Am 19. Oktober 2005 feierte das Zentrum für
Türkeistudien im NRW-Landtag sein 20jähriges Bestehen.
Zu den Rednern der Jubiläumsveranstaltung gehörten Landtagspräsidentin
Regina van Dinther, Generationenminister Armin Laschet, der l. Bürgermeister
der Stadt Essen Norbert Kleine-Möllhoff sowie für das
ZfT der Vorstandvorsitzende Enno Vocke und der Direktor Faruk Sen.
Dieses Jubiläum soll auch Anlass sein, in der
Zeitschrift für Türkei die 20jährige Tätigkeit
des Instituts Revue passieren zu lassen.
Im Jahr der Gründung des ZfT 1985 lebten bereits
rund 1,4 Millionen Menschen aus der Türkei in der Bundesrepublik,
immerhin ein Anteil von 2,5% an der Gesamtbevölkerung. Damit
waren sie die mit Abstand größte Gruppe nicht-deutscher
Herkunft. Zugleich begann sich ihr Aufenthalt zu verfestigen, und
es zeichnete sich ab, dass ein Großteil der „Arbeitsmigranten“
aus der Türkei und ihre Familien nicht in die Türkei zurückkehren
würden. 60% von ihnen waren bereits seit zehn Jahren oder länger
in Deutschland. Angesichts der großen und dauerhaften Bedeutung
der türkischen Bevölkerung in Deutschland war das Wissen
der deutschen Gesellschaft um die Türkei und ihre Menschen
noch gering sowie die zwischenstaatliche und zivilgesellschaftliche
Kooperation wenig ausgeprägt. Das Zentrum für Türkeistudien
trat an, dies zu ändern.
Der Startschuss zur Arbeit des ZfT fiel mit der deutsch-türkischen
Tagung „Zukunft in der Bundesrepublik oder Zukunft in der
Türkei“ mit über 200 Teilnehmern in Essen. Wichtiger
Tenor der Tagung ist, dass die Bedeutung der Remigration in die
Türkei in den kommenden Jahren deutlich abnehmen wird. Der
deutschen Gesellschaft stellen sich umfangreiche Integrationsherausforderungen,
zumal mit dem Strukturwandel die Migrationszentren wie das Ruhrgebiet
einen wichtigen Teil ihrer wirtschaftlichen Integrationskraft einbüßten.
Merkmale sind etwa Arbeitslosigkeit und die Schrumpfung der Bevölkerung.
Die ehemaligen „Gastarbeiter“ und ihre Nachkommen waren
schon damals von diesen Veränderungen besonders betroffen,
da sie überdurchschnittlich häufig in den alten Industrien
(Bergbau, Stahlindustrie) beschäftigt waren. Während Produktions-
und Erwerbsstrukturen in einem Differenzierungsprozess begriffen
sind, bleibt die Zuwanderungsgeschichte jedoch erhalten. Für
das Zentrum für Türkeistudien stellte sich die Frage,
wie diese Vielfalt der Kenntnisse und Erfahrungen genutzt und durch
welche Strategien sichergestellt werden kann, dass die Zuwanderer
an der wirtschaftlichen und sozialem Entwicklung partizipieren.
Die Modellprojekte des Zentrums für Türkeistudien
zur Förderung der ethnischen Ökonomie, zur Entwicklung
von Strategien des „Ethno-Marketing“ und die Unterstützung
deutsch-türkischer Untemehmenskontakte hatten hier ihren Ausgangspunkt.
Das ZfT führte bereits in den Jahren 1985/86 seine erste Studie
zur türkischen Selbständigkeit in Deutschland im Auftrag
der Internationalen Arbeitsorganisation durch. Lang bevor das Thema
in Politik und Öffentlichkeit Konjunktur bekam, legte das ZfT
damit einen Grundstein für Maßnahmen, die inzwischen
selbstverständlicher Bestandteil der Wirtschaftsförderung
geworden sind. Seit 1994 haben unzählige Gründer aus der
Migrantencommunity ihren Weg über die Regionalen Transferstellen
am ZfT in die Selbständigkeit gefunden.
Aber das ZfT verstand sich auch immer als Vernetzungsstelle
zwischen der deutschen und der türkischen Gesellschaft.
Heute bestehen über 100 Kooperationen zwischen
deutschen und türkischen Hochschulen, die sich auf praktisch
alle Disziplinen erstrecken. Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien
führte regelmäßige Bestandsaufnahmen der deutsch-türkischen
Hochschulkooperationen durch und versteht sich als Informations-
und Kontaktstelle für kooperationswillige Institute, Fachbereiche
und Hochschulen. 1994 erarbeitete das ZfT im Auftrag des DAAD den
ersten Studienführer Türkei.
Seit 1988 besteht die „Zeitschrift für
Türkeistudien“, das wissenschaftliche Periodikum des
ZfT, das sich als Forum für die Forschung zu türkeibezogenen
Themen versteht. Die Zeitschrift wurde damit auch zu einem wichtigen
Organ der deutsch-türkischen Hochschulzusammenarbeit, in dem
die Ergebnisse gemeinsamer deutsch-türkischer Projekte vorgestellt
und diskutiert wurden. Die Zeitschrift für Türkeistudien
wird gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.
