XXXIII. Jahrgang, Heft 167
Sep- Dez 2014/3

 
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Letzte Änderung:
12.10.2014

 
 

 

 
 

 

 

WEITLÄUFIGE WELTBILDER

Verdi und Wagner

Von Norbert Büttner

   
 
 


1813 ist in Europa ein Jahr der Entscheidungen gewesen. Mit der Völkerschlacht bei Leipzig war nicht nur der imperiale Usurpator Napoleon, der angemaßte Erbe der bürgerlichen Revolution, besiegt. Es schien auch die erschöpfte und erstarrte Revolution selbst niedergeworfen zu sein. Restauration hieß das so eingängige wie irreführende Schlagwort, das die politischen Vorgänge dieser Zeit illustriert - denn selbstredend konnte der Kapitalismus, nachdem er in Frankreich gesiegt und von dort aus den europäischen Kontinent überzogen hatte, nicht mehr ins Prokrustesbett feudaler Verhältnisse zurückgezerrt werden. Und wo dies tatsächlich versucht, wo der Vormarsch der kapitalistischen Produktionsweise, die in England genau um diese Zeit ihre entscheidende industrielle Unterfütterung erfuhr, aufzuhalten gewagt wurde, dort setzte die bürgerliche Revolution von neuem mächtig ein und riß wie ein Rammbock die feudalen Mauern nieder.

Die musikalischen Begleiter dieser Epoche der Revolutionen sind Verdi und Wagner, beide 1813 geboren.

Gewöhnlich werden die zwei Komponisten einander gegenübergestellt und das nicht unberechtigt. Aber bevor auf die Gegensätzlichkeit ihres Werks eingegangen wird, die nicht nur und nicht einmal in erster Linie durch die sehr verschiedenen Charaktere und künstlerischen Temperamente der beiden bestimmt wird, sondern der das unterschiedliche Entwicklungsniveau Deutschlands und Italiens zugrunde liegt, soll betont werden, daß Verdi und Wagner die Befreiung des bürgerlichen Individuums aus den Zwängen der feudalen Gesellschaft musikalisch gefordert und befördert haben, daß sich in ihrem Schaffen sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten der bürgerlichen Emanzipation spiegeln.

Italien ist das Ursprungsland des spätmittelalterlichen Verlags- und Handelskapitalismus, der den Feudalismus weitgehend verdrängte und Italien beinahe vereinigt hätte. Doch während der Renaissance, als die italienischen Zwergstaaten unter ausländische Bevormundung und Besatzung gerieten, kam es zu einer Restauration der Adelsherrschaft. Es bedurfte eines sehr langen und teils erbitterten Kampfes, um dem Fortschritt wieder zum Vorankommen zu verhelfen.

Verdi ist der Sänger der bürgerlichen Freiheitsbewegung, die sich hauptsächlich gegen die Fremdherrschaft der Habsburger, Bourbonen und des Vatikan richtete und deshalb auch Teile des Adels umfassen konnte. Diese Besonderheit der italienischen Revolution, sich vor allem gegen fremde Mächte durchsetzen zu müssen, hat sowohl die Operntradition, in der Verdi stand, als auch Verdis Schaffen selbst wesentlich geprägt.

Die Oper ist als musikalisches Drama zum Ende der Renaissance nach dem Zurückdrängen des frühen Handelskapitalismus entstanden. In ihr verbanden sich die bisher erreichten künstlerischen und technischen Fertigkeiten des italienischen Bürgertums in der Bühnenkunst, die seinen Leistungen in Malerei, Bildhauerkunst und Literatur kaum nachstehen, mit dem Repräsentationsanspruch der wieder erstarkten feudalen Kräfte. In diesem weitgesteckten theatralischen Rahmen konnten sowohl die Bedürfnisse der höfischen Welt (des Adels und des gelehrten Klerus) befriedigt als auch den Bestrebungen des unterdrückten Bürgertums eine Stimme gegeben werden. Das war die Voraussetzung für die ungeheure nationale Verbreitung der Oper auch in den unteren Volksschichten. Und je stärker das Bürgertum seine Ansprüche in der Oper vertrat, um so größer wurde ihre Resonanz, wurde sie wirklich zu einem Organ des Volkes. Nur so lassen sich die unglaublichen Berichte europäischer Reisender aus dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert erklären, daß das ganze Volk bis hinunter zu Gassenjungen und Landstreichern begeistert Arien sang und daß die Komponisten eine öffentliche Anerkennung und Verehrung erfuhren, die an den übersteigerten Starrummel der Gegenwart erinnert.

Verdi ist der Gipfel und zugleich der Abschluß dieser musikalischen Entwicklung. Das Bürgertum vereinigte in seiner Person noch einmal seine Fähigkeiten und sein Können, sein künstlerisches Empfinden und seine demokratischen Ideale. Und da dieses Bürgertum mit den Volksklassen noch in eins ging, wurden seine Empfindungen und Ansichten auch von diesen geteilt. 1848 war der Höhepunkt dieser glücklichen Gemeinschaft. Und 1870 - die Erringung der Einheit Italiens - ihr Scheitelpunkt. Von da an gingen Bürgertum und Volksklassen auseinander und wurden bald zu erbitterten Kontrahenten, was die Volkstümlichkeit der Oper bedeutend beeinträchtigte.

Verdi starb erst 1901, aber diese Entwicklung hat er nicht mehr künstlerisch reflektiert. Sogar daß die demokratische Revolution unvollendet blieb und der halbfeudale agrarische Süden de facto zu einer Kolonie des industriellen Nordens wurde - das war übrigens der Boden für das Aufblühen der Mafia -, wurde von ihm kaum wahrgenommen.

Wagner lebte im fortgeschritteneren Deutschland. Auch er gab den Bestrebungen des fortschrittlichen Bürgertums künstlerischen Ausdruck, aber nur bis 1848. Wenn die Revolution auch niedergeworfen wurde, sozialökonomiseh setzte sich der Kapitalismus durch. Und die Überreste des Feudalismus vermochten nur zu überleben, weil sie sich dieser Entwicklung anpaßten.

Wagner ist der erste Komponist von Weltgeltung, dessen Werk von den Widersprüchen des Kapitalismus und nicht mehr von der bürgerlichen Revolution oder vom zerfallenden Feudalismus bestimmt wird.

Wagner hat keine Ahnung von Ökonomie oder gar den Bewegungsgesetzen des Kapitalismus. Er versteht ihn nicht, aber er erleidet ihn. Seine damals noch progressive Seite - die Entwicklung der Produktivkräfte und die Auflösung und Beseitigung der feudalen Verhältnisse - bemerkt er nicht. Er erlebt ihn nur als allgemeine künstlerische, finanzielle und moralische Korruption, als hemmungslose Profitmacherei und stringente Kunstfeindlichkeit.

Vieles von Wagners Ansichten und Verhalten ähnelt den Betrachtungen und dem Auftreten der französischen poets maudits, der Parnassiens und Symbolisten. Wie diese lehnte er die bürgerliche Demokratie ab, weil er in ihr eine besonders widerwärtige Knechtung der Menschen unter das große Geld sah. Und gleich den französischen Dichtern fühlte er sich zu Vertretern des hohen Adels hingezogen, zu überlebenden wie überlebten Repräsentanten des Feudalismus, in seinem Fall Ludwig II. von Bayern. An ihm, der ihn an die allgewaltigen Monarchen des Mittelalters erinnerte, glaubte er noch Reste eines durchgehenden Kunstsinns zu entdecken, der den Magnaten von Finanz und Industrie völlig abging.

Malter Benjamin hat die poets maudits als Agenten der Unzufriedenheit mit der Herrschaft ihrer Klasse bezeichnet. Auch Richard Wagner kann als ein solcher Agent angesehen werden.

Die Musik, die Wagner Beruf und Berufung ist, wird gerade zu seiner Zeit vollständig kommerzialisiert. Das gesamte musikalische Leben gerät in die Hände kapitalistischer Unternehmer, die die Jagd nach dem goldenen Kalb zum höchsten Inbegriff des künstlerischen Wollens erheben, darin begleitet und unterstützt von den käuflichen Journalisten— Cliquen, für die Zeitungsarbeit zum reinen Gelderwerb geworden ist.

Wagner, der sich in diesem Kulturbetrieb nur sehr schwer durchsetzen kann, haßt diese Unternehmer. Und da viele von ihnen und ebenso viele ihrer Zeitungsknechte - und gerade die, mit denen er am heftigsten zusammenstößt - jüdischer Herkunft sind, überträgt er seinen Haß auf den Kapitalismus auf die Juden. Er identifiziert sie mit jenem. Sie sind für ihn die fleischgewordene Korruption, Mittelmäßigkeit und Kuponschneiderei.

Ein sachliches Verhältnis wie die Warenproduktion und den Kapitalismus immer nur in Personen wahrnehmen zu können und über diesen das Verhältnis dann zu vergessen - das ist ein romantischer, ein verdrehter Antikapitalismus, der die Grundlage seines Antisemitismus bildet. Sowohl die rechte Kulturkritik um 1900 als auch der deutsche Faschismus haben daran angeknüpft.

Dennoch ist es vermessen, Wagner für die Verbrechen des deutschen Imperialismus haftbar zu machen und das nicht nur, weil er schon 1883 starb. Denn es gibt in seinem Werk wesentliche Elemente, die dessen reaktionärer Ausdeutung widersprechen.

Ein Charakteristikum der kapitalistischen Entwicklung auf dem Gebiet der Kunst ist die Beeinträchtigung und Zerstörung der Gemeinschaft von Künstler und Volk, die Entfremdung des Künstlers vom Leben und Kampf der Volksklassen. Wagner hat diese Entfremdung besonders schmerzlich empfunden und sie zu überwinden versucht. Sein Ausgangspunkt war derselbe romantische Standpunkt, der ihn in der Politik zum Antisemitismus geführt hat. Das Bayreuther Opernhaus, heute ein Treffpunkt für Snobs und Millionäre, war als ein Musiktheater des ganzen Volkes konzipiert. Und um die Einheit der Künste mit dem Volk, die dieses Haus manifestieren sollte, wieder herzustellen, versuchte Wagner in seinem Werk eine Einheit aller zu seiner Zeit vorhandenen Künste zu bewerkstelligen, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen als Verbindung von Musik, Dichtung, bildender Kunst und Architektur, ähnlich der attischen Tragödie des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeit, die auch eine Angelegenheit des ganzen Volkes gewesen ist.

In Wagners Werk spiegelt sich ungebremst das zerstörerische Aufeinanderprallen der seelischen Kräfte wider, die der Kapitalismus nach Zerreißung der spätmittelalterlichen Fesseln freigesetzt hat. Der neue, bürgerliche Mensch ist nicht edel und gut, wie noch ein Goethe hoffte, er ist ein Raubtier, eine Bestie, der die Verkehrung aller humanistischen Werte lebt - und predigt. Diese monumentalen Gegensätze, die Wagners Werk ständig zu zerreißen drohen, können nur von der gewaltigen Klammer der Musik gebändigt und zusammengehalten werden. Das erzwang nicht nur die Aufbietung und Sprengung aller bis dahin bekannten musikalischen Ausdrucksformen. Zerstörung ist ein notwendiger, aber nur erster Schritt bei der Bewältigung dieser neuen Widersprüche. Wichtiger noch ist die Neuschöpfung der Formen, der zweite Schritt, der das Chaos wieder zu Kunst zusammenführt, und auch den hat Wagner vollzogen. Aber das Ergebnis konnte unter den oben genannten Bedingungen nur zwiespältig sein.

