeschritten war, aber den neuen wußte sie noch
nicht zu deuten.
Um die Jahrhundertwende war die Pionierzeit, die Kindheits-
und Jugendphase der USA, unwiderruflich zu Ende gegangen. Die extensive
Entwicklung, die immer neues unberührtes Land verschlang, auf
dem die Millionenmassen europäischer Einwanderer untergebracht
wurden, fand mit dem Erreichen des Pazifischen Ozeans ihre natürliche
Grenze. Die Vereinigten Staaten dehnten sich nicht mehr aus (oder
wenn - wie im Spanisch-Amerikanischen Krieg -, dann nur noch als
Kolonialmacht, die keine Ansiedelungen von Einwanderern mehr durchführte).
Dafür setzte eine intensive Entwicklung ein, die schon vorher
unterschwellig das Land erfaßt hatte, nun aber sichtbar zu
Tage trat. Es entstanden Trusts und Syndikate, die ganze Industriezweige
dirigierten. Das Land wurde elektrifiziert und automobilisiert,
die Farmwirtschaften mechanisiert. Und das alles verknüpfte
das Netz der großen Banken und Finanzinstitute, die um diese
Zeit den bis heute bestehenden beherrschenden Einfluß auf
Politik und Wirtschaft gewannen.
In der Literatur verbanden sich die sehr verschiedenen
regional gefärbten Strömungen endgültig zu einer
einheitlichen Nationalliteratur, deren künstlerische Kraft
aber merkwürdigerweise genau zu diesem Zeitpunkt erschlaffte
und die die eingetretenen Veränderungen entweder hilflos attackierte
oder zu ignorieren versuchte. Einen Moment schien es, als ob der
Naturalismus, der von den großen Industriezentren aus in die
Literatur vordrang, eine Belebung bringen würde. Aber seine
Vorliebe für grelle Kolportage begrenzte seine künstlerische
Kraft sehr.
Das neunzehnte Jahrhundert hatte eine bedeutende Literatur
erblühen sehen, deren beste Köpfe - Poe und Melville,
Whitman und Twain - auch in Europa wahrgenommen wurden. Sie brachten
nicht nur neue Stoffe in die Weltliteratur ein, sie entwickelten
auch neue Formen dafür - die Short Story und der freirhytmische
Langvers - und verhalfen ebenfalls der natürlichen Redeweise,
der Umgangssprache, zu neuem Recht gegenüber der Hochsprache.
Nicht umsonst wird diese Epoche manchmal das Goldene Zeitalter der
nordamerikam" sehen Literatur genannt.
Doch die geschliffenen Prismen und Spiegel dieser
gereiften und tradierten Literatur erwiesen sich plötzlich
als ungeeignet, die soziale Entwicklung angemessen aufzunehmen und
zu durchleuchten. Die gemächliche, verwickelte, der Persönlichkeit
und ihren Äußerungen alle Zeit der Welt lassende Erzählweise
Twains und Melvilles konnte mit dem Anzug des Lebenstempos, das
eine Folge der sozialen Wandlungen war, nicht mithalten. Das kulturelle
Leben konzentrierte sich nur noch in wenigen Großstädten,
in New York und Chikago. Wenn der mittlere Westen, um den es hier
vor allem geht, auch niemals in dem Sinne rückständige
Provi'n2 gewesen ist wie etwa Mecklenburg in Deutschland, so verlor
er nun fast alle Bedeutung. Und bisherige regionale Zentren wie
Boston oder New Orleans, die der Mittelpunkt sehr eigenwilliger
kultureller Bestrebungen waren, sanken zu Provinzstädten herab.
Die jüngeren Schriftsteller, die in die Literatur
drängten und aber fast nur über die erprobten künstlerischen
Mittel des neunzehnten Jahrhunderts verfügten, sahen sich vor
der schwierigen Aufgabe, die sozialen Veränderungen literarisch
adäquat zu erfassen. Es war der Journalismus, der dieses Terrain
zuerst erkundete. Lincoln Steffens, John Reed und andere kritische
Publizisten, die Schmutzaufwirbler, wie sie ein amerikanischer Präsident
genannt hat, enthüllten in ihren Artikeln und Reportagen den
Hintergrund des sozialen Lebens, seine verborgenen Stränge
und Kanäle, und machten dem nordamerikanischen Publikum die
dem Imperialismus eigene Gewalttätigkeit und technizistische
Barbarei bewußt.
Die Belletristik vermochte sich diesem Vorstoß
nicht direkt anzuschließen. Wenn sie dem Konflikt mit der
Gesellschaft nicht von vornherein auswich und sich in die geschützten
Reservate einer spätromantischen Innerlichkeit zurückzog,
ertrank sie bei ihren ersten Schwimmversuchen im neuen Stoff. Nur
mit schriller Kolportage und tendenziösem Pamphletismus wußte
sie sich zu behaupten. Upton Sinclair ist der weltweit bekannte
Vertreter dieser sozialkritischen Trivialliteratur.
Das anfängliche Unvermögen der amerikanischen
Schriftsteller, die neue Wirklichkeit zu bewältigen, führte
zunächst zu etwas, daß die "midlife crisis"
der US-Literatur genannt werden könnte. Die sonst so selbstbewußten
und handwerklich versierten amerikanischen Schriftsteller begannen
an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Sie experimentierten und
suchten nach neuen Formen.
Es ist sicherlich nicht ohne Bedeutung, daß
sowohl Masters als auch Anderson Seiteneinsteiger in die Literatur
waren. Beide waren in einem ursprünglichen Sinn Provinzler,
geboren und aufgewachsen im mittleren Westen und mit seinen Leuten,
seiner Geschichte und seinen Geschichten gut vertraut. Sie hatten
sich autodidaktisch eine umfangreiche, wenngleich natürlich
lückenhafte Bildung angeeignet. Ihr Weg in die Literatur ist
lang und quälend gewesen. Sie schrieben über viele Jahre
und veröffentlichten einige Bücher, die ihnen zwar den
Respekt ihrer literarisch interessierten Umgebung einbrachten -
aber weder erreichten sie den Durchbruch noch erschienen ihre Arbeiten
ihnen selbst gehaltvoll genug, um den eigenen Ansprüchen zu
genügen.
Es war nicht etwa fehlerhaftes Handwerk zu beanstanden
und auch keine mangelhafte Beobachtungsgabe oder eine ungenügende
Phantasie. Aber sie vermißten so etwas wie einen sicheren
Grund, ein Trampolin, das ihrer Phantasie Kraft zu Aufschwüngen
gab, ein geheimer Faden, der die detailrealistischen Angaben erst
auf tiefere Art miteinander verband und damit dem Naturalismus entrückte.
Dieses Trampolin ihrer realistischen Phantasie, dieser
rote Faden ihrer Gedichte und Geschichten wurde ihnen die Mythologie,
eine von den Pionierlegenden angeregte, aber letztlich selbsterschaffene
Mythologie eines homerischen Amerika. Die konzentrierte, aber bereits
etwas welke Kraft des mittleren Westens, der nicht mehr in der Lage
war, eine große epische Kunst hervorzubringen, vermochte in
diesen ambitionierten Provinzlern ein Bewußtsein hervorzurufen,
das sie unwillkürlich in die Spur des archaischen Griechenland
brachte.
Auf den ersten Blick scheint das eine absurde Annahme
zu sein: Das präklassische Hellas und die modernen Vereinigten
Staaten, was können sie miteinander gemein haben? Sie sind
nicht nur durch Ozeane und Zeitalter voneinander getrennt, sie sind
auch sozialökonomisch grundverschieden und haben eine völlig
unterschiedliche Entstehungsgeschichte. Aber an diesem letzten Punkt
angelangt, zwingt den Kritiker etwas plötzlich einzuhalten.
Denn er kann den Gedanken nicht abweisen, daß es nicht vom
Inhalt, aber von der Form der Gesell schaftsbewegung her schon gewisse
Analogien zwischen Hellas und Nordamerika gibt.
Das archaische Griechenland und die Vereinigten Staaten
sind entstanden im Ergebnis mächtiger, z.T. kriegerischer Einwanderunngsströme,
die die Urbevölkerung ausgelöscht oder unterjocht haben.
Dabei bildete sich anfänglich keine oder eine nur schwache
Zentralgewalt, so daß die weitere Entwicklung bestimmt wurde
vom ständigen Kampf ums überleben relativ kleiner und
abgeschotteter Gemeinschaften, ob das nun die altgriechische Polis
oder die agrarische hometown des mittleren Westens war. Die Ähnlichkeit
der unerhört harten Lebensbedingungen erzeugte Ähnlichkeiten
in der Kultur: einen Kult des Kampfes und des Setbsthelfertums,
verkörpert im Krieger und im Cowboy. Das sind Eigenschaften
einer primitiven, aber widerstandsfähigen Gesellschaft.
Aber in den USA - und hier treten die Unterschiede
der Gesellschaftsformen zutage - kam noch etwas anderes hinzu. Sie
waren das Auffangbecken des europäischen Menschenüberschusses.
Die Einwanderer, die an Zahl die eingesessenen Yankees beträchtlich
übertrafen, brachten eine hochentwickelte Kultur mit, für
die im mittleren Westen keine unmittelbare Verwendung bestand. Dennoch
wurde sie nicht abgestoßen, sondern lagerte als harter, aber
keimfähiger Same in den Köpfen der Provinzintelligenz,
der Ärzte, Anwälte und Lehrer; und als am Ende des 19.
Jahrhunderts die Eroberungen abbrachen und höhere Produktivität
der Landwirtschaft sowie bessere Verkehrserschließung das
Leben angenehmer machten, konnte dieser Same neu austreiben. Und
einer seiner Sprossen war das homerische Gefühl, inmitten des
stupiden Alltags auch in einem klassischen Epos zu stehen.