Zahlreiche Veränderungen im Internationalen System
seit 1985 haben auch auf die Arbeit des ZfT zurückgewirkt.
Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes wandelte sich das das Bild
der Migration nach Deutschland. Neben der größten Gruppe
aus der Gastarbeitermigration, den Türkinnen und Türken,
etabliert sich eine zweite große Herkunftsgruppe, die auch
neue Herausforderungen an die Integrationspolitik stellt. Für
die Türkei bedeutete das Ende der Sowjetunion tiefgreifende
Veränderungen ihres geopolitischen Umfelds. In der Folge widmete
sich das ZfT im Rahmen von Veranstaltungen und Studien verstärkt
den Entwicklungen in den neuen mittelasiatischen Turkrepubliken
und den Beziehungen dieser Staaten zur Türkei und zu Europa.
Das Ende des Ostblocks führte auf dem Balkan zu Instabilität
und Krieg. Das ZfT stellte sich in den 1990er Jahren die Aufgabe,
die ethnischen Konflikte auf dem Balkan wissenschaftlich zu untersuchen
und Modelle zur Konfliktprävention und -lösung auszuarbeiten,
was in zahlreichen Publikationen der Reihe ZfT-aktuell dokumentiert
ist, darunter Studien, darunter Feldforschungen in Mazedonien und
Analysen des Kosovo-Konflikts. Das ZfT adressiert diese Thematik
auch in Form von Konferenzen und Workshops, darunter die Konferenz
„Das neue Kosovo: Zukunftsperspektiven für Kosovo-Rückkehrer“,
unter Beteiligung der Oberbürgermeister von Prishtina, Prizren,
Gjilan und Mitrovica.
Auch für das ZfT selbst brachte das letzte Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts gravierende Veränderungen mit sich. 1991
zog das Zentrum von Bonn nach Essen. Während die Forschung
zu Migration und Integration am Institut immer mehr an Bedeutung
gewann, war das ZfT damit in der Mitte einer der wichtigsten europäischen
Zuwanderungsregionen beheimatet. Zugleich wurde das ZfT Institut
an der Universität Essen und etablierte sich damit auch als
frühes Beispiel für wettbewerbsnahe wissenschaftliche
Forschung mit gleichwohl hohen Qualitätsstandards. Bereits
bei der Gründung des ZfT war eine Anbindung an eine Hochschule
vorgesehen. Auf Basis eines Kopperationsvertrages zwischen Wissenschaftsministerium,
ZfT und Universität erfolgte dann die Anbindung in Form eines
An-Institutes.
Die rechtsradikale Gewalt zu Beginn der 1990er Jahre
brachte einen Schub für die Diskussion um das Zusammenleben
in Deutschland. Immer stärker trat ins Bewusstsein der Öffentlichkeit,
dass die Bundesrepublik sich auf den dauerhaften Verbleib der Zuwanderer
anderer sprachlicher, religiöser und kultureller Prägung
bisher kaum eingestellt hatte. In diesem Klima konzipierte das Zentrum
für Türkeistudien eine Reihe von Modellprojekten, die
es ab Mitte der 1990er Jahre durchführt und die einen Beitrag
zu einer funktionierenden interkulturellen Gesellschaft leisten
sollten. So wendete sich das ZfT einer Reihe neuer Fragen zu: Wie
können effektive Maßnahmen interkultureller Konfliktbewältigung
in Institutionen verankert werden? Wie muss eine kultursensible
öffentliche Verwaltung aussehen? Welche Chancen bietet „Diversity
Management“ in den privaten Unternehmen?
Das Zentrum für Türkeistudien entwickelte
sich in den 1990er Jahren auch zur deutschlandweit führenden
wissenschaftlichen Einrichtung zum Thema Migration und Dritter Sektor.
Es führt in Kooperation mit dem Institut für Politikwissenschaft
der Universität Münster die erste systematische Bestandsaufnahme
von Migrantenselbstorganisationen in Nordrhein-Westfalen durch.
Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums fand am ZfT im Jahr 2004
erstmalig eine Repräsentativstudie zum freiwilligen Engagement
in der türkischen Community statt.
Seit dem 11. September 2001 wird die Integrationsdebatte
in Deutschland zunehmend vom Islam dominiert. Im Rahmen empirischer
Studien erforscht das Zentrum für Türkeistudien die Veränderung
des Islamverständnisses in der Migration - denn wie die Lebenswirklichkeit
der Migrantinnen und Migranten unterliegt auch ihre Religiosität
einem dynamischen Wandel. Dieser Wandel besteht nicht in einer Abkehr
vom Glauben, aber in der Suche nach einem modernen, liberalen Religionsverständnis,
das Tradition und Leben in Deutschland vereinbar werden lässt.
So ist für das Zentrum für Türkeistudien die Arbeit
zum Islam und zu Muslimen in Europa von herausragendem Interesse.