Wagners Werk kann nicht platterdings fortschrittlich oder reaktionär genannt werden. Es schließt beide Seiten ein, die sich in ihm unlösbar durchdringen und bekämpfen. Eine Aufhebung der Widersprüche, die seine Musik so zerreißt, gelang Wagner nicht und konnte ihm auch nicht gelingen. Um die Gegensätze notdürftig miteinander auszugleichen, hat er sie in romantischer Mythologie ertränkt.

Aber wenn auch Wagners Antworten auf die Fragen, die der Kapitalismus für die Entwicklung der Kunst aufwarf, wenig zu überzeugen vermögen, die Anstöße, die er der Musik gegeben hat, wirken bis heute.


***


Die Toten an die Lebenden


Vor beinahe einhundert Jahren wurde die Welt von einem "imperialistischen Zyklon durchrast, der als erster Weltkrieg in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika befanden sich die meiste Zeit im Auge dieses Wirbelsturms, in dem bekanntlich fast immer Windstille herrscht, und griffen erst zum Ende in die Auseinandersetzungen ein. Als einziger Staat gingen sie gest ärkt daraus hervor und übernahmen die Rolle der imperialistischen Hauptmacht.

Inmitten dieses Zeitabschnitts erschienen in Chikago zwei Bücher - Edgar Lee Masters" "Die Toten von Spoon River" und Sherwood Andersons "Winesburg, Ohio" -, die eine große Bedeutung für die amerikanische Literatur erlangen sollten.

Diese war nämlich in den Jahren zuvor in eine gewisse Stagnation geraten. Der ungeheure ökonomische und soziale Fortschritt und vor allem seine ungeahnten Folgen hatte die Intelligenz, die Erzeugerin und Trägerin der Kultur, überfordert. Noch fest auf das neunzehnte Jahrhundert geeicht, schaute sie die neuen Erscheinungen, die Ausdruck tiefgreifender Umwälzungsprozesse waren, ratlos an. Sie spürte, daß der alte Weg der kapitalistischen Entwicklung ausgeschritten war, aber den neuen wußte sie noch nicht zu deuten.

Um die Jahrhundertwende war die Pionierzeit, die Kindheits- und Jugendphase der USA, unwiderruflich zu Ende gegangen. Die extensive Entwicklung, die immer neues unberührtes Land verschlang, auf dem die Millionenmassen europäischer Einwanderer untergebracht wurden, fand mit dem Erreichen des Pazifischen Ozeans ihre natürliche Grenze. Die Vereinigten Staaten dehnten sich nicht mehr aus (oder wenn - wie im Spanisch-Amerikanischen Krieg -, dann nur noch als Kolonialmacht, die keine Ansiedelungen von Einwanderern mehr durchführte). Dafür setzte eine intensive Entwicklung ein, die schon vorher unterschwellig das Land erfaßt hatte, nun aber sichtbar zu Tage trat. Es entstanden Trusts und Syndikate, die ganze Industriezweige dirigierten. Das Land wurde elektrifiziert und automobilisiert, die Farmwirtschaften mechanisiert. Und das alles verknüpfte das Netz der großen Banken und Finanzinstitute, die um diese Zeit den bis heute bestehenden beherrschenden Einfluß auf Politik und Wirtschaft gewannen.

In der Literatur verbanden sich die sehr verschiedenen regional gefärbten Strömungen endgültig zu einer einheitlichen Nationalliteratur, deren künstlerische Kraft aber merkwürdigerweise genau zu diesem Zeitpunkt erschlaffte und die die eingetretenen Veränderungen entweder hilflos attackierte oder zu ignorieren versuchte. Einen Moment schien es, als ob der Naturalismus, der von den großen Industriezentren aus in die Literatur vordrang, eine Belebung bringen würde. Aber seine Vorliebe für grelle Kolportage begrenzte seine künstlerische Kraft sehr.

Das neunzehnte Jahrhundert hatte eine bedeutende Literatur erblühen sehen, deren beste Köpfe - Poe und Melville, Whitman und Twain - auch in Europa wahrgenommen wurden. Sie brachten nicht nur neue Stoffe in die Weltliteratur ein, sie entwickelten auch neue Formen dafür - die Short Story und der freirhytmische Langvers - und verhalfen ebenfalls der natürlichen Redeweise, der Umgangssprache, zu neuem Recht gegenüber der Hochsprache. Nicht umsonst wird diese Epoche manchmal das Goldene Zeitalter der nordamerikam" sehen Literatur genannt.

Doch die geschliffenen Prismen und Spiegel dieser gereiften und tradierten Literatur erwiesen sich plötzlich als ungeeignet, die soziale Entwicklung angemessen aufzunehmen und zu durchleuchten. Die gemächliche, verwickelte, der Persönlichkeit und ihren Äußerungen alle Zeit der Welt lassende Erzählweise Twains und Melvilles konnte mit dem Anzug des Lebenstempos, das eine Folge der sozialen Wandlungen war, nicht mithalten. Das kulturelle Leben konzentrierte sich nur noch in wenigen Großstädten, in New York und Chikago. Wenn der mittlere Westen, um den es hier vor allem geht, auch niemals in dem Sinne rückständige Provi'n2 gewesen ist wie etwa Mecklenburg in Deutschland, so verlor er nun fast alle Bedeutung. Und bisherige regionale Zentren wie Boston oder New Orleans, die der Mittelpunkt sehr eigenwilliger kultureller Bestrebungen waren, sanken zu Provinzstädten herab.

Die jüngeren Schriftsteller, die in die Literatur drängten und aber fast nur über die erprobten künstlerischen Mittel des neunzehnten Jahrhunderts verfügten, sahen sich vor der schwierigen Aufgabe, die sozialen Veränderungen literarisch adäquat zu erfassen. Es war der Journalismus, der dieses Terrain zuerst erkundete. Lincoln Steffens, John Reed und andere kritische Publizisten, die Schmutzaufwirbler, wie sie ein amerikanischer Präsident genannt hat, enthüllten in ihren Artikeln und Reportagen den Hintergrund des sozialen Lebens, seine verborgenen Stränge und Kanäle, und machten dem nordamerikanischen Publikum die dem Imperialismus eigene Gewalttätigkeit und technizistische Barbarei bewußt.

Die Belletristik vermochte sich diesem Vorstoß nicht direkt anzuschließen. Wenn sie dem Konflikt mit der Gesellschaft nicht von vornherein auswich und sich in die geschützten Reservate einer spätromantischen Innerlichkeit zurückzog, ertrank sie bei ihren ersten Schwimmversuchen im neuen Stoff. Nur mit schriller Kolportage und tendenziösem Pamphletismus wußte sie sich zu behaupten. Upton Sinclair ist der weltweit bekannte Vertreter dieser sozialkritischen Trivialliteratur.

Das anfängliche Unvermögen der amerikanischen Schriftsteller, die neue Wirklichkeit zu bewältigen, führte zunächst zu etwas, daß die "midlife crisis" der US-Literatur genannt werden könnte. Die sonst so selbstbewußten und handwerklich versierten amerikanischen Schriftsteller begannen an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Sie experimentierten und suchten nach neuen Formen.

Es ist sicherlich nicht ohne Bedeutung, daß sowohl Masters als auch Anderson Seiteneinsteiger in die Literatur waren. Beide waren in einem ursprünglichen Sinn Provinzler, geboren und aufgewachsen im mittleren Westen und mit seinen Leuten, seiner Geschichte und seinen Geschichten gut vertraut. Sie hatten sich autodidaktisch eine umfangreiche, wenngleich natürlich lückenhafte Bildung angeeignet. Ihr Weg in die Literatur ist lang und quälend gewesen. Sie schrieben über viele Jahre und veröffentlichten einige Bücher, die ihnen zwar den Respekt ihrer literarisch interessierten Umgebung einbrachten - aber weder erreichten sie den Durchbruch noch erschienen ihre Arbeiten ihnen selbst gehaltvoll genug, um den eigenen Ansprüchen zu genügen.

Es war nicht etwa fehlerhaftes Handwerk zu beanstanden und auch keine mangelhafte Beobachtungsgabe oder eine ungenügende Phantasie. Aber sie vermißten so etwas wie einen sicheren Grund, ein Trampolin, das ihrer Phantasie Kraft zu Aufschwüngen gab, ein geheimer Faden, der die detailrealistischen Angaben erst auf tiefere Art miteinander verband und damit dem Naturalismus entrückte.

Dieses Trampolin ihrer realistischen Phantasie, dieser rote Faden ihrer Gedichte und Geschichten wurde ihnen die Mythologie, eine von den Pionierlegenden angeregte, aber letztlich selbsterschaffene Mythologie eines homerischen Amerika. Die konzentrierte, aber bereits etwas welke Kraft des mittleren Westens, der nicht mehr in der Lage war, eine große epische Kunst hervorzubringen, vermochte in diesen ambitionierten Provinzlern ein Bewußtsein hervorzurufen, das sie unwillkürlich in die Spur des archaischen Griechenland brachte.

Auf den ersten Blick scheint das eine absurde Annahme zu sein: Das präklassische Hellas und die modernen Vereinigten Staaten, was können sie miteinander gemein haben? Sie sind nicht nur durch Ozeane und Zeitalter voneinander getrennt, sie sind auch sozialökonomisch grundverschieden und haben eine völlig unterschiedliche Entstehungsgeschichte. Aber an diesem letzten Punkt angelangt, zwingt den Kritiker etwas plötzlich einzuhalten. Denn er kann den Gedanken nicht abweisen, daß es nicht vom Inhalt, aber von der Form der Gesell schaftsbewegung her schon gewisse Analogien zwischen Hellas und Nordamerika gibt.

Das archaische Griechenland und die Vereinigten Staaten sind entstanden im Ergebnis mächtiger, z.T. kriegerischer Einwanderunngsströme, die die Urbevölkerung ausgelöscht oder unterjocht haben. Dabei bildete sich anfänglich keine oder eine nur schwache Zentralgewalt, so daß die weitere Entwicklung bestimmt wurde vom ständigen Kampf ums überleben relativ kleiner und abgeschotteter Gemeinschaften, ob das nun die altgriechische Polis oder die agrarische hometown des mittleren Westens war. Die Ähnlichkeit der unerhört harten Lebensbedingungen erzeugte Ähnlichkeiten in der Kultur: einen Kult des Kampfes und des Setbsthelfertums, verkörpert im Krieger und im Cowboy. Das sind Eigenschaften einer primitiven, aber widerstandsfähigen Gesellschaft.

