XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Necati Mert´s Kolumne

Was ist Integration?
Plädoyer für eine moderne metropolitane Gesellschaftsformation kosmopolitaner Lebenswelten.

   
 
 

Die Faszination des Fremden eignet sich traditionell und aktuell für die gutbetuchten Schichten auf ihren Kreuzfahrten in die Ferne als Souvenir in der Schatzschatulle der Mordgeschichten. Eben diese Faszination kommt zu Hause an der Scharnierstelle zwischen gestern und morgen abhanden, und die romantische Sehnsucht nach ihr zerschellt, wenn der eingewanderte Fremdling auf sein Mitgebrachtes pocht. Der Bodenständige der „zivilisierten Welt“ fühlt sich auserkoren, den „Primitiven“ den Segen der Zivilisation zu erteilen. Seine Selbstaffirmation, die auf dem messianisch-missonarisch-kolonisatorischen Impetus fußt, hält das Eigene für endlos überlegen.

Die mentale Gutmenschen-Manier umnebelt das Gedankengebäude im Terrain der Konflikte, überrumpelt das kollektive Areal der Gleichheit. Der aufklärerisch improvisierte Toleranz-Torso ähnelt dem Treibstoff einer Planierraupe, die manövriert wird, um den Blütentraum von der Akzeptanz zeitgemäß aufkeimender Lebenswelten platt zu walzen.

Das marktparat parodierte Konfliktfeld erwächst tatsächlich, wenn der Import des fremden Humankapitals keine Extraprofite mehr verspricht. In der Folge geraten die Repräsentanten des standortnationalen Souveräns in permanente Antinomien. Wenn sie an einem Dienstmorgen über die Misere der demographischen Demoskopie sinieren und über den Bedarf nach importiertem Menschenmaterial, referieren sie am nächsten Feierabend über die „Invasion“ der Überflüssigen.

Aus den kratzigen Stichworten der Deputierten und Partizipierten stückeln die Erfüllungsgesellen der „Vierten Gewalt“ kreisrunde Konfliktsamen zusammen und streuen sie in den kriselnden Feldfurchen der Gesellschaft aus. Im Prolog ihres ethnozentrischen Opus hat der unzensierte Dialog kein Gewicht. Die migrantischen Nomaden werden auf ihren Nutzeffekt für die autochthonen Partialinteressen reduziert, damit auf den Status marginalisierter Monaden, isolierter Individuen.

Mit dem imaginären Fach- bzw. Lehnwort Integration imitieren die majoritären Regentschaften des Gewaltkartells ein unerschwingliches Gemeingut, das sie jedoch inflationär veräußern. Über drei Jahrzehnte sind inzwischen vergangen, seit das Wortgut im grauen Einerlei der bundesdeutschen Gesellschaft kursiert. Trotz aller zwischengeschobenen Verbal-Varianten interkultureller Kulissen als Kassenschlager bilanziert der Integrationsbetrieb mehr Defizite als Dividende. Die Zahl der allochthonen Populationen steigt. Die Ideenmanufaktur dokumentiert nur noch Gefahrenzonen.

Was ist eigentlich Integration?

Ein völkisch fabriziertes Flickwerk der Farcen-Fabulisten? Vulgäre Worthülse für durchstrukturierte Workshops? Ein peripheres Politikum der Politokratie am Rande des Problem-Massivs? Ein Fossil für den Effektladen der Mediokratie? Eine Banderole für das selektive Assimilationspaket des Fremdenkonsums? Ein Instrumentarium, um vermeiden zu können, daß ein ethnischer Flickenteppich in den Metropolen entsteht?

Fast acht Millionen Einwohner der Republik, davon bis zu einer Million „Papierloser“ bzw. „Illegaler“, vegetieren im Hinterhof der episodischen Novellen und Sondergesetze. Das frisch gebackene Zuwanderungsgesetz erschwert ihnen den Zugang zu einem humanitären Dasein, versetzt sie in den Zustand der Zugvögel, erzeugt in einigen Lagern der Gutmenschenzirkel das Gefühl, den Trauerflor anlegen zu müssen.

Vierfarbig konföderiert unter der Fabulanten-Fackel meisterte das rot-grün & schwarz-gelb konferierte Konglomerat das epochale Opus des trivialen Opportunismus. Seit Mitte Juni 2004 steht das kräftige Kabinettstück der kulturalistischen Selektion, der Gesetzestext der Dreigroschen-Troika (des grauen Bundes-Sheriffs Otto Schily, des Bavaria-Bramarbas Günter Beckstein und des Schwarzen-Fürsten im „Kleinsten Reich der Mitte“ Peter Müller) als Kontroll-Kompaß für die Zuwanderungszyklen: Abgesenktes Existenzminimum für Fluchtmigranten, erhöhter Abschiebebetrieb für die bisher Geduldeten, nachträglicher Entzug des bereits gewährten Asylrechts.

Registrieren läßt sich die neu fabulierte Novelle seinen Zielvorgaben nach als elementarer Baustein für den neoliberal strafenden Ständestaat.