Masters und Anderson haben dieses Gefühl in die
Literatur übertragen. Ihre Orte - Spoon River und Winesburg
- sind nicht nur liebevoll gezeichnete Abbilder der Wirklichkeit,
sie gehören auch einer Legende an. Ihre Figuren - hart arbeitende
Kleinbürger, deren Lebenskraft im Ringen mit den Naturgewalten
verbraucht wird und die, wenn sie auch denen widerstehen, den neuen
sozialen Gewalten, die mit Telegraf und Eisenbahn über sie
kommen, hilflos ausgeliefert sind - sind keine gewöhnlichen
Nachfahren der amerikanischen Pioniere. Sie sind in das Licht archaischer
Heldentaten getaucht. Es schwingt in diesen Menschen nicht nur das,
was sie an diesem gegebenen Ort sind. Sie haben auch einen Teil
Leben in sich, der nicht ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zugehört
und der ihrem Dasein etwas Traumhaftes gibt. Alle ihre Lebensäußerungen
wirken gestört, das Rädchen in ihnen, das die Maschine
treibt, gehemmt, als wurde in ihnen auch eine andere Zeit am Werke
sein. Um es in der simplen Sprache des Feuilletons zu sagen: Sie
scheinen alle neben der wirklichen Welt auch einer Parallelwelt
zugeteilt zu sein, in der sie ein anderes und vielleicht besseres
Leben führen. Denn eines charakterisiert sie: Ihr bürgerliches
Leben mit seinen vielen kleinen Komödien und seinen noch häufigeren
kleinen Dramen füllt sie nicht gänzlich aus. Sie sind
zwar gebunden und überwältigt von der Alltäglichkeit
der bürgerlichen Verhältnisse, aber in einem wenn auch
tief in ihnen verborgenen Bereich ihres Bewußtseins ahnen
sie, daß dieses Leben nicht alles ist, daß es ihre Kräfte
verbraucht und vergeudet, aber ihre Hoffnungen weder erfüllt
noch je erfüllen kann. Sie wissen nichts vom Kapitalismus,
der die bewegende Feder der Welt ist, aber sie spüren, daß
er ihre Menschlichkeit verkrüppelt.
In Europa wären diese unbestimmten Ahnungen wahrscheinlich
Anstoß zu einer Flucht in den Mystizismus geworden, wäre
dieses Schattenbild eines zweiten, aber eigentlichen Lebens zum
Symbol verdichtet und damit dem Begreifenwollen entrückt worden.
Selbst ein so vitaler und widerstandsfähiger Realismus wie
der russische vermochte sich diesem Druck, den die bürgerliche
Gesellschaft ausübte, nicht zu entziehen und nahm symbolistische
Elemente in sich auf wie bei Leonid Andrejew geschehen oder konvertierte
gleich zum Symbolismus wie Fjodor Sologub.
Auch in den USA gab es symbolistische Bestrebungen
vor allem unter Autoren, die, aus gesicherten Verhältnissen
stammend, zunehmend in Distanz zu ihrer Gesellschaft gerieten wie
Ezra Pound. Aber Schriftsteller wie Masters und Anderson, die noch
einen lebendigen Bezug zur Pionierzeit besaßen und die keinen
intellektuellen Rückzug aus der Gesellschaft anstrebten, war
dieser Weg beinahe zwangsläufig versperrt. Beseelt von einem
Rest urwüchsigen Pioniergeist, der noch nicht gänzlich
im moneymaking erloschen war, waren sie fest entschlossen, den Kampf
mit der kapitalistischen Gesellschaft auf künstlerische Weise
auszufechten.
Zu diesem Zweck traten sie scheinbar einen Rückzug
an, indem sie ihren Blick von der Großstadt, in der sie inzwischen
lebten, wieder auf die Kleinstadt richteten und vor allem, indem
sie die Handlungszeit ihrer Werke um einige Jahrzehnte zurück
verlegten, was die Diskrepanz zu der indessen erfolgten imperialistischen
Entwicklung und deren Auswüchsen noch mehr hervorhob.
Masters brachte seine "Toten von Spoon River"
zuerst heraus. Es sind Elegien und Epigramme, als Erzählgedichte
konzipiert. In einer komprimierten, dennoch der gewöhnlichen
Redeweise angeglichenen Sprache hat er wie ein Gerichtsstenograf
die Verteidigung der Einwohner von Spoon River vor dem Gericht des
Lebens aufgenommen, ein sachlicher, anscheinend neutraler Aufschreiber,
der möglicherweise selbst nicht genau die Bedeutung der Reden
erfaßt, die er festhält. Doch gerade deshalb wirken sie
um so stärker.
In der Form des Epigraphs wenden sich die Toten an
die Lebenden. Sie versuchen ihr mißlungenes Leben zu begründen
und zu rechtfertigen und vermögen doch selbst nicht anzugeben,
wie es dazu gekommen ist. Aber indem sie sich öffnen und ihr
Leben sehen . lassen, wie es war, geben sie viel mehr preis, als
sie eventuell möchten. Vielleicht ist das der- vorzügliche
Sinn des Erzählens: Es teilt mehr mit, als sein Verfasser weiß,
und hilft damit, die Welt zu erkennen. Nach der Ansicht gewisser
Philosophen soll das ja der erste Schritt zu ihrer Veränderung
sein.
Anderson hat von Masters Vorarbeit profitiert. Er
hat seine Leute von Winesburg nicht so eindeutig als Tote gekennzeichnet.
Aber sein Geschichtenband ist bei aller Genauigkeit der Kleinstadtschilderung,
die Ansätze zu einem Sittenspiegel aufweist, doch keine mehr
oder weniger naturalistische Zeichnung der amerikanischen hometown.
Seine Menschen sind wie auf den Gemälden alter niederländischer
Meister in einem scharf konturierten Helldunkel gehalten, und sie
bewegen sich auf eine sonderbar verzögerte Art durch die Welt,
als wären sie hypnotisierte Schlafwandler, die einem fremden
Willen gehorchen müssen. Aber es gibt Momente des Erwachens,
in denen sie zu sich zu kommen und ihr eigentliches Leben zu entdecken
scheinen. Doch ehe sie darüber verzweifeln und einen wirklichen
Ausbruch wagen, gleiten sie wieder in hypnotische Starre.
Masters und Anderson haben der nordamerikanischen
Literatur tiefe Anstöße gegeben. Doch der kritische Grundzug
ihres Schreibens ist weitgehend beiseitegeschoben und verdrängt
worden. Bei dieser Entwicklung hat der Pragmatismus, dieser dominierende
Bestandteil des amerikanischen Denkens, entscheidend mitgeholfen.
Man hielt sich hauptsächlich an das Offensichtliche, an die
Wiederentdeckung der Kleinstadt als wesentlichen Ort der Gesellschaft,
und überlas die Kritik an der Verkrüppelung und Amputation
der Persönlichkeit, die der Kapitalismus herbeiführt.
Und ihr Werk wurde als Steinbruch benutzt. William
Faulkner etwa übernahm ihre mythologische Sicht. Auch er brauchte
ein Trampolin, von dem aus seine Figuren sich aus der Banalität
ihres Alltags aufschwingen konnten in ein heroisch angehauchtes
Leben. Aber wo diese Sichtweise bei Masters und Anderson noch ein
Licht war, das die Geschichten erhellte, wurde sie bei Faulkner
zum verdunkelnden Schirm, der seine Welt verschloß. Seine
Figuren sind nicht nur gefangen in ihrer Existenz, sie wollen auch
in keiner anderen leben.
Hemingway und sein kreativster Schüler Carver
dagegen haben ihre Geschichten naturalistisch karg ineinander verfugt.
Es scheint absurd zu sein, bei ihnen einen mythologischen Hintergrund
auch nur zu vermuten, Und doch "läßt sich nicht
abstreiten, daß ihre Erzählungen große Leerstellen
besitzen. Orte, an denen (vielleicht nur in der Vorplanung) eine
Mythologie stand, die das Gerüst für den Bau der Handlung
abgab, aber dann beseitigt wurde. Auch bei ihnen wie bei Masters
und vor allem Anderson ist das Nichterzählte mindestens genauso
wichtig wie das Erzählte.
Der imperialistische Zyklon hat sich im vergangenen
Jahrhundert schon mehrmals ausgetobt. Und immer hielten sich die
USA in seinem Auge auf. Aber jetzt rücken sie allmählich
in die Fronten des Sturms, von dem die Bewohner von Spoon River
und Winesburg ein erstes Zeugnis abgaben, noch bevor er auftrat.
***
Unterwegs zum Vierten Reich
Von Heleno Saña
»Ein Schatten fällt auf Europa, noch ehe das >Vierte
Reich< wirklich existiert – ein Staat von annähernd
80 Millionen Einwohnern, die stärkste nichtatomare Militärmacht
der Welt ... ein Staat, der nicht mehr nach Westen, sondern nach
Osten blickt, zwischen sich und den russischen Grenzen nichts als
ein Gürtel maroder Staaten.«
Heinrich Jaenecke, in: Stern, 8. 2.1990
Am Abend des 8. Februar 1990 trat also Kanzler Kohl vor die Kameras
des Zweiten Deutschen Fernsehens und sagte, ganz Caesar imperator:
Die Unterstellung, es könnte ein Viertes Reich entstehen, bedeutet
eine Diffamierung Deutschlands. Basta, und wer anderer Meinung ist
als er, betreibt Rufmord, denn dies ist ja das deutsche Äquivalent
für das vom Kanzler benutzte lateinische Wort.
Das Argument des Kanzlers: In den letzten 40 Jahren
hätten die Deutschen bewiesen, daß sie zu ihren Verträgen
und Verpflichtungen stehen. Er vergaß freilich zu erwähnen,
daß sie als besiegtes und besetztes Land keine andere Wahl
hatten und daß also ihr Verhalten nichts anderes als ein Akt
des Gehorsams war. Daß die selbstbewußt und siegessicher
gewordenen Deutschen sich in Zukunft anders verhalten könnten,
als sie es zuvor getan haben - darüber verlor Herr Kohl kein
einziges Wort.