Aber in den USA - und hier treten die Unterschiede der Gesellschaftsformen zutage - kam noch etwas anderes hinzu. Sie waren das Auffangbecken des europäischen Menschenüberschusses. Die Einwanderer, die an Zahl die eingesessenen Yankees beträchtlich übertrafen, brachten eine hochentwickelte Kultur mit, für die im mittleren Westen keine unmittelbare Verwendung bestand. Dennoch wurde sie nicht abgestoßen, sondern lagerte als harter, aber keimfähiger Same in den Köpfen der Provinzintelligenz, der Ärzte, Anwälte und Lehrer; und als am Ende des 19. Jahrhunderts die Eroberungen abbrachen und höhere Produktivität der Landwirtschaft sowie bessere Verkehrserschließung das Leben angenehmer machten, konnte dieser Same neu austreiben. Und einer seiner Sprossen war das homerische Gefühl, inmitten des stupiden Alltags auch in einem klassischen Epos zu stehen.

Masters und Anderson haben dieses Gefühl in die Literatur übertragen. Ihre Orte - Spoon River und Winesburg - sind nicht nur liebevoll gezeichnete Abbilder der Wirklichkeit, sie gehören auch einer Legende an. Ihre Figuren - hart arbeitende Kleinbürger, deren Lebenskraft im Ringen mit den Naturgewalten verbraucht wird und die, wenn sie auch denen widerstehen, den neuen sozialen Gewalten, die mit Telegraf und Eisenbahn über sie kommen, hilflos ausgeliefert sind - sind keine gewöhnlichen Nachfahren der amerikanischen Pioniere. Sie sind in das Licht archaischer Heldentaten getaucht. Es schwingt in diesen Menschen nicht nur das, was sie an diesem gegebenen Ort sind. Sie haben auch einen Teil Leben in sich, der nicht ihrer unmittelbaren Wirklichkeit zugehört und der ihrem Dasein etwas Traumhaftes gibt. Alle ihre Lebensäußerungen wirken gestört, das Rädchen in ihnen, das die Maschine treibt, gehemmt, als wurde in ihnen auch eine andere Zeit am Werke sein. Um es in der simplen Sprache des Feuilletons zu sagen: Sie scheinen alle neben der wirklichen Welt auch einer Parallelwelt zugeteilt zu sein, in der sie ein anderes und vielleicht besseres Leben führen. Denn eines charakterisiert sie: Ihr bürgerliches Leben mit seinen vielen kleinen Komödien und seinen noch häufigeren kleinen Dramen füllt sie nicht gänzlich aus. Sie sind zwar gebunden und überwältigt von der Alltäglichkeit der bürgerlichen Verhältnisse, aber in einem wenn auch tief in ihnen verborgenen Bereich ihres Bewußtseins ahnen sie, daß dieses Leben nicht alles ist, daß es ihre Kräfte verbraucht und vergeudet, aber ihre Hoffnungen weder erfüllt noch je erfüllen kann. Sie wissen nichts vom Kapitalismus, der die bewegende Feder der Welt ist, aber sie spüren, daß er ihre Menschlichkeit verkrüppelt.

In Europa wären diese unbestimmten Ahnungen wahrscheinlich Anstoß zu einer Flucht in den Mystizismus geworden, wäre dieses Schattenbild eines zweiten, aber eigentlichen Lebens zum Symbol verdichtet und damit dem Begreifenwollen entrückt worden. Selbst ein so vitaler und widerstandsfähiger Realismus wie der russische vermochte sich diesem Druck, den die bürgerliche Gesellschaft ausübte, nicht zu entziehen und nahm symbolistische Elemente in sich auf wie bei Leonid Andrejew geschehen oder konvertierte gleich zum Symbolismus wie Fjodor Sologub.

Auch in den USA gab es symbolistische Bestrebungen vor allem unter Autoren, die, aus gesicherten Verhältnissen stammend, zunehmend in Distanz zu ihrer Gesellschaft gerieten wie Ezra Pound. Aber Schriftsteller wie Masters und Anderson, die noch einen lebendigen Bezug zur Pionierzeit besaßen und die keinen intellektuellen Rückzug aus der Gesellschaft anstrebten, war dieser Weg beinahe zwangsläufig versperrt. Beseelt von einem Rest urwüchsigen Pioniergeist, der noch nicht gänzlich im moneymaking erloschen war, waren sie fest entschlossen, den Kampf mit der kapitalistischen Gesellschaft auf künstlerische Weise auszufechten.

Zu diesem Zweck traten sie scheinbar einen Rückzug an, indem sie ihren Blick von der Großstadt, in der sie inzwischen lebten, wieder auf die Kleinstadt richteten und vor allem, indem sie die Handlungszeit ihrer Werke um einige Jahrzehnte zurück verlegten, was die Diskrepanz zu der indessen erfolgten imperialistischen Entwicklung und deren Auswüchsen noch mehr hervorhob.

Masters brachte seine "Toten von Spoon River" zuerst heraus. Es sind Elegien und Epigramme, als Erzählgedichte konzipiert. In einer komprimierten, dennoch der gewöhnlichen Redeweise angeglichenen Sprache hat er wie ein Gerichtsstenograf die Verteidigung der Einwohner von Spoon River vor dem Gericht des Lebens aufgenommen, ein sachlicher, anscheinend neutraler Aufschreiber, der möglicherweise selbst nicht genau die Bedeutung der Reden erfaßt, die er festhält. Doch gerade deshalb wirken sie um so stärker.

In der Form des Epigraphs wenden sich die Toten an die Lebenden. Sie versuchen ihr mißlungenes Leben zu begründen und zu rechtfertigen und vermögen doch selbst nicht anzugeben, wie es dazu gekommen ist. Aber indem sie sich öffnen und ihr Leben sehen . lassen, wie es war, geben sie viel mehr preis, als sie eventuell möchten. Vielleicht ist das der- vorzügliche Sinn des Erzählens: Es teilt mehr mit, als sein Verfasser weiß, und hilft damit, die Welt zu erkennen. Nach der Ansicht gewisser Philosophen soll das ja der erste Schritt zu ihrer Veränderung sein.

Anderson hat von Masters Vorarbeit profitiert. Er hat seine Leute von Winesburg nicht so eindeutig als Tote gekennzeichnet. Aber sein Geschichtenband ist bei aller Genauigkeit der Kleinstadtschilderung, die Ansätze zu einem Sittenspiegel aufweist, doch keine mehr oder weniger naturalistische Zeichnung der amerikanischen hometown. Seine Menschen sind wie auf den Gemälden alter niederländischer Meister in einem scharf konturierten Helldunkel gehalten, und sie bewegen sich auf eine sonderbar verzögerte Art durch die Welt, als wären sie hypnotisierte Schlafwandler, die einem fremden Willen gehorchen müssen. Aber es gibt Momente des Erwachens, in denen sie zu sich zu kommen und ihr eigentliches Leben zu entdecken scheinen. Doch ehe sie darüber verzweifeln und einen wirklichen Ausbruch wagen, gleiten sie wieder in hypnotische Starre.

Masters und Anderson haben der nordamerikanischen Literatur tiefe Anstöße gegeben. Doch der kritische Grundzug ihres Schreibens ist weitgehend beiseitegeschoben und verdrängt worden. Bei dieser Entwicklung hat der Pragmatismus, dieser dominierende Bestandteil des amerikanischen Denkens, entscheidend mitgeholfen. Man hielt sich hauptsächlich an das Offensichtliche, an die Wiederentdeckung der Kleinstadt als wesentlichen Ort der Gesellschaft, und überlas die Kritik an der Verkrüppelung und Amputation der Persönlichkeit, die der Kapitalismus herbeiführt.

Und ihr Werk wurde als Steinbruch benutzt. William Faulkner etwa übernahm ihre mythologische Sicht. Auch er brauchte ein Trampolin, von dem aus seine Figuren sich aus der Banalität ihres Alltags aufschwingen konnten in ein heroisch angehauchtes Leben. Aber wo diese Sichtweise bei Masters und Anderson noch ein Licht war, das die Geschichten erhellte, wurde sie bei Faulkner zum verdunkelnden Schirm, der seine Welt verschloß. Seine Figuren sind nicht nur gefangen in ihrer Existenz, sie wollen auch in keiner anderen leben.

Hemingway und sein kreativster Schüler Carver dagegen haben ihre Geschichten naturalistisch karg ineinander verfugt. Es scheint absurd zu sein, bei ihnen einen mythologischen Hintergrund auch nur zu vermuten, Und doch "läßt sich nicht abstreiten, daß ihre Erzählungen große Leerstellen besitzen. Orte, an denen (vielleicht nur in der Vorplanung) eine Mythologie stand, die das Gerüst für den Bau der Handlung abgab, aber dann beseitigt wurde. Auch bei ihnen wie bei Masters und vor allem Anderson ist das Nichterzählte mindestens genauso wichtig wie das Erzählte.

Der imperialistische Zyklon hat sich im vergangenen Jahrhundert schon mehrmals ausgetobt. Und immer hielten sich die USA in seinem Auge auf. Aber jetzt rücken sie allmählich in die Fronten des Sturms, von dem die Bewohner von Spoon River und Winesburg ein erstes Zeugnis abgaben, noch bevor er auftrat.


***


Unterwegs zum Vierten Reich

Von Heleno Saña


»Ein Schatten fällt auf Europa, noch ehe das >Vierte Reich< wirklich existiert – ein Staat von annähernd 80 Millionen Einwohnern, die stärkste nichtatomare Militärmacht der Welt ... ein Staat, der nicht mehr nach Westen, sondern nach Osten blickt, zwischen sich und den russischen Grenzen nichts als ein Gürtel maroder Staaten.«
Heinrich Jaenecke, in: Stern, 8. 2.1990


Am Abend des 8. Februar 1990 trat also Kanzler Kohl vor die Kameras des Zweiten Deutschen Fernsehens und sagte, ganz Caesar imperator: Die Unterstellung, es könnte ein Viertes Reich entstehen, bedeutet eine Diffamierung Deutschlands. Basta, und wer anderer Meinung ist als er, betreibt Rufmord, denn dies ist ja das deutsche Äquivalent für das vom Kanzler benutzte lateinische Wort.

Das Argument des Kanzlers: In den letzten 40 Jahren hätten die Deutschen bewiesen, daß sie zu ihren Verträgen und Verpflichtungen stehen. Er vergaß freilich zu erwähnen, daß sie als besiegtes und besetztes Land keine andere Wahl hatten und daß also ihr Verhalten nichts anderes als ein Akt des Gehorsams war. Daß die selbstbewußt und siegessicher gewordenen Deutschen sich in Zukunft anders verhalten könnten, als sie es zuvor getan haben - darüber verlor Herr Kohl kein einziges Wort.

Es ist das gute Recht des Regierungschefs, apodiktisch zu behaupten, was er will, aber seine Meinung wiegt nicht mehr als jede andere x-beliebige Meinung, darunter auch die meine. In der Frage eines möglichen oder nichtmöglichen Vierten Reichs geht es wie bei den scholastischen Pro-und-Kontra-Disputationen schlicht um Argumente und Gegenargumente, nicht um Diffamierung oder Nichtdiffamierung.