Die geflügelte Reformkutsche der bundesrepublikanischen Menschenrechtsersten entpuppte sich seit der öffentlichen Vorlage dieser Novelle als Planierraupe, die alles platt walzt, was mit den Ambitionen einer aufsteigenden Hegemonialmacht nicht übereinstimmt.

Hochbetrieb läßt sich im Sektor der selektiven Assimilation vernehmen. Die Deportationsmaschinerie macht Dampf. Ins Freie werden neben abgelehnten Asylanten, überführten »Illegalen« und verurteilen »Kriminellen« befördert: Schlepper- und Schleusergesellen, Haßprediger, Terrorismusverdächtige, Schläferschurken... Die »Gefahrenprognose« genügt, um dem »terroristischen Hintergrund« einen stämmigen Fingerzeig zu versetzen.

Zugelassen werden als Zuwanderer vorwiegend nur jene Selbständige, die mindestens eine Million im Koffer als Investkapital mitbringen oder zehn Arbeitsplätze schaffen. Hochqualifizierte dürfen bleiben.

Neuankömmlinge haben die Prämisse der Integrationspflicht zu erfüllen. Sonst wird ihr Aufenthalt nicht verlängert. Alt niedergelassenen Migranten werden Sozialleistungen gekürzt, wenn sie an Integrationskursen nicht teilnehmen, die ihnen je nach dem Geschmackssinn des Amtsschimmels als Pflicht auferlegt werden.

Während sich die Berliner Republik der flotten Reform-Randale vehement weigert, die UN-Wanderarbeiter-Konvention zu ratifizieren, haben Sanktionen Hochkonjunktur im Reich der Menschenrechtsmentoren.

Es ist der einzige Mitgliedsstaat in der Euroburg, wo Flüchtlinge durch das Residenzpflichtgesetz kriminalisiert und sozialer Isolation unterworfen werden – in abgelegenen Lagern inmitten von Wäldern. Man verbietet ihnen, sich gängigen Gesellschaftskreisen hinzu zu gesellen, ihre Anwälte zu besuchen, ihre Ärzte, Freunde und Verwandten.

Die Integrationspflicht kommt wie ein Verbotskatalog daher, enthält kaum perspektivische Prämissen. Sie triumphiert so transparent wie im Kürzel: Anpassen oder Abhauen! Der nationalstaatliche Souverän als Adressat der Regulationslektion miteinander konkurrierender Interessengemeinschaften schaltet um auf Separation und Repression.

Wetterwendische Integrationale bauen auf den rivalisierenden Ritus, vermeiden den Austausch. Als Treuhänder einer aufkommenden Ständegesellschaft stellen sie sich so an, als sei alles eine Bauernfängerei der Alien, was sich im grauen Einerlei ereignet. Sie lassen der Aussicht keine freie Hand, aus der Fontäne des Utopischen praktische Schlüsse zu ziehen. Vielmehr bewegt sich der Korso der Majorität auf der Aschenbahn der kulturalistischen Nebelzone, um die Minoritäten zu marginalisieren, indem man sie auf dem Jahrmarkt der Problempossen thematisiert:

„Schläfer“-Scharen, kolportierende Kopftuch-Kombattanten, präparierte „Parallelgesellschaften“, demographische Detonationen, Kulturkreis-Kollisionen, Globalismus-Kollaps, Community-Konturen, GreenCart-Kartonagen, Getto-Giganten, „Rußen-Mafia“, Türken-Turbulenz, „illegale Einwanderer“ u.ä. sind die Schlagworte im Mainstream der medialen Gilde.

Die Potentaten der metropolitanen Gesellschaft kosmopolitaner Communities tut sich schwer mit nachhaltigem Tun und paradieren im Zirkusrund der permanenten Parodien. Mehr als ein „Karneval der Kulturen“ zu Pflicht-Pfingsten durch Kreuzberg oder eine Nische für Exoten-Folklore boten sie bisher nicht. Immerhin? Geräuschkulissen bringen die Hüften zum Schwingen, Eleven-Events der Inter-Kultur beschleunigen den Konsum-Konvoi.

***

Die studiokratische Expertengilde experimentiert mit einem unwegsam eurozentrischen Ausgleich zwischen spartanischen Strukturen und byzantinischen Nebeneffekten. Dennoch werden ihre mageren Vorschläge in den Kommissionen der Allparteien-Koalition so gerupft und geflickt gehandhabt, daß sie am Ende wie Strohpuppen aussehen.

Trotz der Reformnovellen unter der Globalismus-Glocke wird die Realität einer metropolitanen Bürgerrepublik kosmopolitaner Lebenswelten nicht wahrgenommen. Die Selbstorganisationen leiden unter den Folgen der selektiven Assimilation und finden kaum Zugang zu den Ressort-Tropfen der Kulturförderung. Im Gegenteil: Sie werden hinausgefeuert, wenn sie sich den altbackenen Prämissen des integrationalen Nationalismus anzupassen verweigern.