Es ist das gute Recht des Regierungschefs, apodiktisch
zu behaupten, was er will, aber seine Meinung wiegt nicht mehr als
jede andere x-beliebige Meinung, darunter auch die meine. In der
Frage eines möglichen oder nichtmöglichen Vierten Reichs
geht es wie bei den scholastischen Pro-und-Kontra-Disputationen
schlicht um Argumente und Gegenargumente, nicht um Diffamierung
oder Nichtdiffamierung.
Helmut Kohl ist nicht der einzige, der die Vorstellung
eines Vierten Reiches entrüstet zurückweist. Auch der
neue Patriot vom Dienst, Willy Brandt, folgt ihm auf diesem Weg,
gehört zu jenen doppelzüngigen Politikern, die es fertigbringen,
zu Hause großdeutsche Gefühle aufzupeitschen und draußen
ultimativ zu behaupten, es werde kein Viertes Reich geben, wie er
in der Pariser Sorbonne versicherte. Überhaupt wird der Begriff
„Viertes Reich„ von den meisten Politikern und Publizisten
(nicht nur deutschen) mit Adjektiven wie „absurd„, „grotesk„
oder „undenkbar„ abgetan. Er gilt noch weitgehend als
ein nicht salonfähiges Tabu; über ihn offen zu reden gehört
einfach nicht zur waltenden Konvention, er verstößt allzu
frontal gegen die Spielregeln der etablierten Politik und der ihr
dienenden Publizistik.
Immerhin gibt es genug Deutsche - nicht nur böswillige
Ausländer wie ich -, die offen vom Vierten Reich sprechen,
die diesen Begriff als Zauberformel für ihre Sehnsucht nach
einer neuen imperialen Ära benutzen, die Neonazis zum Beispiel
oder nicht wenige Demonstranten in Leipzig und anderswo. Handelt
es sich um Minderheiten? Gewiß, aber es beginnt alles mit
einer Minderheit, wie auch damals mit der NSDAP. Aber der ominöse
Begriff verbreitet sich immer mehr. Noch vor zwei oder drei Jahren,
bevor William Satire das Wort in Umlauf brachte, sprach kein Mensch
über ein Viertes Reich, heute kann sich selbst der Kanzler
der Zugkraft dieses Begriffs nicht entziehen. Und wer bei Freud
nur ein bißchen geblättert hat, weiß, was der über
das Unbewußte und bestimmte sprachliche Reaktionen schreibt.
Bis zur Geburt eines Vierten Reiches sind freilich
noch einige Hürden zu überwinden. Die Gesamtverantwortung
für beide Teile Deutschlands liegt weiterhin in den Händen
der vier Siegermächte, eine Tatsache, die nicht zuletzt durch
die Anwesenheit ihrer Stationierungstruppen in der BRD und der DDR
unterstrichen wird. Aber man darf diesen Status quo nicht statisch
auffassen, als einen
ewigen Zustand sich vorstellen; im Grunde verliert
er immer mehr an Bedeutung und wird irgendwann von der eigenen deutschen
Entwicklungsdynamik überwunden sein. Wichtiger als der äußere,
formal geltende Status ist gerade das, was in keinen Verträgen
steht und man nicht in festumschriebenen Schemen fassen kann: der
innere Status quo des deutschen Volkes und seine Entschlossenheit,
seinen späten Sieg über die früheren Feinde bis zur
letzten Konsequenz zur Vollendung zu bringen. Zumindest seit Herbst
1989 findet ein erbitterter Kampf zwischen dem deutschen Willen
zur totalen Souveränität und dem Widerstand der Siegermächte
gegen eine solche Entwicklung statt, und obwohl der Ausgang dieser
Konfrontation noch nicht feststeht, ist nicht schwer zu erraten,
daß sich am Ende die Deutschen durchsetzen werden. Auf welche
Art und Weise die Deutschen diese Auseinandersetzung rühren,
hat der Bonner Korrespondent des sowjetischen Parteiorgans „Prawda„,
Mai Podklutschnikow, anschaulich ausgedrückt: „Bonn handelt
mit den Methoden eines Blitzkrieges, der durch die moralische Zersetzung
der Menschen vorbereitet wird, den Glauben an ihre eigene Kraft
untergräbt und Angst und Panik sät.„ Und dieser
Sieg wird dann der Ausgangspunkt für das Entstehen eines Vierten
Reiches sein.
Dieses sich abzeichnende neue Imperium existiert zwar
nur als „potentia„ und nicht als vollzogener „actus„,
aber das heißt nicht, daß es eine Fiktion wäre,
ein willkürliches und grundloses Phantasiegebilde. Wenn die
Deutschen ihre völkisch-nationale Dynamik in Bewegung setzen,
sind sie unfähig, sie an einem bestimmten Punkt zum Stillstand
zu bringen, ein irrationaler, unüberwindlicher Drang treibt
sie dazu, unentwegt nach vorne zu marschieren. Nach ihrem wirtschaftlichen
Sieg über ihre Kriegsgegner werden sie sich als nächstes
ihre wirtschaftliche Einheit holen, und der dritte Akt dieser Epopöe
wird die Gründung eines neuen Reiches sein, mit oder ohne die
Erlaubnis der anderen Mächte. Wer noch glaubt, Papiere, Verträge,
juristische Paragraphen oder feierliche Versprechungen und Garantieerklärungen
werden die Deutschen von ihrem Vorhaben abhalten, kennt entweder
die Deutschen nicht, oder er ist schon ihrer Beschwichtigungsstrategie
erlegen. Die Deutschen haben mittlerweile keinen Respekt und keine
Angst mehr vor den ehemaligen Siegern. Es bestätigt sich, was
Max Horkheimer schon 1950 ahnte: „Wenn einmal ein Volk, gegen
das Sanktionen verhängt worden sind, sich dessen bewußt
wird, daß sie nicht unwiderruflich sind, daß die sie
verhängende Agentur keine wirkliche Stärke darstellt,
dann arbeiten seine führenden Gruppen und anschließend
auch die Gesamtbevölkerung aktiv daran, sich der Bußen
zu entledigen. Je mehr sie verstehen, daß das Verhalten des
Siegers von Schuldgefühlen wie von Schwäche durchdrungen
ist, desto mehr färbt sich der Widerstand mit der Idee der
Rache.„(1)
Die Reisen nach Moskau, Washington, Paris oder London,
die Kohl oder Genscher absolvieren, um sich mit den Siegern abzusprechen,
sind nur bloße Rituale und formale Pflichterfüllung geworden.
Denn die Deutschen sind nicht nur unterwegs zu den Hauptstädten
der Welt, sie sind zugleich auch unterwegs zum Vierten Reich. Das
ist ihre Geheim- und Inkognitoreise, das wahre Endziel ihres ständigen
Hin- und Herpendelns; die Besuche, die sie sonst überall abstatten,
sind nur Zwischenstationen, Transitwege dorthin. Daß sie die
Endstation ihrer Marschroute nicht bekanntgeben und sie energisch
bestreiten, gehört zu ihrem operativen Timing: Kein Generalstab
verrät dem Feind die Pläne seiner Strategie.
Man kann diese immer deutlicher werdende Entwicklung
in ihren Einzelheiten nicht voraussehen, auch nicht als einen a
priori bestimmbaren Prozeß konzipieren; gerade hier ist der
Hinweis auf die Hegelsche List der Vernunft am Platze. Nicht einmal
die Deutschen selbst wissen genau, wohin ihr neuer Tatendrang sie
führen wird, welche Abenteuer und Überraschungen auf sie
warten. Sie sind entsprechend von Zweifeln geplagt, stellen sich
jeden Tag die klassische Hamlet-Frage, horchen ganz genau, was man
in den Kanzleien der Welt über sie sagt, mahnen sich gegenseitig,
bei ihren Äußerungen vorsichtig zu sein, sind peinlich
bedacht, keinen Fauxpas zu begehen. Es ist in diesem Zusammenhang
bezeichnend, daß der Begriff Viertes Reich nicht von ihnen
in Umlauf gebracht worden ist, sondern vom Ausland. Verständlich
ist auch, daß sie sich gegen diese semantische Konstruktion
emsig wehren, denn sie wissen, daß damit Assoziationen beschworen
werden, die ihre großdeutschen Pläne gefährden könnten.
Ausländische Phantasien und böswillige Unterstellungen
also? Wie dem auch sei - ich habe dieses Buch nicht geschrieben,
um die laufende Chronik mechanisch zu reproduzieren, sondern um
der äußeren Dialektik Deutschlands auf die Spur zu kommen.
Dieser Aufgabe kann man nur gerecht werden, wenn man nicht Gefangener
der Gegenwart bleibt und seine Augen auf die kommende Entwicklung
richtet. Um über vollzogene Ereignisse zu berichten - dafür
sind die Massenmedien und der Journalismus da. Sorel hatte recht:
„Man braucht keine große Kenntnis der Geschichte zu
besitzen, um zu wissen, daß das Geheimnis der historischen
Entwicklung nur für diejenigen zugänglich ist, die sich
außerhalb der oberflächlichen Bewegungen befinden: das,
was morgen als das Entscheidende betrachtet wird, sehen die Chronisten
und Protagonisten des Dramas nicht.„(2)
In der Seele der Deutschen ist das kommende Reich
schon beschlossene Sache, und wenn sie es nicht laut, sondern nur
mit flüsternder Stimme verkünden, dann deshalb, weil sie
auf den Tag des großen, öffentlichen Jubels noch ein
bißchen warten müssen. Aber man merkt, wie happy sie
sind, wie stolz auf ihren mühsamen langen Marsch zum endgültigen
Sieg. Dichterisch und phantasievoll veranlagt, wie sie sind, freuen
sie sich schon im voraus auf ihr neues germanisches Reich, malen
sich schon aus, wie schön es bald der Homo teutonicus haben
wird - frei, national, großdeutsch und an der Spitze Europas:
Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt. Sie wollen
ungetrübt ihre Wiedergeburt feiern, und großherzig, wie
sie sind, wollen sie auch, daß die anderen Völker sich
mit ihnen freuen und als Zaungäste an ihrem Glück teilhaben.