Helmut Kohl ist nicht der einzige, der die Vorstellung eines Vierten Reiches entrüstet zurückweist. Auch der neue Patriot vom Dienst, Willy Brandt, folgt ihm auf diesem Weg, gehört zu jenen doppelzüngigen Politikern, die es fertigbringen, zu Hause großdeutsche Gefühle aufzupeitschen und draußen ultimativ zu behaupten, es werde kein Viertes Reich geben, wie er in der Pariser Sorbonne versicherte. Überhaupt wird der Begriff „Viertes Reich„ von den meisten Politikern und Publizisten (nicht nur deutschen) mit Adjektiven wie „absurd„, „grotesk„ oder „undenkbar„ abgetan. Er gilt noch weitgehend als ein nicht salonfähiges Tabu; über ihn offen zu reden gehört einfach nicht zur waltenden Konvention, er verstößt allzu frontal gegen die Spielregeln der etablierten Politik und der ihr dienenden Publizistik.

Immerhin gibt es genug Deutsche - nicht nur böswillige Ausländer wie ich -, die offen vom Vierten Reich sprechen, die diesen Begriff als Zauberformel für ihre Sehnsucht nach einer neuen imperialen Ära benutzen, die Neonazis zum Beispiel oder nicht wenige Demonstranten in Leipzig und anderswo. Handelt es sich um Minderheiten? Gewiß, aber es beginnt alles mit einer Minderheit, wie auch damals mit der NSDAP. Aber der ominöse Begriff verbreitet sich immer mehr. Noch vor zwei oder drei Jahren, bevor William Satire das Wort in Umlauf brachte, sprach kein Mensch über ein Viertes Reich, heute kann sich selbst der Kanzler der Zugkraft dieses Begriffs nicht entziehen. Und wer bei Freud nur ein bißchen geblättert hat, weiß, was der über das Unbewußte und bestimmte sprachliche Reaktionen schreibt.

Bis zur Geburt eines Vierten Reiches sind freilich noch einige Hürden zu überwinden. Die Gesamtverantwortung für beide Teile Deutschlands liegt weiterhin in den Händen der vier Siegermächte, eine Tatsache, die nicht zuletzt durch die Anwesenheit ihrer Stationierungstruppen in der BRD und der DDR unterstrichen wird. Aber man darf diesen Status quo nicht statisch auffassen, als einen

ewigen Zustand sich vorstellen; im Grunde verliert er immer mehr an Bedeutung und wird irgendwann von der eigenen deutschen Entwicklungsdynamik überwunden sein. Wichtiger als der äußere, formal geltende Status ist gerade das, was in keinen Verträgen steht und man nicht in festumschriebenen Schemen fassen kann: der innere Status quo des deutschen Volkes und seine Entschlossenheit, seinen späten Sieg über die früheren Feinde bis zur letzten Konsequenz zur Vollendung zu bringen. Zumindest seit Herbst 1989 findet ein erbitterter Kampf zwischen dem deutschen Willen zur totalen Souveränität und dem Widerstand der Siegermächte gegen eine solche Entwicklung statt, und obwohl der Ausgang dieser Konfrontation noch nicht feststeht, ist nicht schwer zu erraten, daß sich am Ende die Deutschen durchsetzen werden. Auf welche Art und Weise die Deutschen diese Auseinandersetzung rühren, hat der Bonner Korrespondent des sowjetischen Parteiorgans „Prawda„, Mai Podklutschnikow, anschaulich ausgedrückt: „Bonn handelt mit den Methoden eines Blitzkrieges, der durch die moralische Zersetzung der Menschen vorbereitet wird, den Glauben an ihre eigene Kraft untergräbt und Angst und Panik sät.„ Und dieser Sieg wird dann der Ausgangspunkt für das Entstehen eines Vierten Reiches sein.

Dieses sich abzeichnende neue Imperium existiert zwar nur als „potentia„ und nicht als vollzogener „actus„, aber das heißt nicht, daß es eine Fiktion wäre, ein willkürliches und grundloses Phantasiegebilde. Wenn die Deutschen ihre völkisch-nationale Dynamik in Bewegung setzen, sind sie unfähig, sie an einem bestimmten Punkt zum Stillstand zu bringen, ein irrationaler, unüberwindlicher Drang treibt sie dazu, unentwegt nach vorne zu marschieren. Nach ihrem wirtschaftlichen Sieg über ihre Kriegsgegner werden sie sich als nächstes ihre wirtschaftliche Einheit holen, und der dritte Akt dieser Epopöe wird die Gründung eines neuen Reiches sein, mit oder ohne die Erlaubnis der anderen Mächte. Wer noch glaubt, Papiere, Verträge, juristische Paragraphen oder feierliche Versprechungen und Garantieerklärungen werden die Deutschen von ihrem Vorhaben abhalten, kennt entweder die Deutschen nicht, oder er ist schon ihrer Beschwichtigungsstrategie erlegen. Die Deutschen haben mittlerweile keinen Respekt und keine Angst mehr vor den ehemaligen Siegern. Es bestätigt sich, was Max Horkheimer schon 1950 ahnte: „Wenn einmal ein Volk, gegen das Sanktionen verhängt worden sind, sich dessen bewußt wird, daß sie nicht unwiderruflich sind, daß die sie verhängende Agentur keine wirkliche Stärke darstellt, dann arbeiten seine führenden Gruppen und anschließend auch die Gesamtbevölkerung aktiv daran, sich der Bußen zu entledigen. Je mehr sie verstehen, daß das Verhalten des Siegers von Schuldgefühlen wie von Schwäche durchdrungen ist, desto mehr färbt sich der Widerstand mit der Idee der Rache.„(1)

Die Reisen nach Moskau, Washington, Paris oder London, die Kohl oder Genscher absolvieren, um sich mit den Siegern abzusprechen, sind nur bloße Rituale und formale Pflichterfüllung geworden. Denn die Deutschen sind nicht nur unterwegs zu den Hauptstädten der Welt, sie sind zugleich auch unterwegs zum Vierten Reich. Das ist ihre Geheim- und Inkognitoreise, das wahre Endziel ihres ständigen Hin- und Herpendelns; die Besuche, die sie sonst überall abstatten, sind nur Zwischenstationen, Transitwege dorthin. Daß sie die Endstation ihrer Marschroute nicht bekanntgeben und sie energisch bestreiten, gehört zu ihrem operativen Timing: Kein Generalstab verrät dem Feind die Pläne seiner Strategie.

Man kann diese immer deutlicher werdende Entwicklung in ihren Einzelheiten nicht voraussehen, auch nicht als einen a priori bestimmbaren Prozeß konzipieren; gerade hier ist der Hinweis auf die Hegelsche List der Vernunft am Platze. Nicht einmal die Deutschen selbst wissen genau, wohin ihr neuer Tatendrang sie führen wird, welche Abenteuer und Überraschungen auf sie warten. Sie sind entsprechend von Zweifeln geplagt, stellen sich jeden Tag die klassische Hamlet-Frage, horchen ganz genau, was man in den Kanzleien der Welt über sie sagt, mahnen sich gegenseitig, bei ihren Äußerungen vorsichtig zu sein, sind peinlich bedacht, keinen Fauxpas zu begehen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß der Begriff Viertes Reich nicht von ihnen in Umlauf gebracht worden ist, sondern vom Ausland. Verständlich ist auch, daß sie sich gegen diese semantische Konstruktion emsig wehren, denn sie wissen, daß damit Assoziationen beschworen werden, die ihre großdeutschen Pläne gefährden könnten.

Ausländische Phantasien und böswillige Unterstellungen also? Wie dem auch sei - ich habe dieses Buch nicht geschrieben, um die laufende Chronik mechanisch zu reproduzieren, sondern um der äußeren Dialektik Deutschlands auf die Spur zu kommen. Dieser Aufgabe kann man nur gerecht werden, wenn man nicht Gefangener der Gegenwart bleibt und seine Augen auf die kommende Entwicklung richtet. Um über vollzogene Ereignisse zu berichten - dafür sind die Massenmedien und der Journalismus da. Sorel hatte recht: „Man braucht keine große Kenntnis der Geschichte zu besitzen, um zu wissen, daß das Geheimnis der historischen Entwicklung nur für diejenigen zugänglich ist, die sich außerhalb der oberflächlichen Bewegungen befinden: das, was morgen als das Entscheidende betrachtet wird, sehen die Chronisten und Protagonisten des Dramas nicht.„(2)

In der Seele der Deutschen ist das kommende Reich schon beschlossene Sache, und wenn sie es nicht laut, sondern nur mit flüsternder Stimme verkünden, dann deshalb, weil sie auf den Tag des großen, öffentlichen Jubels noch ein bißchen warten müssen. Aber man merkt, wie happy sie sind, wie stolz auf ihren mühsamen langen Marsch zum endgültigen Sieg. Dichterisch und phantasievoll veranlagt, wie sie sind, freuen sie sich schon im voraus auf ihr neues germanisches Reich, malen sich schon aus, wie schön es bald der Homo teutonicus haben wird - frei, national, großdeutsch und an der Spitze Europas: Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt. Sie wollen ungetrübt ihre Wiedergeburt feiern, und großherzig, wie sie sind, wollen sie auch, daß die anderen Völker sich mit ihnen freuen und als Zaungäste an ihrem Glück teilhaben. Deshalb erklären sie jeden Tag, daß sie keinem Nachbarn weh tun werden, daß sie die feste Absicht haben, brav zu bleiben. Deutschland - plötzlich ein Märchenland, von lauter gutmütigen, ehrlichen, selbstlosen Menschen bewohnt und regiert, ein Land ohne Bösewichte und Schufte, ohne Revanchisten, Rassisten, Nationalisten und Faschisten alter oder neuer Prägung, das reinste Unschuldsland.

Mögen viele Menschen an diese zukünftige Idylle glauben, ich tue es nicht. Ich bin zu alt und zu erfahren, um an ein solches Märchen zu glauben, trage zuviel mediterranes Licht in meinen Augen, um zu übersehen, was in dieser nebelhaften, trüben, geheimnisvollen, unheimlichen und undurchsichtigen Teutonia vorgeht. Ich kenne die Schönheit eurer Wälder, eurer alten Städte, eurer Landschaft und eurer Flüsse, schätze auch einen Teil eurer Kultur und viele Eigenschaften, die ihr besitzt; aber ich kenne auch die dunklen Leidenschaften, die ihr in der Tiefe eurer Seele mitschleppt; ich weiß, daß ihr harmlos sein könnt, ich habe euch genug zugeschaut bei eurem Karnevalstreiben oder bei euren Wochenendausflügen, wenn ihr wie kleine Kinder ganz gemütlich irgendwo eure Kaffee-und-Kuchen-Runde degoutiert, oder auch an Weihnachten, wenn ihr eure Tannenbäume aufstellt und ganz rührend eure „Heilige Nacht„ singt. Aber ich kenne auch die Stunden, in denen ihr plötzlich die reglementierte, befohlene Eintracht und Eintönigkeit eures Alltags verlaßt, um über andere Völker wie eine wilde Meute herzufallen. Ich kenne eure Geschichte und eure Taten, ich habe sie schon als Kind aus nächster Nähe erlebt, und entsprechend bin ich auf der Hut, ich und andere Leute auch, damit diesmal die neue pangermanische Flut uns nicht ganz unvorbereitet trifft.