Der kulturellreligiösen Wandel bleibt von der Öffentlichkeit
noch weitgehend unbemerkt - dies ist ein schlechte Vorausstzung,
wenn es darum geht, dass Ansätze eines emanzipatorischen Islamverständnisses
unterstützt werden sollen.
Auf Initiative und mit Unterstützung des ZfT
besuchen zahlreiche Politiker die Moscheen und islamischen Vereine
in Deutschland. Das Zentrum für Türkeistudien beteiligt
sich intensiv an der Aufarbeitung der Folgen des 11. September.
Es versteht die Konflikte dabei nicht als Belege für den von
Samuel P. Huntington prophezeiten „Clash of Civilisations“,
sondern fragt nach der Vereinbarkeit von Moderne und Islam. In der
Folge des 11. September wird auch die Integration der Muslime in
Deutschland zu einem vieldiskutierten Thema. Viele Muslime unterstellen
den Deutschen eine pauschale Wahrnehmung des Islam. Zugleich steigt
die Bedeutung der Türkei als Beispiel für die Vereinbarkeit
von Islam und Pluralität, während die terroristische Bedrohung
eben die Offenheit der Gesellschaft der Türkei auf die Probe
stellt. Am ZfT bietet die jährlich stattfindende Mehrthemenbefragung
zur Lebenssituation der Türkinnen und Türken in Nordrhein-Westfalen
einen Seismographen für die Veränderung der Bewussteinslage
im Land. Das ZfT führt weitere Projekte zur türkischen
Außen- und Sicherheitspolitik so wie zur Entstehung von Islamphobie
in Europa durch.
2001 erhielt das ZfT als NGO Konsultativstatus beim
Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Das Institut
nutzt die Rolle, um im Rahmen der Vereinten Nationen für nationale
Einwanderungspolitiken zu werben, die einen fairen Ausgleich zwischen
den Interessen der Migranten und den Aufnahmeländern herbeiführen.
Das ZfT wird ein Jahr später eine Stiftung des Landes NRW.
Das ZfT begleitet den Reformprozess in der Türkei
seit 2002 mit Veranstaltungen in Istanbul, Ankara und Berlin. Dazu
zählte beispielsweise eine Diskussionsveranstaltung mit dem
türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in
Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin unter dem
Motto „Reformprozess in der Türkei - Annäherung
an die EU?“
Das Zentrum für Türkeistudien arbeitet heute
für intensive Beziehungen von Europa und Deutschland mit der
Türkei. Der Prozess eines Beitritts zur EU wird dabei als ideale
Grundlage für die Vertiefung der Beziehungen verstanden. Die
Arbeit des ZfT geht und ging aber immer über die Frage des
EU-Beitritts hinaus. Das Institut sieht sich in der Kontinuität
einer reichen und vielschichtigen europäisch-türkischen
Historie, die das Exil deutscher Wissenschaftler in der Türkei
während der Nazi-Zeit ebenso einschließt wie die Arbeitsmigration
aus der Türkei. Der Initiierung und Begleitung politischen
Dialogs stellt das Zentrum die ebenso wichtige Förderung des
zivilgesellschaftlichen Austauschs in Wissenschaft, Kultur, Sport
und anderen Bereichen an die Seite. In der Förderung der Nicht-staatlichen
Organisationen in der Türkei und ihrer Kooperation mit der
europäischen Gesellschaft sieht das ZfT einen wichtigen Beitrag
zum Gelingen einer Integration der Türkei in die EU.
Mit dem Wandel der zugewanderten Bevölkerung
in Deutschland und Europa sowie der Weiterentwicklung der türkisch-europäischen
Beziehungen stellen sich auch für die Stiftung Zentrum für
Türkeistudien immer neue inhaltliche Aufgaben. Mit der Entscheidung
über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
hat die Europäische Union dem gegenseitigen Annäherungsprozess
eine neue Qualität gegeben. Damit steigt zugleich der Informationsbedarf
der türkischen und europäischen Öffentlichkeit zu
ganz konkreten Fragen der rechtlichen, politischen, ökonomischen
und gesellschaftlichen Kohäsion.
Diesen Entwicklungen stehen im weltpolitischen wie
im lokalen Maßstab seit dem 11. September 2001 aber auch deutlich
desintegrative Entwicklungen gegenüber. Einher geht damit die
Abgrenzung der islamischen und der westlichen Tradition und die
Verfestigung entsprechender Stereotype, die die Stiftung ZfT durch
ihre Tätigkeit aufbrechen will.
Das ZfT ist heute ein Kompetenzzentrum, das täglich
bis zu 100 Anfragen von Bürgern, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft
und Medien erreichen. Auch dies ist Beleg dafür, wie das Institut
Wissenschaftliche Qualität und Anwendungsorientierung verbindet.
Stiftung Zentrum für Türkeistudien
Türkiye Arastirmalar Merkezi Vakfi
(Institut an der Universität Duisburg-Essen)
Altendorfer Straße 3, 45127 Essen
Tel. 0201/31 98-0, Fax 0201/31 98 333
www.zft-online.de
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