Deshalb erklären sie jeden Tag, daß sie keinem Nachbarn
weh tun werden, daß sie die feste Absicht haben, brav zu bleiben.
Deutschland - plötzlich ein Märchenland, von lauter gutmütigen,
ehrlichen, selbstlosen Menschen bewohnt und regiert, ein Land ohne
Bösewichte und Schufte, ohne Revanchisten, Rassisten, Nationalisten
und Faschisten alter oder neuer Prägung, das reinste Unschuldsland.
Mögen viele Menschen an diese zukünftige
Idylle glauben, ich tue es nicht. Ich bin zu alt und zu erfahren,
um an ein solches Märchen zu glauben, trage zuviel mediterranes
Licht in meinen Augen, um zu übersehen, was in dieser nebelhaften,
trüben, geheimnisvollen, unheimlichen und undurchsichtigen
Teutonia vorgeht. Ich kenne die Schönheit eurer Wälder,
eurer alten Städte, eurer Landschaft und eurer Flüsse,
schätze auch einen Teil eurer Kultur und viele Eigenschaften,
die ihr besitzt; aber ich kenne auch die dunklen Leidenschaften,
die ihr in der Tiefe eurer Seele mitschleppt; ich weiß, daß
ihr harmlos sein könnt, ich habe euch genug zugeschaut bei
eurem Karnevalstreiben oder bei euren Wochenendausflügen, wenn
ihr wie kleine Kinder ganz gemütlich irgendwo eure Kaffee-und-Kuchen-Runde
degoutiert, oder auch an Weihnachten, wenn ihr eure Tannenbäume
aufstellt und ganz rührend eure „Heilige Nacht„
singt. Aber ich kenne auch die Stunden, in denen ihr plötzlich
die reglementierte, befohlene Eintracht und Eintönigkeit eures
Alltags verlaßt, um über andere Völker wie eine
wilde Meute herzufallen. Ich kenne eure Geschichte und eure Taten,
ich habe sie schon als Kind aus nächster Nähe erlebt,
und entsprechend bin ich auf der Hut, ich und andere Leute auch,
damit diesmal die neue pangermanische Flut uns nicht ganz unvorbereitet
trifft.
Es muß allerdings nicht so kommen, wie es einmal
war. Das Vierte Reich wird kein mechanisches Abbild weder des Dritten
noch der vorigen beiden sein, sondern eine bunte Mischung aus alledem.
Es wird zugleich ein Bruch mit der Vergangenheit und eine Fortsetzung
von ihr sein. In der Geschichte gibt es keine absolute Wiederholung
des Gestrigen, genausowenig wie einen absoluten Neuanfang. Sie operiert
immer auf eine vermittelnde Weise zwi schen Altem und Neuem, und
in dieser Hinsicht gibt es nichts Absurderes als Kohls Wort über
die Gnade der späten Geburt. Genauso unhaltbar ist die apologetische,
schmeichelnde Behauptung Brandts über die Harmlosigkeit der
deutschen Jugend in seiner chauvinistischen Rede vom Dezember 1989
in Berlin. Diese voreiligen Absolutionsbekundungen sind nichts anderes
als Selbstbetrug und unanständige, unverantwortliche Scharlatanerie.
Den Deutschen zu unterstellen, sie beabsichtigten aus dem Vierten
Reich eine getreue Ausfertigung des Dritten zu machen, wäre
unfair; sie als unschuldige Engel hochzustilisieren ist töricht.
Ich will versuchen, auf eine synoptische Weise die
Hauptzüge zu skizzieren, die das Vierte Reich womöglich
enthalten wird:
• Im Gegensatz zum Dritten Reich wird sich das
neue deutsche Reich nicht auf Gewalt und Terror stützen;
• seine Grundlage wird die wirtschaftliche Macht
sein und all das, was mit dieser Kategorie unmittelbar oder mittelbar
zusammenhängt: Leistung, Technologie, Wissenschaft, Organisation,
Expansion nach außen, politische Stabilität, gesellschaftliche
Kohärenz und „sozialer Frieden„;
• die ideologische Grundlage wird nicht die
nationalsozialistische, sondern die spätkapitalistische sein;
auch die Blut-und-Boden-Mystik wird keine nennenswerte Rolle mehr
spielen, schon deshalb nicht, weil der Industrialisierungsprozeß
die Bauernklasse an den Rand gedrängt hat. Lediglich die Neofaschisten
und Reste der CSU werden für eine Renationalisierung der Agrarpolitik
plädieren und das Heiligtum der teutonischen Scholle pflegen;
• das Vierte Reich wird nicht totalitär
verwaltet wie das Dritte, sondern durch eine halbautoritäre,
kontrollierte und bespitzelte Pseudo-Demokratie. Die Losungsworte
werden Freiheit, Rechtsstaat und Selbstbestimmung sein, keineswegs
„ein Volk, ein Reich, ein Führer„. Es wird keine
von oben befohlene und organisierte Gleichschaltung geben, weil
ein breiter Konsens in den Hauptfragen sie überflüssig
machen wird;
• zu seinem Selbstverständnis wird die
fixe Idee gehören, daß Deutschland ein Sonderschicksal
zu erfüllen hat. Dieses missionarische Sendungsbewußtsein,
das aus der Zeit des Ersten Reichs stammt, lebt unvermindert im
Unterbewußtsein eines großen Teils der heutigen Deutschen
weiter und wird als moralische Rechtfertigung benutzt werden, um
die anderen Völker ohne jeden Skrupel auszubeuten und zu unterdrücken;
• das Vierte Reich wird ein neuer Versuch sein,
die Erfahrung der vorausgegangenen, gescheiterten Reiche aus dem
Gedächtnis zu tilgen und die deutsche Geschichte mit neuem
Glanz zu schmücken. Aufgrund dieses noch immer unerfüllten
völkischgeschichtlichen Legitimations- und Kompensationsbedürfnisses
ist das kommende Reich prädestiniert, die angestauten Ressentiments
früherer Epochen mitzuschleppen. Das wird seine revanchistische
Komponente bilden;
• es wird sich als ein Reich im Dienste der
germanischen Vorherrschaft in Europa gestalten, dessen ideologischer
Hintergrund eine Mischung aus instrumenteller Vernunft, militaristischer
Macht- und Geldgier und rassischer Pathologie sein wird;
• es ist einleuchtend, daß dieser nie
gesättigte Drang nach absoluter Herrschaft keinen Raum für
Toleranz oder Relativierung zulassen wird; entsprechend wird das
Vierte Reich prinzipiell dazu tendieren, alles, was sich seinen
Zielsetzungen in den Weg stellt, rücksichtslos zu bekämpfen
und zu unterdrücken, wenn es geht, durch politische Manipulation,
wenn nötig, durch offene Repression;
• die innere Dynamik wie der äußere
Expansionskurs des kommenden Reiches werden in ihrem Kern regressiver
Natur sein, ein „déjà-vu„, die Wiederholung
eines schon mehrere Male aufgeführten deutschen Trauerspiels
oder, wie Musil sagen würde: „Und wenn man bloß
ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen
letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen.„(3)
So ungefähr werden sich die Dinge abspielen.
Was sich ankündigt, ist im Grunde Trauerarbeit,
Selbstbestrafung, zornige Sehnsucht nach besseren Tagen, irrationales
Geltungsbedürfnis, Größenwahn. Der Drang, alles
zu beherrschen und unbedingt beweisen zu wollen, daß man der
Stärkste und Begabteste ist, weist auf einen tief gestörten
Zustand der deutschen Psyche hin, auf ein im Laufe der letzten Jahrzehnte
nur in Ansätzen überwundenes Syndrom. Dieser Macht- und
Herrschaftsrausch, der die Deutschen wieder gepackt hat, ist nicht
nur der Ausdruck ihrer enormen Leistungs- und Durchsetzungskraft;
er ist vor allem und zugleich die schmerzvolle Weiterwirkung einer
von alters her stammenden und noch nicht geheilten Wunde. Sie brauchen
neue Bewährungs- und Legitimationsbeweise, weil sie sich mit
sich selbst nicht versöhnt haben, sie wollen ihre stille Wut
mit einer neuen Ära germanischer Trophäen und Triumphe
abreagieren.
Wir sehen, daß das, was wir zusammenfassend
antizipatorisch das Vierte Reich nennen, letzten Endes eine psychische
Angelegenheit ist und die angestrebte Herrschaft über Europa
ein innerer Prozeß. Die konkreten Strukturen, Institutionen
und Dimensionen, die im Zuge der Heranbildung des Vierten Reiches
entstehen werden, werden nur die Objektivierung des subjektiven
Zustandes sein.
Das Vierte Reich wird ein neuer Zyklus germanischen
Machtrauschs und germanischer Zucht und Ordnung sein, eine Entladung
angestauter Rachegelüste und unüberwundener Minderwertigkeitskomplexe,
ein neuer Höhepunkt der schlimmsten Traditionen dieses Volkes,
mit den entsprechend schlechten Manieren, die viele Deutsche, trotz
ihrer so oft gepriesenen Kultur, beibehalten haben. Es wird daher
auch nicht die Komik fehlen, die unvermeidliche Komik des deutschen
Michels als neuer Herrscher.