Den Selbstorganisationen werden im hegemonial diktierten Szenario die Rollen jener Laien und Wetterfahnen zugewiesen, welche die Fähigkeit haben, sich der verbalen Windhose der Reformatmosphäre anzupassen, sich in überschlagenden Lobgesängen zu ergehen und immer einen krummen Buckel zu machen, indem sie verkommenes Zeug reden. Wer von der Leitlinie abweicht und einen Schwenk um 180 Grad wagt, wird zum zivilisationswidrigen Gegenspieler der integrationalen Illustrationen erklärt.

Nur die Selbstorganisationen, deren Stützbeine ein rechtgläubiges Weltbild aufweisen, artikulieren sich als bärenstarke Soziusse der Globalismusglöckner und üben drahtigen Einfluß auf die sozial minderbemittelten, kulturell herabgewürdigten Massen.

Hingegen verkümmern die sozialdemokratisch oder an die Grünen-Nomenklatura orientierten Verbände, verwirken auf lange Sicht ihren existentiellen Nährboden, indem sie den Reformallüren der Majorität hinterher jagen. Um sich generell gegen die revolutionären Signale aufzubäumen, haben sie sich dem neoliberalen Wahn ausgeliefert und lenken ihre Klientel ins morgenlose Moor der „Neuen Mitte“. Der High-Tech-Kapitalismus, von dessen Ruhm und Elend das Schicksal der eingewanderten Metöken abhängt, diktiert ausnahmslos die Totalität der Verwertungsgesellschaft, hat sich längst der ihm im in jahrhundertelangen Klassenkämpfen aufgezwungenen sozialen Errungenschaften entledigt, bedarf keiner reformistischen Alternative zum revolutionären Aufkommen, hat vor allem den eingewanderten Unterschichten, die er als Menschenmaterial typisiert, nichts anderes zu verheißen als Blut und Tränen.

Heiß umstritten bleibt, ob im geheiligten Raum des Parlamentarismus etwas Konstruktiveres gezimmert werden kann als ein Cordon sanitaire um den Tempelturm des Besitzgötzen. Solange der Horizont der Gesellschaft vom Sozialdarwinismus umwölkt wird, ist die parlamentarische Demokratie zu einem populistischen Venus-Wettbewerb verkommen. Daher sind die allochthonen Lebenswelten auf die „Parallelgesellschaften“ angewiesen. Ihnen ungebrochen zur Entfaltung zu verhelfen, gilt als eine revolutionäre Tat.

Ohne das Unterfangen, die gegenwärtigen Verhältnisse, welche alles einem in Geld meßbaren Nützlichkeitskalkül unterwerfen, in Frage zu stellen, wird es keinen Ausweg geben – vor allem für die eingewanderten Minoritäten. Also ohne die Aufhebung der Verwertungsgesellschaft hat das populistische Lehrgebäude keine Grenzlinie zur Apartheid.

Die freiwillig aktiven Akteure einer metropolitanen Gesellschaft real-kosmopolitaner Gegenwart müssen auf den Krach im Integrationsbetrieb real-utopisch reagieren, der aus der erdichteten Fontäne emporsteigt, daß Türken-Gettos und Russen-Quartiere die ethnisch-homogene Harmonie stören. Sie müssen den neoliberal nivellierten Reformallüren zu Leibe zu rücken, den Neorassismus, die Ethnisierung des Sozialen im Schwerpunkt zum Thema haben sowie das irreguläre Malochen migrantischer Leibeigener, das unausgesetzte Zähneklappern der „Illegalen“ und „Papierlosen“ in „Sibirien“ zwischen dem Parterre und Souterrain der Menschenrechtsersten, ihren Hungerturm in Form der Ausreise-, Abschiebe-, Aufenthalts-, Identifikationslager...

Die Protagonisten einer egalitären Bürgerrepublik müssen dem Ideal des autonomen, im Denken beheimateten Individuums folgend einen affirmativen Blick auf die Globalismus-Glocke von unten werfen, daraus kollektivistische Schlüsse ziehen, die eurotischen Supermacht-Ambitionen im Zombie-Zirkus anprangern, auch die Gladiatoren-Arena der metropolitan-metapolitischen Planspiele eines Kampagnenjournalismus – vor allem aber ihre Reportagen über die Gettos, welche den gängigen Elogen auf missionarisch-kolonisatorische Meriten ähneln. Jene verderbten Vertrautheiten unter den Prämissen der integrationalen Intentionen, bei denen die Fossilien des Völkischen überwiegen.

Sie müssen wider den Rufmord gegen die Allochthonen-Gettos darauf beharren, daß das „Europäische Abkommen über regionale und Minderheitensprachen“ auch für die eingewanderten Populationen zur Geltung kommt.

Sie müssen wider die Menschenrechtsphrasen offensiv dafür eintreten, damit die UN-Konvention „zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“ auch in Bundesdeutschland ratifiziert wird.

Sie müssen die kulturalistischen Grundtendenzen im Integrationsbetrieb thematisieren und auf eine kosmopolitane Bürgerrepublik zielen, deren vorhandene Fragmente trotz aller völkischer Donnerwetter zum Schwingen gebracht werden können.

Oktober 2004

   

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