Es muß allerdings nicht so kommen, wie es einmal war. Das Vierte Reich wird kein mechanisches Abbild weder des Dritten noch der vorigen beiden sein, sondern eine bunte Mischung aus alledem. Es wird zugleich ein Bruch mit der Vergangenheit und eine Fortsetzung von ihr sein. In der Geschichte gibt es keine absolute Wiederholung des Gestrigen, genausowenig wie einen absoluten Neuanfang. Sie operiert immer auf eine vermittelnde Weise zwi schen Altem und Neuem, und in dieser Hinsicht gibt es nichts Absurderes als Kohls Wort über die Gnade der späten Geburt. Genauso unhaltbar ist die apologetische, schmeichelnde Behauptung Brandts über die Harmlosigkeit der deutschen Jugend in seiner chauvinistischen Rede vom Dezember 1989 in Berlin. Diese voreiligen Absolutionsbekundungen sind nichts anderes als Selbstbetrug und unanständige, unverantwortliche Scharlatanerie. Den Deutschen zu unterstellen, sie beabsichtigten aus dem Vierten Reich eine getreue Ausfertigung des Dritten zu machen, wäre unfair; sie als unschuldige Engel hochzustilisieren ist töricht.

Ich will versuchen, auf eine synoptische Weise die Hauptzüge zu skizzieren, die das Vierte Reich womöglich enthalten wird:

• Im Gegensatz zum Dritten Reich wird sich das neue deutsche Reich nicht auf Gewalt und Terror stützen;

• seine Grundlage wird die wirtschaftliche Macht sein und all das, was mit dieser Kategorie unmittelbar oder mittelbar zusammenhängt: Leistung, Technologie, Wissenschaft, Organisation, Expansion nach außen, politische Stabilität, gesellschaftliche Kohärenz und „sozialer Frieden„;

• die ideologische Grundlage wird nicht die nationalsozialistische, sondern die spätkapitalistische sein; auch die Blut-und-Boden-Mystik wird keine nennenswerte Rolle mehr spielen, schon deshalb nicht, weil der Industrialisierungsprozeß die Bauernklasse an den Rand gedrängt hat. Lediglich die Neofaschisten und Reste der CSU werden für eine Renationalisierung der Agrarpolitik plädieren und das Heiligtum der teutonischen Scholle pflegen;

• das Vierte Reich wird nicht totalitär verwaltet wie das Dritte, sondern durch eine halbautoritäre, kontrollierte und bespitzelte Pseudo-Demokratie. Die Losungsworte werden Freiheit, Rechtsstaat und Selbstbestimmung sein, keineswegs „ein Volk, ein Reich, ein Führer„. Es wird keine von oben befohlene und organisierte Gleichschaltung geben, weil ein breiter Konsens in den Hauptfragen sie überflüssig machen wird;

• zu seinem Selbstverständnis wird die fixe Idee gehören, daß Deutschland ein Sonderschicksal zu erfüllen hat. Dieses missionarische Sendungsbewußtsein, das aus der Zeit des Ersten Reichs stammt, lebt unvermindert im Unterbewußtsein eines großen Teils der heutigen Deutschen weiter und wird als moralische Rechtfertigung benutzt werden, um die anderen Völker ohne jeden Skrupel auszubeuten und zu unterdrücken;

• das Vierte Reich wird ein neuer Versuch sein, die Erfahrung der vorausgegangenen, gescheiterten Reiche aus dem Gedächtnis zu tilgen und die deutsche Geschichte mit neuem Glanz zu schmücken. Aufgrund dieses noch immer unerfüllten völkischgeschichtlichen Legitimations- und Kompensationsbedürfnisses ist das kommende Reich prädestiniert, die angestauten Ressentiments früherer Epochen mitzuschleppen. Das wird seine revanchistische Komponente bilden;

• es wird sich als ein Reich im Dienste der germanischen Vorherrschaft in Europa gestalten, dessen ideologischer Hintergrund eine Mischung aus instrumenteller Vernunft, militaristischer Macht- und Geldgier und rassischer Pathologie sein wird;

• es ist einleuchtend, daß dieser nie gesättigte Drang nach absoluter Herrschaft keinen Raum für Toleranz oder Relativierung zulassen wird; entsprechend wird das Vierte Reich prinzipiell dazu tendieren, alles, was sich seinen Zielsetzungen in den Weg stellt, rücksichtslos zu bekämpfen und zu unterdrücken, wenn es geht, durch politische Manipulation, wenn nötig, durch offene Repression;

• die innere Dynamik wie der äußere Expansionskurs des kommenden Reiches werden in ihrem Kern regressiver Natur sein, ein „déjà-vu„, die Wiederholung eines schon mehrere Male aufgeführten deutschen Trauerspiels oder, wie Musil sagen würde: „Und wenn man bloß ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen.„(3)

So ungefähr werden sich die Dinge abspielen.

Was sich ankündigt, ist im Grunde Trauerarbeit, Selbstbestrafung, zornige Sehnsucht nach besseren Tagen, irrationales Geltungsbedürfnis, Größenwahn. Der Drang, alles zu beherrschen und unbedingt beweisen zu wollen, daß man der Stärkste und Begabteste ist, weist auf einen tief gestörten Zustand der deutschen Psyche hin, auf ein im Laufe der letzten Jahrzehnte nur in Ansätzen überwundenes Syndrom. Dieser Macht- und Herrschaftsrausch, der die Deutschen wieder gepackt hat, ist nicht nur der Ausdruck ihrer enormen Leistungs- und Durchsetzungskraft; er ist vor allem und zugleich die schmerzvolle Weiterwirkung einer von alters her stammenden und noch nicht geheilten Wunde. Sie brauchen neue Bewährungs- und Legitimationsbeweise, weil sie sich mit sich selbst nicht versöhnt haben, sie wollen ihre stille Wut mit einer neuen Ära germanischer Trophäen und Triumphe abreagieren.

Wir sehen, daß das, was wir zusammenfassend antizipatorisch das Vierte Reich nennen, letzten Endes eine psychische Angelegenheit ist und die angestrebte Herrschaft über Europa ein innerer Prozeß. Die konkreten Strukturen, Institutionen und Dimensionen, die im Zuge der Heranbildung des Vierten Reiches entstehen werden, werden nur die Objektivierung des subjektiven Zustandes sein.

Das Vierte Reich wird ein neuer Zyklus germanischen Machtrauschs und germanischer Zucht und Ordnung sein, eine Entladung angestauter Rachegelüste und unüberwundener Minderwertigkeitskomplexe, ein neuer Höhepunkt der schlimmsten Traditionen dieses Volkes, mit den entsprechend schlechten Manieren, die viele Deutsche, trotz ihrer so oft gepriesenen Kultur, beibehalten haben. Es wird daher auch nicht die Komik fehlen, die unvermeidliche Komik des deutschen Michels als neuer Herrscher.

Im Vierten Reich wird es auch Gegenkräfte geben, genau wie in den vorausgegangenen. Sie werden aber kaum Gehör finden und in freiwilliger oder unfreiwilliger Emigration leben, während draußen die Banausen der Nation ihren Hurra-Patriotismus bis zum Überdruß vorexerzieren werden. Wenn schon heute die Massenmedien fast ausschließlich über die BRD, die DDR und die deutsche Einheit berichten, kann man sich vorstellen, wie es aussehen wird, wenn das Reich gemachte Sache ist. Deutschland wird geistig und politisch wieder in einen abgrundtiefen Provinzialismus sinken. Deutschland als einziges Thema, der Rest der Welt - nicht der Rede wert. Die Deutschen, noch einmal die Deutschen und immer wieder die Deutschen: Das ist die Perspektive. Diese schon jetzt mit den Händen greifbare Teutomaniewelle widerlegt all jene, die behaupten, die Deutschen denken jetzt nur europäisch. Nein, sie denken nur deutsch, die Deutschen, sie kennen nur sich selbst und ihren bornierten und kleinkarierten nationalen Narzißmus und ihre sentimentalen völkischen Ekstasen. Deutschland, Deutschland über alles, das wird schon praktiziert, von den Medien, den Politikern und den Massen, die wie hypnotisiert diese Inzucht mitmachen und bejubeln.

Wann werden sie sich von ihrer Wichtigtuerei befreien, die Deutschen, von ihrem Bierernst und ihrem lächerlichen Pathos? Wann werden sie lernen, über sich selbst zu lachen und zu spotten? Wo ist ein teutonischer Jonathan Swift, ein Cervantes, ein Voltaire, der seinen Landsleuten durch Ironie und Humor beibringt, sich nicht so ernst zu nehmen und von ihrer obsessiven Nabelschau abzulassen?

Auch in bezug auf die Gestaltung des zukünftigen Vierten Reiches muß man mit dem tiefsitzenden deutschen Hang zur Maßlosigkeit rechnen, was an sich schon eine Festlegung seiner genauen Entwicklung ausschließt. Sie haben sich tatsächlich immer nach dem Grenzenlosen und Unendlichen gesehnt, die Deutschen, nicht nur die Philosophen und Dichter, auch die Politiker und Staatslenker, und diese Konstante ihrer seelischen Veranlagung und ihrer Geschichte wird auch ein ausschlaggebendes Element ihres neuen Reiches bilden. Um die Jahrhundertwende und danach wurde dieser Zug als eine Entsprechung der „faustischen Seele„ gedeutet, ein Begriff, der vor allem als gleichbedeutend für den Zauber des Uneingeschränkten und Uferlosen galt. Der populärste Vertreter der „faustischen Kultur„ war Oswald Spengler, dessen einzige

Weisheit darin bestand, Griechenland nie verstanden zu haben und die griechischen Eigenschaften - Maß, Luzidität, Ironie, Klarheit, Sinn für Harmonie - als ein Manko herabzusetzen. Für diesen konfusen und reaktionär-teutonischen Kopf war der germanische Trieb nach Ausdehnung die höchste aller Tugenden, eine Ansicht, die viele Deutsche teilten und noch teilen.

Während die alten Griechen das Leben als unmittelbare Fülle begriffen, haben die Deutschen es eher als Vakuum empfunden, waren sie mit der Gegenwart selten zufrieden. Ihr ganzer historischer Werdegang ist nur ein sich immer erneuernder Versuch, ihre Unfähigkeit, mit dem Bestehenden auszukommen, zu überwinden, sei es durch Kreativität und Leistung oder durch Gewalt und Krieg. Die Erfüllung, die sich für die Griechen (und Lateiner) grundsätzlich im Bereich des Hier und Jetzt abspielt, ist für die Deutschen immer ein Telos gewesen, eschatologische Sehnsucht, nur daß die Deutschen, die das Christentum nie verstanden haben, diese Transzendenz in der Geschichte selbst, nicht in einem hypothetischen Jenseits erreichen wollen. Für die Deutschen ist die Gegenwart grundsätzlich das Unvollkommene, das Heil liegt für sie immer irgendwo in der Zukunft, in einer „vita nuova„. Das ist der Schlüssel ihrer Unrast und ihrer Unzufriedenheit. Das ist für uns Ausländer das Unheimliche: daß man nie weiß, wo, wie und wann die germanischen Aufmärsche und Wanderungen nach dem ersehnten Infinitum enden werden. Wenn sie sich einmal in Bewegung setzen, kennen sie keinen Halt, marschieren so lange, bis sie irgendwann in einen Abgrund stürzen.