Im Vierten Reich wird es auch Gegenkräfte geben,
genau wie in den vorausgegangenen. Sie werden aber kaum Gehör
finden und in freiwilliger oder unfreiwilliger Emigration leben,
während draußen die Banausen der Nation ihren Hurra-Patriotismus
bis zum Überdruß vorexerzieren werden. Wenn schon heute
die Massenmedien fast ausschließlich über die BRD, die
DDR und die deutsche Einheit berichten, kann man sich vorstellen,
wie es aussehen wird, wenn das Reich gemachte Sache ist. Deutschland
wird geistig und politisch wieder in einen abgrundtiefen Provinzialismus
sinken. Deutschland als einziges Thema, der Rest der Welt - nicht
der Rede wert. Die Deutschen, noch einmal die Deutschen und immer
wieder die Deutschen: Das ist die Perspektive. Diese schon jetzt
mit den Händen greifbare Teutomaniewelle widerlegt all jene,
die behaupten, die Deutschen denken jetzt nur europäisch. Nein,
sie denken nur deutsch, die Deutschen, sie kennen nur sich selbst
und ihren bornierten und kleinkarierten nationalen Narzißmus
und ihre sentimentalen völkischen Ekstasen. Deutschland, Deutschland
über alles, das wird schon praktiziert, von den Medien, den
Politikern und den Massen, die wie hypnotisiert diese Inzucht mitmachen
und bejubeln.
Wann werden sie sich von ihrer Wichtigtuerei befreien,
die Deutschen, von ihrem Bierernst und ihrem lächerlichen Pathos?
Wann werden sie lernen, über sich selbst zu lachen und zu spotten?
Wo ist ein teutonischer Jonathan Swift, ein Cervantes, ein Voltaire,
der seinen Landsleuten durch Ironie und Humor beibringt, sich nicht
so ernst zu nehmen und von ihrer obsessiven Nabelschau abzulassen?
Auch in bezug auf die Gestaltung des zukünftigen
Vierten Reiches muß man mit dem tiefsitzenden deutschen Hang
zur Maßlosigkeit rechnen, was an sich schon eine Festlegung
seiner genauen Entwicklung ausschließt. Sie haben sich tatsächlich
immer nach dem Grenzenlosen und Unendlichen gesehnt, die Deutschen,
nicht nur die Philosophen und Dichter, auch die Politiker und Staatslenker,
und diese Konstante ihrer seelischen Veranlagung und ihrer Geschichte
wird auch ein ausschlaggebendes Element ihres neuen Reiches bilden.
Um die Jahrhundertwende und danach wurde dieser Zug als eine Entsprechung
der „faustischen Seele„ gedeutet, ein Begriff, der vor
allem als gleichbedeutend für den Zauber des Uneingeschränkten
und Uferlosen galt. Der populärste Vertreter der „faustischen
Kultur„ war Oswald Spengler, dessen einzige
Weisheit darin bestand, Griechenland nie verstanden
zu haben und die griechischen Eigenschaften - Maß, Luzidität,
Ironie, Klarheit, Sinn für Harmonie - als ein Manko herabzusetzen.
Für diesen konfusen und reaktionär-teutonischen Kopf war
der germanische Trieb nach Ausdehnung die höchste aller Tugenden,
eine Ansicht, die viele Deutsche teilten und noch teilen.
Während die alten Griechen das Leben als unmittelbare
Fülle begriffen, haben die Deutschen es eher als Vakuum empfunden,
waren sie mit der Gegenwart selten zufrieden. Ihr ganzer historischer
Werdegang ist nur ein sich immer erneuernder Versuch, ihre Unfähigkeit,
mit dem Bestehenden auszukommen, zu überwinden, sei es durch
Kreativität und Leistung oder durch Gewalt und Krieg. Die Erfüllung,
die sich für die Griechen (und Lateiner) grundsätzlich
im Bereich des Hier und Jetzt abspielt, ist für die Deutschen
immer ein Telos gewesen, eschatologische Sehnsucht, nur daß
die Deutschen, die das Christentum nie verstanden haben, diese Transzendenz
in der Geschichte selbst, nicht in einem hypothetischen Jenseits
erreichen wollen. Für die Deutschen ist die Gegenwart grundsätzlich
das Unvollkommene, das Heil liegt für sie immer irgendwo in
der Zukunft, in einer „vita nuova„. Das ist der Schlüssel
ihrer Unrast und ihrer Unzufriedenheit. Das ist für uns Ausländer
das Unheimliche: daß man nie weiß, wo, wie und wann
die germanischen Aufmärsche und Wanderungen nach dem ersehnten
Infinitum enden werden. Wenn sie sich einmal in Bewegung setzen,
kennen sie keinen Halt, marschieren so lange, bis sie irgendwann
in einen Abgrund stürzen.
Die „entsetzliche Lücke„, die der
junge Werther in seiner Brust fühlte, war nicht zeitbedingte
Romantik, sondern das alte germanische Leiden an unstillbarer Erfüllung.
Aber auch was Mephisto über Faust sagt, trifft diese ewige
und nie gestillte Suche nach dem begehrten Glück: „Ihn
sättigt keine Lust, ihm genügt kein Glück. So buhlt
er fort nach wechselnden Gestalten.„(4) Oder bei Hölderlin:
„Wohl dem, der das Gefühl seines Mangels verstehet!„(5)
Oder meint man, daß der von der deutschen Philosophie gestiftete
Begriff des Absoluten ein Zufall ist? Es gibt keine Zufälle
solcher Art. Als einen „Ungrund„ begreift Jacob Böhme
- der die ganze negative Dialektik Hegels vorwegnimmt - das Prinzip
des Lebens, als ein Nichts, aus dem später eine Seinskulmination
wird. Hölderlin wiederum: „Wir sind nichts; was wir suchen,
ist alles.„(6) Die Deutschen sind eben ein metaphysisches
Volk, und diese metaphysische Dimension ihrer Seele wird tatsächlich
auch zur Dynamik des kommenden Reiches gehören. Von dem Drang
nach dem Absoluten getrieben, werden sie sich nicht mit der Wiedervereinigung
begnügen; sie werden nach mehr, nach viel mehr verlangen, sie
werden ganz tief in die Geschicke des Kontinents eindringen wollen.
Ich höre schon die aufgebrachte Replik der Allwissenden,
Realisten und Superklugen der Nation: Was hat Metaphysik mit Politik
und Geschichte zu tun, mit Expansion und Tatendrang? Darauf antworte
ich: Sie ist ihre wahre Grundlage, auch wenn man darüber in
den Gazetten und Parlamentsdebatten nichts hört. Politik ist
bei den Deutschen immer Metapolitik und Metaphysik gewesen, und
wer dies aus lauter Besserwisserei nicht erkennen will, der wird
vergebens die wahre Motorik des deutschen öffentlichen und
privaten Lebens verstehen wollen. Metaphysik in ihrer wortwörtlichen
Bedeutung, als etwas, das jenseits der sichtbaren Physis oder Realität
liegt.
Freilich - in den Händen der Politikaster und
Deutschtümler wird die deutsche metaphysische Veranlagung zur
billigen national-völkischen Selbstherrlichkeit, während
der Begriff des Absoluten zur Vergottung der eigenen Rasse entartet.
Auf jeden Fall geht es bei den Deutschen immer um absolute Ziele,
sei es um den „absoluten Krieg„ - wie bei Clausewitz(7)
- oder die absolute Herrschaft der Herrenrasse über die Welt,
wie bei den Nazis. Als die deutsche klassische Philosophie über
das Absolute zu grübeln begann, war das Erste Reich ein Haufen
Trümmer; deshalb blieb es eine rein spekulative Angelegenheit.
Sobald aber die Deutschen dank der preußischen Kriegsmaschinerie
mächtig wurden, versuchten sie, ihre hochtrabenden Träume
über das Unbegreifliche, das Unendliche, das Unbedingte, das
Ewige, das Reine, das Unnennbare und das Absolute auch in physischer
Gestalt zu verwirklichen. Und dies wird auch bei dem entstehenden
Vierten Reich der Fall sein.
Sie sind wieder in Bewegung, die Deutschen, von neuem
auf der Suche nach den letzten Grenzen, den letzten Geheimnissen,
entschlossen, ihre niemals erfüllte Sehnsucht nach dem Absoluten
in irdische, greifbare Herrschaft umzusetzen. Sie werden sich mit
der Wiederherstellung ihrer nationalen Einheitlichkeit nicht zufriedengeben.
Die Deutschen sind keine Nationalisten in herkömmlichem Sinn,
auch hier gehen sie eigene Wege. Sie wollen nicht nur eine Nation
sein, sie wollen darüber hinaus wieder eine weltgeschichtliche
Rolle spielen, wie sie es in der Vergangenheit oft taten.
Man spricht viel von der deutschen Nation. Tatsache
aber ist, daß im Gegensatz zu den großen, klassischen
Nationalstaaten wie Spanien, Frankreich und England die Nation für
die Deutschen nie das Primäre und Allerwichtigste war. In der
Geburtszeit der modernen Nationalstaaten stellte Deutschland die
Religion über den Staat, das Reich war unfähig, sich als
Nation zu konstituieren. Erst durch Bismarck kam endlich die Nation
zustande; aber der Nationalstaat Bismarckscher Prägung paßte
nicht zu den uferlosen Expansionsgelüsten seiner Landsleute,
denen der Krieg und die Eroberung von „Lebensraum„ wichtiger
waren als die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Nationalstaates
mit festen Grenzen, festen Verpflichtungen und festen Verantwortungen.
Das Dritte Reich war nicht als Nation gedacht, sondern als Weltgebilde.
Ein vereinigtes Deutschland wird sich auch nicht begnügen,
ein Nationalstaat zu bleiben. Denn die Idee eines Nationalstaates
erfordert paradoxerweise einen Sinn für Maß und Selbsterhaltungstrieb,
den die Deutschen - als Volk betrachtet - nur bis zu einem gewissen
Grad besitzen. Goethe und Schiller wußten, was sie in ihrem
Musen-Almanach sagten: „Zur Nation Euch zu bilden, / Ihr hofft
es, Deutsche, vergebens.„ Das Gefährlichste ist ja nicht
Deutschland als Nation, vielmehr die Unfähigkeit der Deutschen,
die Idee eines Nationalstaates mit festen und endgültigen Dimensionen
zu begreifen. Eine Nation zu sein ist für sie zuwenig, deshalb
werden sie immer nach einem Reich trachten. Daß die Deutschen
bisher nicht gelernt haben, einfach und schlicht eine Nation zu
sein, bedeutet ein tiefes Unglück für sie selbst und für
Europa, denn dieses Versäumnis hat sie daran gehindert, verantwortungsvoll
neben den anderen Staaten zu leben.
Keines der vorangegangenen deutschen Reiche endete
gut, auch das Vierte Reich hat langfristig keine Chance auf ein
Happy-End, aus dem einfachen Grund, daß alles, was maßlos
und irrational ist, unweigerlich scheitern muß. Die Geschichte
lehrt uns, je ausgedehnter ein Reich ist, desto schwieriger ist
es zu regieren. So verhielt es sich mit dem von Alexander errichteten
hellenischen Großreich, mit dem römischen Imperium, mit
Byzanz, mit dem Osmanischen Reich, mit dem spanischen Imperio im
16. und 17. Jahrhundert, mit dem napoleonischen Empire oder dem
englischen Commonwealth. Auch das Heilige Römische Reich Deutscher
Nation endete in Trümmern, der Niedergang des Zweiten und Dritten
Reichs war noch fulminanter und abrupter. Der Versuch, durch die
expansive Kraft eines neuen Reiches Europa den germanischen Willen
aufzunötigen, kann nur zur Zusammenhanglosigkeit, zu Revolten
und zu Zwietracht zwischen dem Zentrum und der Peripherie führen.
Europa ist zu mannigfaltig und kontradiktorisch, um sich jemals
endgültig gleichschalten zu lassen.
Wenn ich diese alten Geschichten ausgrabe, dann nicht
aus Lust an Archäologie, sondern weil sie bittere Aktualität
geworden sind. Die Deutschen wollen nichts über die Vergangenheit
hören, aber diese von ihnen verdrängte oder relativierte
Vergangenheit steckt noch ganz tief in ihrer Gegenwart und wird
auch im Vierten Reich präsent sein. Es gibt genügend Dunkelmänner,
die bereit sind, vieles von dem, was war, zu wiederholen, das Volk
noch einmal in die Irre zu führen, es mit pangermanischer Rhetorik
zu verführen und es in neues Unheil zu treiben. Der Geist der
Fichteschen „Reden an die deutsche Nation„ ist wieder
„in„, allerdings mit dem Unterschied, daß er sich
jetzt nicht mit der erhabenen Sprache der Philosophie meldet, sondern
mit der flachen und standardisierten Diktion der Verwaltung. Wenn
ich sehe, daß der historische Wendepunkt, an dem sich die
Deutschen befinden, von mittelmäßigen und provinziellen
Epigonen bestimmt wird, die nichts anderes im Kopf haben als die
Wiederherstellung des alten deutschen Größenwahns, frage
ich mich, was die Deutschen in den letzten Jahrzehnten außer
Geldverdienen und über die Autobahnen zu rasen eigentlich gelernt
haben. Und was mir noch unverständlicher bleibt: daß
alle nationalistischen und großdeutschen Platitüden,
die die Machthaber der Nation verbreiten, von ihren Landsleuten
fast unisono mit Zustimmung, ja mit Begeisterung aufgenommen werden,
als hätten sie ihren elementarsten kritischen Sinn verloren.
Denn man soll sich keine Illusionen über die deutschen Politiker
machen und genausowenig über die Massen, die sie unterstützen.
Was einmal Carl von Ossietzky in diesem Zusammenhang sagte, gilt
im wesentlichen auch heute: „Deutschland ist das einzige Land,
wo Mangel an politischer Befähigung den Weg zu den höchsten
Ehrenämtern sichert. So, wie gewisse Naturvölker Schwachsinnigen
göttliche Ehren entgegenbringen, so verehren die Deutschen
den politischen Schwachsinn und holen sich von dorther ihre Führer.„(8)
Schon Heinrich Heine klagte, daß das „offizielle Deutschland,
das verschimmelte Philisterland, keinen Goliath, keinen einzigen
großen Mann hervorgebracht hat„.(9)
Warum folgen die meisten Deutschen so bereitwillig
ihren Führern, warum lassen sie sich so leicht vor deren Karren
spannen, vor allem, wenn es um patriotische Parolen geht? Der französische
katholische Schriftsteller Robert d'Harcourt liefert uns die Antwort:
„Er (der Deutsche) verkörpert innerhalb der anthropologischen
Kategorie das kollektive Tier. Er hat das Bedürfnis, sich zu
integrieren. Er läßt sich einspannen, ohne das Gefühl
zu haben, daß man ihm Gewalt antut. Er empfindet eine innere
Wollust mitzumachen. Der Reflex des Widerspruchs und der Kritik,
der bei uns so spontan ist, funktioniert bei ihm nicht.„(10)
1 Max Horkheimer, „Lehren aus dem Faschismus„, in: „Gesellschaft
im Übergang„, S. 55, Frankfurt 1972
2 Georges Sorel, „Reflexions sur la violence„,
S. 67, Paris 1950
3 Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften„,
a.a.O., l. Band, S. 132
4 Goethe, „Faust„, Zweiter Teil, V Akt
5 Hölderlin, „Hyperion„, in: „Werke
in zwei Bänden„, 2. Band, S. 61, Stuttgart 1970
6 Ebd., S. 31
7 Clausewitz, „Vom Kriege„, Achtes Buch,
zweites Kap., „Absoluter und wirklicher Krieg„, S. 539
und folg., Dresden 1901
8 Carl von Ossietzky, „Deutschland ist...„,
in: Die Weltbühne, 14. April 1928
9 Heinrich Heine, „Religion und Philosophie
in Deutschland„, in: „Sämtliche Schriften„,
a. a. 0., 3. Band, S. 508
10 Zitiert nach: Alain Fleury, „L'image de l'Allemagne
dans le Journal La Croix„ (1918-1940), in: J. M. Valentin/J.
Barciéty/A. Guth, „La France et l'Allemagne entre les
deux Guerres Mondiales„, S. 186, Nancy 1987
***
Die Alternative: die Entgermanisierung Deutschlands
„Der Befreiungskrieg gegen die nationalistische Zerstörung
von Volk und Vaterland ist noch nicht beendet.„
Alexander Mitscherlich, „Gesammelte Schriften„ Bd. IV
Das Problem des neueren Deutschlands war immer dasselbe: seine Unfähigkeit,
besonnen und verantwortungsvoll mit der Macht umzugehen, sowohl
innen- wie auch außenpolitisch. Deutschland ist wieder mächtig,
und es wird noch mächtiger werden, deshalb ist die Frage unausweichlich:
Wird es wieder der Versuchung unterliegen, seine neu erworbene Machtkonzentration
zu mißbrauchen?
Ich behaupte nicht, daß Deutschland prädestiniert
ist, das gleiche zu tun wie in der Vergangenheit; ich glaube an
keinen Determinismus, ich spreche den Deutschen keineswegs die Befähigung
ab, aus ihren Irrtümern und Fehlentwicklungen zu lernen. Aber
genausowenig kann ich mich mit jenen Stimmen identifizieren, die
dogmatisch und lapidar die Möglichkeit einer deutschen Rückfälligkeit
ausschließen. Diese Art von unkritischem und selbstgefälligem
Berufsoptimismus halte ich für genauso gefährlich wie
den offenen Revanchismus der großdeutschen Machos, die bewußt
auf die Errichtung eines starken und aggressiven neuen Reichs hinsteuern.
Ich halte auf jeden Fall jeden Deutschen, der salbungsvoll und stereotyp
behauptet, Deutschland sei ein harmloses Land geworden, für
einen blanken Zyniker oder für hoffnungslos naiv und blind.
Die bequeme Vorstellung, daß die Kontroll- und
Überwachungsfunktion, die die Siegermächte über die
BRD und die DDR ausübten, Europa für immer vor einer eventuellen
neuen deutschen Gefahr schützte, ist seit dem Herbst 1989 wie
ein Kartenhaus zusammengebrochen. Wie sich die Deutschen in Zukunft
verhalten, wird im wesentlichen von ihnen selbst abhängen,
nicht mehr von der Fremdbestimmung durch andere Nationen. Oder um
eine bekannte Redewendung Sartres zu übernehmen: Sie sind jetzt
verdammt, frei zu sein. Keine leichte Aufgabe für ein Volk,
das bisher vorwiegend den Gehorsam praktiziert hat.
Das deutsche Problem - und es besteht weiter, das
deutsche Problem - ist nur durch eine tiefgreifende weltanschauliche,
politische, gesellschaftliche, menschliche und zwischenmenschliche
Umwälzung der deutschen Verhältnisse selbst zu lösen,
und es kann sich dabei nur um eine Umwälzung handeln, die aufgrund
ihrer universalen Zielrichtung das Syndrom des Nationalismus und
des „Sonderschicksals„ für immer aus der deutschen
Realität und aus der deutschen Geschichte verbannt. Das ist
die wirkliche Revolution, die die Deutschen zu leisten haben: die
restlose Entgermanisierung Deutschlands als unabdingbare Voraussetzung
für seine Eingliederung in die Völkergemeinschaft als
ein Land neben anderen. Diese Revolution ist die einzig tragfähige
und zukunftversprechende Alternative zu der von vielen Deutschen
angestrebten Germanisierung Europas. Solange die Deutschen aus eigener
Kraft und aus eigener Einsicht diese radikale Umwälzung ihrer
inneren Verhältnisse nicht zustande bringen, werden sie eine
Gefahr für andere Nationen bleiben, einerlei, ob sie den nationalen
Weg einschlagen oder innerhalb eines supranationalen Gebildes operieren.