Die „entsetzliche Lücke„, die der junge Werther in seiner Brust fühlte, war nicht zeitbedingte Romantik, sondern das alte germanische Leiden an unstillbarer Erfüllung. Aber auch was Mephisto über Faust sagt, trifft diese ewige und nie gestillte Suche nach dem begehrten Glück: „Ihn sättigt keine Lust, ihm genügt kein Glück. So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten.„(4) Oder bei Hölderlin: „Wohl dem, der das Gefühl seines Mangels verstehet!„(5) Oder meint man, daß der von der deutschen Philosophie gestiftete Begriff des Absoluten ein Zufall ist? Es gibt keine Zufälle solcher Art. Als einen „Ungrund„ begreift Jacob Böhme - der die ganze negative Dialektik Hegels vorwegnimmt - das Prinzip des Lebens, als ein Nichts, aus dem später eine Seinskulmination wird. Hölderlin wiederum: „Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles.„(6) Die Deutschen sind eben ein metaphysisches Volk, und diese metaphysische Dimension ihrer Seele wird tatsächlich auch zur Dynamik des kommenden Reiches gehören. Von dem Drang nach dem Absoluten getrieben, werden sie sich nicht mit der Wiedervereinigung begnügen; sie werden nach mehr, nach viel mehr verlangen, sie werden ganz tief in die Geschicke des Kontinents eindringen wollen.

Ich höre schon die aufgebrachte Replik der Allwissenden, Realisten und Superklugen der Nation: Was hat Metaphysik mit Politik und Geschichte zu tun, mit Expansion und Tatendrang? Darauf antworte ich: Sie ist ihre wahre Grundlage, auch wenn man darüber in den Gazetten und Parlamentsdebatten nichts hört. Politik ist bei den Deutschen immer Metapolitik und Metaphysik gewesen, und wer dies aus lauter Besserwisserei nicht erkennen will, der wird vergebens die wahre Motorik des deutschen öffentlichen und privaten Lebens verstehen wollen. Metaphysik in ihrer wortwörtlichen Bedeutung, als etwas, das jenseits der sichtbaren Physis oder Realität liegt.

Freilich - in den Händen der Politikaster und Deutschtümler wird die deutsche metaphysische Veranlagung zur billigen national-völkischen Selbstherrlichkeit, während der Begriff des Absoluten zur Vergottung der eigenen Rasse entartet. Auf jeden Fall geht es bei den Deutschen immer um absolute Ziele, sei es um den „absoluten Krieg„ - wie bei Clausewitz(7) - oder die absolute Herrschaft der Herrenrasse über die Welt, wie bei den Nazis. Als die deutsche klassische Philosophie über das Absolute zu grübeln begann, war das Erste Reich ein Haufen Trümmer; deshalb blieb es eine rein spekulative Angelegenheit. Sobald aber die Deutschen dank der preußischen Kriegsmaschinerie mächtig wurden, versuchten sie, ihre hochtrabenden Träume über das Unbegreifliche, das Unendliche, das Unbedingte, das Ewige, das Reine, das Unnennbare und das Absolute auch in physischer Gestalt zu verwirklichen. Und dies wird auch bei dem entstehenden Vierten Reich der Fall sein.

Sie sind wieder in Bewegung, die Deutschen, von neuem auf der Suche nach den letzten Grenzen, den letzten Geheimnissen, entschlossen, ihre niemals erfüllte Sehnsucht nach dem Absoluten in irdische, greifbare Herrschaft umzusetzen. Sie werden sich mit der Wiederherstellung ihrer nationalen Einheitlichkeit nicht zufriedengeben. Die Deutschen sind keine Nationalisten in herkömmlichem Sinn, auch hier gehen sie eigene Wege. Sie wollen nicht nur eine Nation sein, sie wollen darüber hinaus wieder eine weltgeschichtliche Rolle spielen, wie sie es in der Vergangenheit oft taten.

Man spricht viel von der deutschen Nation. Tatsache aber ist, daß im Gegensatz zu den großen, klassischen Nationalstaaten wie Spanien, Frankreich und England die Nation für die Deutschen nie das Primäre und Allerwichtigste war. In der Geburtszeit der modernen Nationalstaaten stellte Deutschland die Religion über den Staat, das Reich war unfähig, sich als Nation zu konstituieren. Erst durch Bismarck kam endlich die Nation zustande; aber der Nationalstaat Bismarckscher Prägung paßte nicht zu den uferlosen Expansionsgelüsten seiner Landsleute, denen der Krieg und die Eroberung von „Lebensraum„ wichtiger waren als die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Nationalstaates mit festen Grenzen, festen Verpflichtungen und festen Verantwortungen. Das Dritte Reich war nicht als Nation gedacht, sondern als Weltgebilde. Ein vereinigtes Deutschland wird sich auch nicht begnügen, ein Nationalstaat zu bleiben. Denn die Idee eines Nationalstaates erfordert paradoxerweise einen Sinn für Maß und Selbsterhaltungstrieb, den die Deutschen - als Volk betrachtet - nur bis zu einem gewissen Grad besitzen. Goethe und Schiller wußten, was sie in ihrem Musen-Almanach sagten: „Zur Nation Euch zu bilden, / Ihr hofft es, Deutsche, vergebens.„ Das Gefährlichste ist ja nicht Deutschland als Nation, vielmehr die Unfähigkeit der Deutschen, die Idee eines Nationalstaates mit festen und endgültigen Dimensionen zu begreifen. Eine Nation zu sein ist für sie zuwenig, deshalb werden sie immer nach einem Reich trachten. Daß die Deutschen bisher nicht gelernt haben, einfach und schlicht eine Nation zu sein, bedeutet ein tiefes Unglück für sie selbst und für Europa, denn dieses Versäumnis hat sie daran gehindert, verantwortungsvoll neben den anderen Staaten zu leben.

Keines der vorangegangenen deutschen Reiche endete gut, auch das Vierte Reich hat langfristig keine Chance auf ein Happy-End, aus dem einfachen Grund, daß alles, was maßlos und irrational ist, unweigerlich scheitern muß. Die Geschichte lehrt uns, je ausgedehnter ein Reich ist, desto schwieriger ist es zu regieren. So verhielt es sich mit dem von Alexander errichteten hellenischen Großreich, mit dem römischen Imperium, mit Byzanz, mit dem Osmanischen Reich, mit dem spanischen Imperio im 16. und 17. Jahrhundert, mit dem napoleonischen Empire oder dem englischen Commonwealth. Auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation endete in Trümmern, der Niedergang des Zweiten und Dritten Reichs war noch fulminanter und abrupter. Der Versuch, durch die expansive Kraft eines neuen Reiches Europa den germanischen Willen aufzunötigen, kann nur zur Zusammenhanglosigkeit, zu Revolten und zu Zwietracht zwischen dem Zentrum und der Peripherie führen. Europa ist zu mannigfaltig und kontradiktorisch, um sich jemals endgültig gleichschalten zu lassen.

Wenn ich diese alten Geschichten ausgrabe, dann nicht aus Lust an Archäologie, sondern weil sie bittere Aktualität geworden sind. Die Deutschen wollen nichts über die Vergangenheit hören, aber diese von ihnen verdrängte oder relativierte Vergangenheit steckt noch ganz tief in ihrer Gegenwart und wird auch im Vierten Reich präsent sein. Es gibt genügend Dunkelmänner, die bereit sind, vieles von dem, was war, zu wiederholen, das Volk noch einmal in die Irre zu führen, es mit pangermanischer Rhetorik zu verführen und es in neues Unheil zu treiben. Der Geist der Fichteschen „Reden an die deutsche Nation„ ist wieder „in„, allerdings mit dem Unterschied, daß er sich jetzt nicht mit der erhabenen Sprache der Philosophie meldet, sondern mit der flachen und standardisierten Diktion der Verwaltung. Wenn ich sehe, daß der historische Wendepunkt, an dem sich die Deutschen befinden, von mittelmäßigen und provinziellen Epigonen bestimmt wird, die nichts anderes im Kopf haben als die Wiederherstellung des alten deutschen Größenwahns, frage ich mich, was die Deutschen in den letzten Jahrzehnten außer Geldverdienen und über die Autobahnen zu rasen eigentlich gelernt haben. Und was mir noch unverständlicher bleibt: daß alle nationalistischen und großdeutschen Platitüden, die die Machthaber der Nation verbreiten, von ihren Landsleuten fast unisono mit Zustimmung, ja mit Begeisterung aufgenommen werden, als hätten sie ihren elementarsten kritischen Sinn verloren. Denn man soll sich keine Illusionen über die deutschen Politiker machen und genausowenig über die Massen, die sie unterstützen. Was einmal Carl von Ossietzky in diesem Zusammenhang sagte, gilt im wesentlichen auch heute: „Deutschland ist das einzige Land, wo Mangel an politischer Befähigung den Weg zu den höchsten Ehrenämtern sichert. So, wie gewisse Naturvölker Schwachsinnigen göttliche Ehren entgegenbringen, so verehren die Deutschen den politischen Schwachsinn und holen sich von dorther ihre Führer.„(8) Schon Heinrich Heine klagte, daß das „offizielle Deutschland, das verschimmelte Philisterland, keinen Goliath, keinen einzigen großen Mann hervorgebracht hat„.(9)

Warum folgen die meisten Deutschen so bereitwillig ihren Führern, warum lassen sie sich so leicht vor deren Karren spannen, vor allem, wenn es um patriotische Parolen geht? Der französische katholische Schriftsteller Robert d'Harcourt liefert uns die Antwort: „Er (der Deutsche) verkörpert innerhalb der anthropologischen Kategorie das kollektive Tier. Er hat das Bedürfnis, sich zu integrieren. Er läßt sich einspannen, ohne das Gefühl zu haben, daß man ihm Gewalt antut. Er empfindet eine innere Wollust mitzumachen. Der Reflex des Widerspruchs und der Kritik, der bei uns so spontan ist, funktioniert bei ihm nicht.„(10)


1 Max Horkheimer, „Lehren aus dem Faschismus„, in: „Gesellschaft im Übergang„, S. 55, Frankfurt 1972

2 Georges Sorel, „Reflexions sur la violence„, S. 67, Paris 1950

3 Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften„, a.a.O., l. Band, S. 132

4 Goethe, „Faust„, Zweiter Teil, V Akt

5 Hölderlin, „Hyperion„, in: „Werke in zwei Bänden„, 2. Band, S. 61, Stuttgart 1970

6 Ebd., S. 31

7 Clausewitz, „Vom Kriege„, Achtes Buch, zweites Kap., „Absoluter und wirklicher Krieg„, S. 539 und folg., Dresden 1901

8 Carl von Ossietzky, „Deutschland ist...„, in: Die Weltbühne, 14. April 1928

9 Heinrich Heine, „Religion und Philosophie in Deutschland„, in: „Sämtliche Schriften„, a. a. 0., 3. Band, S. 508

10 Zitiert nach: Alain Fleury, „L'image de l'Allemagne dans le Journal La Croix„ (1918-1940), in: J. M. Valentin/J. Barciéty/A. Guth, „La France et l'Allemagne entre les deux Guerres Mondiales„, S. 186, Nancy 1987


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Die Alternative: die Entgermanisierung Deutschlands


„Der Befreiungskrieg gegen die nationalistische Zerstörung von Volk und Vaterland ist noch nicht beendet.„
Alexander Mitscherlich, „Gesammelte Schriften„ Bd. IV


Das Problem des neueren Deutschlands war immer dasselbe: seine Unfähigkeit, besonnen und verantwortungsvoll mit der Macht umzugehen, sowohl innen- wie auch außenpolitisch. Deutschland ist wieder mächtig, und es wird noch mächtiger werden, deshalb ist die Frage unausweichlich: Wird es wieder der Versuchung unterliegen, seine neu erworbene Machtkonzentration zu mißbrauchen?