Entscheidend ist ihre Gesinnung, nicht die äußere, rein
formale Bindung an bestimmte internationale Organisationen und Institutionen.
Um den Weg zu sich selbst zu finden und sich endlich
aus ihrer Selbstentfremdung zu befreien, müssen sich die Deutschen
unbedingt von ihrem fetischistischen Abhängigkeitsverhältnis
zur Vaterländerei lösen, sich im klaren sein, daß
das sogenannte vaterländische Ideal „ja bloße Dekoration
für die Herren (ist), die das nächste Schlachten vorbereiten„,
wie Hermann Hesse einmal sagte.(1) Patriotismus bzw. Nationalismus
ist letzten Endes ein Notausgang für Spießer, Philister
und Banausen, die blind für andere, sinnvollere Werte sind,
ein Ersatz für verfehlte Existenzen und angestaute Aggressionen.
Schollenkleberei, gleich welcher Art, verhält sich immer abgrenzend
gegenüber anderen Völkern und ethnischen Minderheiten;
ihr Anspruch auf die exklusive Identität des Eigenen beinhaltet
schon a priori die Exklusion der Nicht-Dazugehörenden, ist
politisches Neandertalertum. Menschen sind das einzig Wichtige,
nicht Rassen, Nationalitäten, Fahnen, Hymnen und sonstige künstliche
Symbole und Attrappen. Ein nüchterner und weitblickender Engländer
- Keynes - drückte es so aus: „Nur der einzelne Mensch
ist gut; die Nationen sind ehrlos, grausam und falsch.„(2)
Es geht darum, das nationale Denken ein für allemal
abzuschaffen und sich der Tradition des Humanismus und der Friedfertigkeit
zu öffnen. Diese Tradition hat in Deutschland nie gefehlt,
Helga Grebing hat sie zusammenfassend als die „weiße
Linie„ der deutschen Geschichte als Gegenpol zu ihrer „schwarzen
Linie„ bezeichnet.(3) Die Deutschen brauchen tatsächlich
die Gorbatschowsche Anregung zur Errichtung eines „europäischen
Hauses„ nicht, um zu wissen, was grenzüberschreitendes,
kooperationsoriendertes Denken ist. Gorbatschows Vision ist ja lediglich
eine semantische Neuprägung und eine Aktualisierung der von
Kant zum Zwecke des „ewigen Friedens„ schon klar konzipierten
„förderativen Vereinigung„ oder „Federalism
freier Staaten„.(4) Und es war ein anderer Deutscher - Friedrich
Schlegel -, der den Begriff „europäischer Patriotismus„
prägte und von dem „Kosmopolitismus der europäischen
Kultur„ ausging. Aber ich brauchte eigentlich keine konkreten
Namen zu erwähnen: Überhaupt waren die besten und größten
Deutschen immer weltoffen eingestellt, hatten nichts übrig
für nationalistische Engstirnigkeit und teutonische Sonderwege,
und mit ihnen alle ihre Landsleute, die ihrem Beispiel folgten.
Es ist also nicht so, daß die Aufklärung an Deutschland
vorbeigerast wäre und sich die heutigen und kommenden Deutschen
auf keinen soliden weltanschaulichen Hintergrund stützen könnten,
um gute Europäer bzw. Weltbürger zu sein oder zu werden.
Worum geht es denn eigentlich? Es geht um eine Gewissensentscheidung,
um die Entscheidung, ob die Deutschen die moralische Kraft haben
werden, ihre verhängnisvolle nationalistische Vergangenheit
abzuschütteln und den von Leibniz, Kant, Herder, Goethe, Schiller,
Hölderlin und anderen Universaldeutschen gezeichneten Weg der
Humanität zu gehen.
Es sieht allerdings im Moment kaum danach aus, fast
alles deutet im Gegenteil darauf hin, daß die Deutschen mehr
Wert auf die Entfaltung ihrer eigenen Dynamik legen als auf den
Aufbau einer gesamteuropäischen Ordnung. Für die meisten
von ihnen scheint ihre kostbare Identität wichtiger zu sein
als die Verwirklichung supranationaler, völkerverbindender
Zielsetzungen; wäre das nicht so, dann wären die nationalen
Parolen und die nationalen Fahnen längst von der Oberfläche
verschwunden, ja, sie wären nicht einmal aufgetaucht. Martin
Winter: „Wer es wirklich ernst meint mit der europäischen
Einigung, muß die Nationalstaaten auf Null bringen. Der Aufbau
eines neuen deutschen Nationalstaates würde dem zuwiderlaufen.
Deshalb sind die Bekenntnisse der Vereiniger zum europäischen
Prozeß im besten Falle widersprüchlich, im schlimmsten
die blanke Heuchelei.„(5) Es mehren sich die Anzeichen, daß
die Deutschen wieder im Begriff sind, sich für den vulgärsten
Teil ihrer Gesinnung zu entscheiden und ihre fruchtbarsten und edlen
Entfaltungsmöglichkeiten auf einem toten Gleis abstellen zu
wollen.
Nicht nur die Deutschen, auch andere europäische
Länder müssen viel Ballast abwerfen und aufgeschlossener
für neue Ideen werden, an erster Stelle Westeuropa und seine
EG. Es geht tatsächlich nicht nur um eine Entnationalisierung
Deutschlands, sondern um die Herbeiführung einer europäischen
Ordnung, welche die Beherrschung und Ausbeutung der schwächeren
Nationen durch die stärkeren unmöglich macht. Um dieses
Ziel zu erreichen, genügt der heute in der EG waltende bürgerlich-merkantile
Kosmopolitismus nicht. Im Vergleich zum Nationalismus bedeutet der
Kosmopolitismus liberaler Prägung einen ungeheuren geschichtlichen
Fortschritt, aber weil seine Auffassung von friedlichem Zusammenleben
und von Kooperation rein mechanisch bleibt und vor allem die soziale
Frage außer acht läßt, erfüllt er auch nicht
die Voraussetzungen, um in Europa eine rationale, gerechte und sinnvolle
Ordnung zu gewährleisten. Wenn in der EG neben ihrer bürokratischparasitären
organisatorischen Infrastruktur etwas fragwürdig ist, dann
gerade ihr kapitalistischer Geist. Nicht nur, aber vor allem die
Deutschen werden schon dafür sorgen, daß sich daran nichts
ändert, daß es in Europa „nie wieder Sozialismus„
gibt. Die Beibehaltung des europäischen Kapitalismus bedeutet
nicht nur die Fortsetzung der Ausbeutung der arbeitenden Klasse
durch das Kapital innerhalb eines jeden Landes, sondern auch die
Hegemonie der wirtschaftlich führenden Länder über
die anderen.
Die Atomistik der Nationalstaaten ist keine Lösung,
aber eine Synthese à la EG ist genauso kurzsichtig, eben
weil sie die Machtverhältnisse zwischen ihren Mitgliedern unberücksichtigt
läßt. Man spricht laufend von der Gleichberechtigung
aller Mitgliedsstaaten, aber wir sehen dann, daß die Entscheidungen
von den Großen herbeigeführt werden, während den
Kleinen nichts anderes übrigbleibt, als zähneknirschend
im nachhinein zuzustimmen. Große supranationale Gebilde sind
nur legitim und sinnvoll, wenn sie nicht zu einer Bevormundung und
Unterdrückung der schwächeren Glieder führen. Ein
gesamteuropäischer Staatenbund oder Bundesstaat, der auf der
Höhe dieses Namens steht, setzt die Beseitigung jeder Form
von Macht- und Großmachtpolitik zwischen den verschiedenen
Mitgliedern und die Schaffung einer aus gegenseitiger Solidarität
und unbedingter Gleichberechtigung bestehenden Ordnung voraus. Die
heute waltende Art von Europäertum führt keineswegs zur
freien Entfaltung der jeweiligen Völker, sondern zu einer von
den stärkeren diktierten Globalpolitik. Es sind in der Tat
die Vorstellungen und Interessen der dominierenden Länder,
die sich durchsetzen, womit sich dann der Supranationalismus in
einen De-facto-Kolonialismus verwandelt. Um es ganz zugespitzt zu
sagen: Die angebliche Europäisierung des Kontinents endet schließlich
mit dem Tod der vielgepriesenen Pluralität der Kulturen und
Lebensweisen und mit der Errichtung eines von den führenden
Völkern beherrschten technokratisch-ökonomischen Molochs.
Die nationale Atomistik führte in der Vergangenheit
zu Entfremdung und zu unzähligen Kriegen unter den einzelnen
Staaten, aber die Einheit Europas, wie sie sich schon abzeichnet,
wird eine von deutscher Dominanz stark geprägte Pseudo-Totalität
werden, ohne den konkreten Inhalt und die ausgleichende, bereichernde
Gegenkraft der Mannigfaltigkeit. Die Freiheit wird damit weitgehend
eingeschränkt, oder es wird eine Freiheit werden, wie Hegel
sie sich vorstellte: das Primat des abstrakten Allgemeinen über
die einzelnen Individuen und Völker. Selbst über Jahrhunderte
vom Staat gedrillt, hassen die Deutschen instinktiv alles Selbständige
und Spontane, und sie werden entsprechend versuchen, gegen jede
Form der Abweichung vorzugehen, werden danach trachten, Europa zu
normieren, zu kontrollieren und zu nivellieren und aus ihm ein getreues
Bild ihrer eigenen Res publica zu machen.
Schon heute ist die EG der führende Wirtschaftsblock
der Welt, nach ihrer Erweiterung auf Osteuropa wird sie das größte
kapitalistische Imperium, das die Weltgeschichte je gesehen hat,
mit allen Ausbeutungsmöglichkeiten, die sich aus einer solchen
Machtfülle ergeben werden. Europa wird sich zu einer imperialistischen
Supermacht entwickeln und die anderen, ärmeren Regionen des
Globus bedenkenlos ausbeuten, wie es dies übrigens heute schon
tut. Das ist die sich abzeichnende Marschroute, mit dem teutonischen
Koloß auf der Kommandobrücke. Die Idee Europas ist schon
jetzt überhaupt zu eng geworden, der oft zelebrierte Eurozentrismus
bedeutet eine neue Form des Provinzialismus, auf jeden Fall einen
Rückschritt gegenüber der von der Antike konzipierten
Einheit des menschlichen Geschlechts.
Die Vision eines einheitlichen Abendlandes ist eine
alte, „klassische„ Vorstellung, die, ausgehend vom hellenisch-römischen
Universalismus, durch die Vermittlung des Christentums und die Universalmonarchie
des Mittelalters in die Neuzeit eingeht. Der ganze völkerrechtliche
Entwurf der Moderne - von Francisco de Vitoria über Grotius
bis zu Vico und Adam Smith - zielt auf das Zustandekommen einer
Staatengemeinschaft hin, die durch eine enge Kooperation und unter
Beachtung von bestimmten und allgemein anerkannten ethischen und
juristischen Normen die Errichtung einer friedlichen und dauerhaften
Weltordnung möglich macht. Hinter diesem Ideal steht das Erbe
der klassischen Humanitas, die in festen, zeitlosen, ewig geltenden
Kategorien denkt. Die Deutschen aber verabscheuen alles Fertige
und Endgültige, sie sind das dynamische Volk schlechthin, deshalb
wenig geneigt, sich mit abgeschlossenen Konstruktionen abzufinden,
wie Nietzsche oft unterstrichen hat: „Und... so liebt der
Deutsche die Wolken und alles, was unklar, werdend, dämmernd,
feucht und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende,
Wachsende jeder Art fühlt er als ‚tief‘. Der Deutsche
selbst ist nicht, er wird, er ‚entwickelt sich‘.„(6)
Es ist entsprechend zu befürchten, daß der tiefsitzende
Tatendrang der Deutschen sie dazu treiben wird, aus Europa etwas
ganz Neues und Antiklassisches zu machen. Was Golo Mann über
die deutsche Nation geschrieben hat, gilt für die deutsche
Geschichte als Ganzes: „Wer sich in die Geschichte der deutschen
Nation vertieft, der hat leicht den Eindruck eines unruhigen Lebens
in Extremen.„(7) Das ist genau das, was die Deutschen vor
allem in ein vereinigtes Europa hineinbringen werden: extreme Unruhe.
Schon jetzt kreist die Hauptproblematik Europas um Deutschland,
und man kann sich vorstellen, was geschehen wird, wenn beide Teile
eins sind.
Seltsamerweise treffen die europäischen Probleme
vor allem auf das Volk zu, das am wenigsten europäisch gesinnt
ist; deshalb ist so wichtig, was sich in Deutschland selbst abspielt,
denn wie die Deutschen mit ihrem eigenen Land umgehen, wird sich
aufgrund ihrer dominierenden Stellung automatisch auf die anderen
Nationen gewaltig auswirken.
Es besteht auf jeden Fall die Gefahr, daß durch
das Übergewicht Deutschlands Europa sich als eine Art nachkarolingisches
Reich in technokratischem Gewand entwickelt, als eine neue Prägung
des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Das heutige
Westeuropa ist schon im Grunde eine säkularisierte Fassung
des alten kaiserlich-päpstlichen Reichs, und man weiß,
was die Karolinger, Ottonen, Salier, Hohenstaufen und sonstigen
germanischen Geschlechter und Häuser aus diesem übernationalen
Reich machten: ein Instrument ihres Herrschaftswahns. Formell erkannten
die deutschen Herrscher die Autorität Roms als geistiges Haupt
der Christenheit an, aber das einzige Gesetz, an das sie sich hielten,
war das Gesetz ihrer militärischen Stärke. Entsprechend
setzten sie nach Belieben Päpste ein und ab, fielen laufend
über Italien her, drangen nach Osteuropa, plünderten Jerusalem
aus und schlugen mit ihren Armeen alles, was sich ihnen in den Weg
stellte. Das dauerte so lange, bis das Reich durch die ständigen
Kriege, Beute- und Expansionszüge seine ursprüngliche
Kraft verlor und der Kaiser nach dem sogenannten Interregnum nur
ein Spielball der Fürsten wurde.
Ich erinnere an diese alten Geschichten nur, um jene
zu warnen, die sich von einem geeinten Europa das Gelbe vom Ei versprechen,
die die EG und ihre Weiterentwicklung als eine Zauberlösung
für die Zukunft betrachten. Alles, was groß ist, ist
am Ende schlecht, die Kultur und die Zivilisation sind meistens
in den kleinen und mittleren Staaten entstanden, die großen
Nationen und Nationengruppen haben in der Regel nur Unheil gestiftet
und Machtpolitik betrieben.
Die Deutschen werden nicht aufhören. Deutsche
zu sein, nur weil sie in bestimmten supranationalen Institutionen
und Bündnissen integriert sind. Im Gegensatz zu den engstirnigen
Befürwortern eines Nationalismus herkömmlicher Provenienz
haben viele schlaue Deutsche längst erkannt, daß durch
die Zugehörigkeit zur EG Deutschland besser in der Lage ist
und sein wird, sein Wirken auszubreiten, eine Ansicht, die etwa
von Hermann J. Abs vertreten wurde: „Wir geben nicht nur nationale
Zuständigkeiten auf, wir haben zugleich Teil an einer neuen
Souveränität in größeren Dimensionen und mit
stärkerer Durchsetzbarkeit.„(8)
Die bloße äußere Eingliederung der
Deutschen in grenzüberschreitende Makro-Organisationen und
-Strukturen bedeutet auf keinen Fall das Ende großdeutscher
Machtpolitik, sie kann sogar zum Ausgangspunkt eines neuen, auf
breiterer Basis operierenden Zyklus pangermanischen Expansionismus
werden. Welche spezifische Form der Machtpolitik die Deutschen wählen
werden, ist in diesem Moment nicht voraussehbar, denn sie hängt
unter anderem von der Entwicklung ihrer eigenen Dynamik ab. Aber
eines steht schon ziemlich fest: die kommende Auseinandersetzung
zwischen jenen Deutschen, die ein Viertes Reich im solipsistisch-atomistischen
Sinn bevorzugen, und denen, die Deutschland als führende Macht
eines einheitlichen Westeuropas oder ganz Europas begreifen. Oder
anders ausgedrückt: Die einen wollen Europa von außen
her beherrschen, die anderen von innen her. Die erste Option ist
die primitivere, die zweite die raffiniertere, beide versprechen
nichts Gutes. Denn weder die eine noch die andere würde die
Entgermanisierung herbeiführen, die die Welt und nicht zuletzt
die Deutschen selbst brauchen, um sich von ihren größenwahnsinnigen
Obsessionen zu befreien. Es gibt mittlerweile viele einsichtige
Deutsche, die ähnlich denken, aber noch sind sie in der Minderheit
und von dem Lärm der Unbelehrbaren eingeschüchtert und
verunsichert.
Wir sehen auf jeden Fall, daß die Lösung
der deutschen Frage mehr erfordert als das äußere Einbetten
Deutschlands in einen wie auch immer gearteten supranationalen Rahmen.
Entgermanisierung bedeutet für mich vor allem einen ethisch-humanen
Prozeß, nicht nur einen institutionellen Vorgang, setzt ein
tiefgreifendes Umdenken der Deutschen als einzelne und der deutschen
Gesellschaft als Ganzes voraus. Was ändert ein europäischer
Paß, wenn der Träger ein bornierter Nationalist bleibt
und seine teutonische Selbstverliebtheit beibehält?
Ich grabe solche Binsenwahrheiten aus, weil man im
Zusammenhang mit diesem Sachverhalt fast immer umgekehrt argumentiert
und die Ansicht vertritt, die Entdeutschung der Deutschen werde
sich automatisch aus ihrer Integration in Europa ergeben. Diese
Optik entsteht aus einer Fetischisierung der Superstrukturen, entspricht
einer mechanischen Auffassung von der äußerst komplexen
Problematik, die wir hier behandeln. Nun, die Westdeutschen sind
seit gut drei Jahrzehnten in der EG integriert, aber ich sehe nicht,
daß diese äußere Bindung an Europa zu einer Überwindung
des Rassismus, des Faschismus und des Nationaldenkens geführt
hat.
Mit der Zugehörigkeit zur jetzigen oder einer
erweiterten EG ist die europäische Gesinnung der Deutschen
keineswegs schon gesichert. Sie erfordert einen sehr langen und
äußerst mühsamen Lernprozeß, und in diesem
Sinne müssen wir nichtdeutschen Europäer Geduld aufbringen,
auch wenn es schwerfällt.
1 Hermann Hesse, „Der Steppenwolf„, a. a. O., S. 129
2 John Maynard Keynes, „Revision des Friedensvertrags„,
a.a.O., S. 201
3 Vgl. Helga Grebing, „Der „deutsche Sonderweg„
in Europa 1806-1945. Eine Kritik„, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz
1986
4 Kant, „Werke„, XI. Band, S. 208 und
folg., Frankfurt 1968
5 Martin Winter, „Die einfachen Antworten sind
nicht immer die richtigen„, in: FR, 9. Februar 1990
6 Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse„,
S. 164, Stuttgart 1988
7 Golo Mann, „Deutsche Geschichte des XIX. Jahrhunderts„,
S. 17, Frankfurt/Wien/Zürich 1958
8 Hermann J. Abs, „Lebensfragen der Wirtschaft„,
a.a.O., S. 42
Aus: »Das vierte Reich: Deutschlands später Sieg.«
Verlag Rasch und Röhring, Hamburg 1990
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