Ich behaupte nicht, daß Deutschland prädestiniert ist, das gleiche zu tun wie in der Vergangenheit; ich glaube an keinen Determinismus, ich spreche den Deutschen keineswegs die Befähigung ab, aus ihren Irrtümern und Fehlentwicklungen zu lernen. Aber genausowenig kann ich mich mit jenen Stimmen identifizieren, die dogmatisch und lapidar die Möglichkeit einer deutschen Rückfälligkeit ausschließen. Diese Art von unkritischem und selbstgefälligem Berufsoptimismus halte ich für genauso gefährlich wie den offenen Revanchismus der großdeutschen Machos, die bewußt auf die Errichtung eines starken und aggressiven neuen Reichs hinsteuern. Ich halte auf jeden Fall jeden Deutschen, der salbungsvoll und stereotyp behauptet, Deutschland sei ein harmloses Land geworden, für einen blanken Zyniker oder für hoffnungslos naiv und blind.

Die bequeme Vorstellung, daß die Kontroll- und Überwachungsfunktion, die die Siegermächte über die BRD und die DDR ausübten, Europa für immer vor einer eventuellen neuen deutschen Gefahr schützte, ist seit dem Herbst 1989 wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Wie sich die Deutschen in Zukunft verhalten, wird im wesentlichen von ihnen selbst abhängen, nicht mehr von der Fremdbestimmung durch andere Nationen. Oder um eine bekannte Redewendung Sartres zu übernehmen: Sie sind jetzt verdammt, frei zu sein. Keine leichte Aufgabe für ein Volk, das bisher vorwiegend den Gehorsam praktiziert hat.

Das deutsche Problem - und es besteht weiter, das deutsche Problem - ist nur durch eine tiefgreifende weltanschauliche, politische, gesellschaftliche, menschliche und zwischenmenschliche Umwälzung der deutschen Verhältnisse selbst zu lösen, und es kann sich dabei nur um eine Umwälzung handeln, die aufgrund ihrer universalen Zielrichtung das Syndrom des Nationalismus und des „Sonderschicksals„ für immer aus der deutschen Realität und aus der deutschen Geschichte verbannt. Das ist die wirkliche Revolution, die die Deutschen zu leisten haben: die restlose Entgermanisierung Deutschlands als unabdingbare Voraussetzung für seine Eingliederung in die Völkergemeinschaft als ein Land neben anderen. Diese Revolution ist die einzig tragfähige und zukunftversprechende Alternative zu der von vielen Deutschen angestrebten Germanisierung Europas. Solange die Deutschen aus eigener Kraft und aus eigener Einsicht diese radikale Umwälzung ihrer inneren Verhältnisse nicht zustande bringen, werden sie eine Gefahr für andere Nationen bleiben, einerlei, ob sie den nationalen Weg einschlagen oder innerhalb eines supranationalen Gebildes operieren. Entscheidend ist ihre Gesinnung, nicht die äußere, rein formale Bindung an bestimmte internationale Organisationen und Institutionen.

Um den Weg zu sich selbst zu finden und sich endlich aus ihrer Selbstentfremdung zu befreien, müssen sich die Deutschen unbedingt von ihrem fetischistischen Abhängigkeitsverhältnis zur Vaterländerei lösen, sich im klaren sein, daß das sogenannte vaterländische Ideal „ja bloße Dekoration für die Herren (ist), die das nächste Schlachten vorbereiten„, wie Hermann Hesse einmal sagte.(1) Patriotismus bzw. Nationalismus ist letzten Endes ein Notausgang für Spießer, Philister und Banausen, die blind für andere, sinnvollere Werte sind, ein Ersatz für verfehlte Existenzen und angestaute Aggressionen. Schollenkleberei, gleich welcher Art, verhält sich immer abgrenzend gegenüber anderen Völkern und ethnischen Minderheiten; ihr Anspruch auf die exklusive Identität des Eigenen beinhaltet schon a priori die Exklusion der Nicht-Dazugehörenden, ist politisches Neandertalertum. Menschen sind das einzig Wichtige, nicht Rassen, Nationalitäten, Fahnen, Hymnen und sonstige künstliche Symbole und Attrappen. Ein nüchterner und weitblickender Engländer - Keynes - drückte es so aus: „Nur der einzelne Mensch ist gut; die Nationen sind ehrlos, grausam und falsch.„(2)

Es geht darum, das nationale Denken ein für allemal abzuschaffen und sich der Tradition des Humanismus und der Friedfertigkeit zu öffnen. Diese Tradition hat in Deutschland nie gefehlt, Helga Grebing hat sie zusammenfassend als die „weiße Linie„ der deutschen Geschichte als Gegenpol zu ihrer „schwarzen Linie„ bezeichnet.(3) Die Deutschen brauchen tatsächlich die Gorbatschowsche Anregung zur Errichtung eines „europäischen Hauses„ nicht, um zu wissen, was grenzüberschreitendes, kooperationsoriendertes Denken ist. Gorbatschows Vision ist ja lediglich eine semantische Neuprägung und eine Aktualisierung der von Kant zum Zwecke des „ewigen Friedens„ schon klar konzipierten „förderativen Vereinigung„ oder „Federalism freier Staaten„.(4) Und es war ein anderer Deutscher - Friedrich Schlegel -, der den Begriff „europäischer Patriotismus„ prägte und von dem „Kosmopolitismus der europäischen Kultur„ ausging. Aber ich brauchte eigentlich keine konkreten Namen zu erwähnen: Überhaupt waren die besten und größten Deutschen immer weltoffen eingestellt, hatten nichts übrig für nationalistische Engstirnigkeit und teutonische Sonderwege, und mit ihnen alle ihre Landsleute, die ihrem Beispiel folgten. Es ist also nicht so, daß die Aufklärung an Deutschland vorbeigerast wäre und sich die heutigen und kommenden Deutschen auf keinen soliden weltanschaulichen Hintergrund stützen könnten, um gute Europäer bzw. Weltbürger zu sein oder zu werden. Worum geht es denn eigentlich? Es geht um eine Gewissensentscheidung, um die Entscheidung, ob die Deutschen die moralische Kraft haben werden, ihre verhängnisvolle nationalistische Vergangenheit abzuschütteln und den von Leibniz, Kant, Herder, Goethe, Schiller, Hölderlin und anderen Universaldeutschen gezeichneten Weg der Humanität zu gehen.

Es sieht allerdings im Moment kaum danach aus, fast alles deutet im Gegenteil darauf hin, daß die Deutschen mehr Wert auf die Entfaltung ihrer eigenen Dynamik legen als auf den Aufbau einer gesamteuropäischen Ordnung. Für die meisten von ihnen scheint ihre kostbare Identität wichtiger zu sein als die Verwirklichung supranationaler, völkerverbindender Zielsetzungen; wäre das nicht so, dann wären die nationalen Parolen und die nationalen Fahnen längst von der Oberfläche verschwunden, ja, sie wären nicht einmal aufgetaucht. Martin Winter: „Wer es wirklich ernst meint mit der europäischen Einigung, muß die Nationalstaaten auf Null bringen. Der Aufbau eines neuen deutschen Nationalstaates würde dem zuwiderlaufen. Deshalb sind die Bekenntnisse der Vereiniger zum europäischen Prozeß im besten Falle widersprüchlich, im schlimmsten die blanke Heuchelei.„(5) Es mehren sich die Anzeichen, daß die Deutschen wieder im Begriff sind, sich für den vulgärsten Teil ihrer Gesinnung zu entscheiden und ihre fruchtbarsten und edlen Entfaltungsmöglichkeiten auf einem toten Gleis abstellen zu wollen.

Nicht nur die Deutschen, auch andere europäische Länder müssen viel Ballast abwerfen und aufgeschlossener für neue Ideen werden, an erster Stelle Westeuropa und seine EG. Es geht tatsächlich nicht nur um eine Entnationalisierung Deutschlands, sondern um die Herbeiführung einer europäischen Ordnung, welche die Beherrschung und Ausbeutung der schwächeren Nationen durch die stärkeren unmöglich macht. Um dieses Ziel zu erreichen, genügt der heute in der EG waltende bürgerlich-merkantile Kosmopolitismus nicht. Im Vergleich zum Nationalismus bedeutet der Kosmopolitismus liberaler Prägung einen ungeheuren geschichtlichen Fortschritt, aber weil seine Auffassung von friedlichem Zusammenleben und von Kooperation rein mechanisch bleibt und vor allem die soziale Frage außer acht läßt, erfüllt er auch nicht die Voraussetzungen, um in Europa eine rationale, gerechte und sinnvolle Ordnung zu gewährleisten. Wenn in der EG neben ihrer bürokratischparasitären organisatorischen Infrastruktur etwas fragwürdig ist, dann gerade ihr kapitalistischer Geist. Nicht nur, aber vor allem die Deutschen werden schon dafür sorgen, daß sich daran nichts ändert, daß es in Europa „nie wieder Sozialismus„ gibt. Die Beibehaltung des europäischen Kapitalismus bedeutet nicht nur die Fortsetzung der Ausbeutung der arbeitenden Klasse durch das Kapital innerhalb eines jeden Landes, sondern auch die Hegemonie der wirtschaftlich führenden Länder über die anderen.

Die Atomistik der Nationalstaaten ist keine Lösung, aber eine Synthese à la EG ist genauso kurzsichtig, eben weil sie die Machtverhältnisse zwischen ihren Mitgliedern unberücksichtigt läßt. Man spricht laufend von der Gleichberechtigung aller Mitgliedsstaaten, aber wir sehen dann, daß die Entscheidungen von den Großen herbeigeführt werden, während den Kleinen nichts anderes übrigbleibt, als zähneknirschend im nachhinein zuzustimmen. Große supranationale Gebilde sind nur legitim und sinnvoll, wenn sie nicht zu einer Bevormundung und Unterdrückung der schwächeren Glieder führen. Ein gesamteuropäischer Staatenbund oder Bundesstaat, der auf der Höhe dieses Namens steht, setzt die Beseitigung jeder Form von Macht- und Großmachtpolitik zwischen den verschiedenen Mitgliedern und die Schaffung einer aus gegenseitiger Solidarität und unbedingter Gleichberechtigung bestehenden Ordnung voraus. Die heute waltende Art von Europäertum führt keineswegs zur freien Entfaltung der jeweiligen Völker, sondern zu einer von den stärkeren diktierten Globalpolitik. Es sind in der Tat die Vorstellungen und Interessen der dominierenden Länder, die sich durchsetzen, womit sich dann der Supranationalismus in einen De-facto-Kolonialismus verwandelt. Um es ganz zugespitzt zu sagen: Die angebliche Europäisierung des Kontinents endet schließlich mit dem Tod der vielgepriesenen Pluralität der Kulturen und Lebensweisen und mit der Errichtung eines von den führenden Völkern beherrschten technokratisch-ökonomischen Molochs.

Die nationale Atomistik führte in der Vergangenheit zu Entfremdung und zu unzähligen Kriegen unter den einzelnen Staaten, aber die Einheit Europas, wie sie sich schon abzeichnet, wird eine von deutscher Dominanz stark geprägte Pseudo-Totalität werden, ohne den konkreten Inhalt und die ausgleichende, bereichernde Gegenkraft der Mannigfaltigkeit. Die Freiheit wird damit weitgehend eingeschränkt, oder es wird eine Freiheit werden, wie Hegel sie sich vorstellte: das Primat des abstrakten Allgemeinen über die einzelnen Individuen und Völker. Selbst über Jahrhunderte vom Staat gedrillt, hassen die Deutschen instinktiv alles Selbständige und Spontane, und sie werden entsprechend versuchen, gegen jede Form der Abweichung vorzugehen, werden danach trachten, Europa zu normieren, zu kontrollieren und zu nivellieren und aus ihm ein getreues Bild ihrer eigenen Res publica zu machen.

Schon heute ist die EG der führende Wirtschaftsblock der Welt, nach ihrer Erweiterung auf Osteuropa wird sie das größte kapitalistische Imperium, das die Weltgeschichte je gesehen hat, mit allen Ausbeutungsmöglichkeiten, die sich aus einer solchen Machtfülle ergeben werden. Europa wird sich zu einer imperialistischen Supermacht entwickeln und die anderen, ärmeren Regionen des Globus bedenkenlos ausbeuten, wie es dies übrigens heute schon tut. Das ist die sich abzeichnende Marschroute, mit dem teutonischen Koloß auf der Kommandobrücke. Die Idee Europas ist schon jetzt überhaupt zu eng geworden, der oft zelebrierte Eurozentrismus bedeutet eine neue Form des Provinzialismus, auf jeden Fall einen Rückschritt gegenüber der von der Antike konzipierten Einheit des menschlichen Geschlechts.

Die Vision eines einheitlichen Abendlandes ist eine alte, „klassische„ Vorstellung, die, ausgehend vom hellenisch-römischen Universalismus, durch die Vermittlung des Christentums und die Universalmonarchie des Mittelalters in die Neuzeit eingeht. Der ganze völkerrechtliche Entwurf der Moderne - von Francisco de Vitoria über Grotius bis zu Vico und Adam Smith - zielt auf das Zustandekommen einer Staatengemeinschaft hin, die durch eine enge Kooperation und unter Beachtung von bestimmten und allgemein anerkannten ethischen und juristischen Normen die Errichtung einer friedlichen und dauerhaften Weltordnung möglich macht. Hinter diesem Ideal steht das Erbe der klassischen Humanitas, die in festen, zeitlosen, ewig geltenden Kategorien denkt. Die Deutschen aber verabscheuen alles Fertige und Endgültige, sie sind das dynamische Volk schlechthin, deshalb wenig geneigt, sich mit abgeschlossenen Konstruktionen abzufinden, wie Nietzsche oft unterstrichen hat: „Und... so liebt der Deutsche die Wolken und alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als ‚tief‘. Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er ‚entwickelt sich‘.„(6) Es ist entsprechend zu befürchten, daß der tiefsitzende Tatendrang der Deutschen sie dazu treiben wird, aus Europa etwas ganz Neues und Antiklassisches zu machen. Was Golo Mann über die deutsche Nation geschrieben hat, gilt für die deutsche Geschichte als Ganzes: „Wer sich in die Geschichte der deutschen Nation vertieft, der hat leicht den Eindruck eines unruhigen Lebens in Extremen.„(7) Das ist genau das, was die Deutschen vor allem in ein vereinigtes Europa hineinbringen werden: extreme Unruhe. Schon jetzt kreist die Hauptproblematik Europas um Deutschland, und man kann sich vorstellen, was geschehen wird, wenn beide Teile eins sind.

Seltsamerweise treffen die europäischen Probleme vor allem auf das Volk zu, das am wenigsten europäisch gesinnt ist; deshalb ist so wichtig, was sich in Deutschland selbst abspielt, denn wie die Deutschen mit ihrem eigenen Land umgehen, wird sich aufgrund ihrer dominierenden Stellung automatisch auf die anderen Nationen gewaltig auswirken.

Es besteht auf jeden Fall die Gefahr, daß durch das Übergewicht Deutschlands Europa sich als eine Art nachkarolingisches Reich in technokratischem Gewand entwickelt, als eine neue Prägung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Das heutige Westeuropa ist schon im Grunde eine säkularisierte Fassung des alten kaiserlich-päpstlichen Reichs, und man weiß, was die Karolinger, Ottonen, Salier, Hohenstaufen und sonstigen germanischen Geschlechter und Häuser aus diesem übernationalen Reich machten: ein Instrument ihres Herrschaftswahns. Formell erkannten die deutschen Herrscher die Autorität Roms als geistiges Haupt der Christenheit an, aber das einzige Gesetz, an das sie sich hielten, war das Gesetz ihrer militärischen Stärke. Entsprechend setzten sie nach Belieben Päpste ein und ab, fielen laufend über Italien her, drangen nach Osteuropa, plünderten Jerusalem aus und schlugen mit ihren Armeen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Das dauerte so lange, bis das Reich durch die ständigen Kriege, Beute- und Expansionszüge seine ursprüngliche Kraft verlor und der Kaiser nach dem sogenannten Interregnum nur ein Spielball der Fürsten wurde.

Ich erinnere an diese alten Geschichten nur, um jene zu warnen, die sich von einem geeinten Europa das Gelbe vom Ei versprechen, die die EG und ihre Weiterentwicklung als eine Zauberlösung für die Zukunft betrachten. Alles, was groß ist, ist am Ende schlecht, die Kultur und die Zivilisation sind meistens in den kleinen und mittleren Staaten entstanden, die großen Nationen und Nationengruppen haben in der Regel nur Unheil gestiftet und Machtpolitik betrieben.

Die Deutschen werden nicht aufhören. Deutsche zu sein, nur weil sie in bestimmten supranationalen Institutionen und Bündnissen integriert sind. Im Gegensatz zu den engstirnigen Befürwortern eines Nationalismus herkömmlicher Provenienz haben viele schlaue Deutsche längst erkannt, daß durch die Zugehörigkeit zur EG Deutschland besser in der Lage ist und sein wird, sein Wirken auszubreiten, eine Ansicht, die etwa von Hermann J. Abs vertreten wurde: „Wir geben nicht nur nationale Zuständigkeiten auf, wir haben zugleich Teil an einer neuen Souveränität in größeren Dimensionen und mit stärkerer Durchsetzbarkeit.„(8)

Die bloße äußere Eingliederung der Deutschen in grenzüberschreitende Makro-Organisationen und -Strukturen bedeutet auf keinen Fall das Ende großdeutscher Machtpolitik, sie kann sogar zum Ausgangspunkt eines neuen, auf breiterer Basis operierenden Zyklus pangermanischen Expansionismus werden. Welche spezifische Form der Machtpolitik die Deutschen wählen werden, ist in diesem Moment nicht voraussehbar, denn sie hängt unter anderem von der Entwicklung ihrer eigenen Dynamik ab. Aber eines steht schon ziemlich fest: die kommende Auseinandersetzung zwischen jenen Deutschen, die ein Viertes Reich im solipsistisch-atomistischen Sinn bevorzugen, und denen, die Deutschland als führende Macht eines einheitlichen Westeuropas oder ganz Europas begreifen. Oder anders ausgedrückt: Die einen wollen Europa von außen her beherrschen, die anderen von innen her. Die erste Option ist die primitivere, die zweite die raffiniertere, beide versprechen nichts Gutes. Denn weder die eine noch die andere würde die Entgermanisierung herbeiführen, die die Welt und nicht zuletzt die Deutschen selbst brauchen, um sich von ihren größenwahnsinnigen Obsessionen zu befreien. Es gibt mittlerweile viele einsichtige Deutsche, die ähnlich denken, aber noch sind sie in der Minderheit und von dem Lärm der Unbelehrbaren eingeschüchtert und verunsichert.

Wir sehen auf jeden Fall, daß die Lösung der deutschen Frage mehr erfordert als das äußere Einbetten Deutschlands in einen wie auch immer gearteten supranationalen Rahmen. Entgermanisierung bedeutet für mich vor allem einen ethisch-humanen Prozeß, nicht nur einen institutionellen Vorgang, setzt ein tiefgreifendes Umdenken der Deutschen als einzelne und der deutschen Gesellschaft als Ganzes voraus. Was ändert ein europäischer Paß, wenn der Träger ein bornierter Nationalist bleibt und seine teutonische Selbstverliebtheit beibehält?

Ich grabe solche Binsenwahrheiten aus, weil man im Zusammenhang mit diesem Sachverhalt fast immer umgekehrt argumentiert und die Ansicht vertritt, die Entdeutschung der Deutschen werde sich automatisch aus ihrer Integration in Europa ergeben. Diese Optik entsteht aus einer Fetischisierung der Superstrukturen, entspricht einer mechanischen Auffassung von der äußerst komplexen Problematik, die wir hier behandeln. Nun, die Westdeutschen sind seit gut drei Jahrzehnten in der EG integriert, aber ich sehe nicht, daß diese äußere Bindung an Europa zu einer Überwindung des Rassismus, des Faschismus und des Nationaldenkens geführt hat.

Mit der Zugehörigkeit zur jetzigen oder einer erweiterten EG ist die europäische Gesinnung der Deutschen keineswegs schon gesichert. Sie erfordert einen sehr langen und äußerst mühsamen Lernprozeß, und in diesem Sinne müssen wir nichtdeutschen Europäer Geduld aufbringen, auch wenn es schwerfällt.


1 Hermann Hesse, „Der Steppenwolf„, a. a. O., S. 129

2 John Maynard Keynes, „Revision des Friedensvertrags„, a.a.O., S. 201

3 Vgl. Helga Grebing, „Der „deutsche Sonderweg„ in Europa 1806-1945. Eine Kritik„, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1986

4 Kant, „Werke„, XI. Band, S. 208 und folg., Frankfurt 1968

5 Martin Winter, „Die einfachen Antworten sind nicht immer die richtigen„, in: FR, 9. Februar 1990

6 Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse„, S. 164, Stuttgart 1988

7 Golo Mann, „Deutsche Geschichte des XIX. Jahrhunderts„, S. 17, Frankfurt/Wien/Zürich 1958

8 Hermann J. Abs, „Lebensfragen der Wirtschaft„, a.a.O., S. 42


Aus: »Das vierte Reich: Deutschlands später Sieg.« Verlag Rasch und Röhring, Hamburg 1990

   

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